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Studiozeit 'Neue Medien' im Dezember 2002

"Am Anfang stand eine Kaffeemaschine". Burkhard Müller-Ullrich über Geschichte und Gegenwart der Webcam. WEBCAM Wiedersehen. Ich habe sie wieder gesehen. Ich habe diese Frau im Eingang jenes Supermarktes in Columbus jetzt schon zum dritten Mal gesehen. Beim zweiten Mal war ich noch etwas unsicher gewesen, ob sie es wirklich sei. Denn es wäre doch, sagte ich mir, ein außerordentlicher Zufall, wenn ein und dieselbe Frau an zwei verschiedenen Tagen ausgerechnet in dem Augenblick den Supermarkt beträte, da ich - zehntausend Kilometer weit von ihr entfernt - auf meinen Computerbildschirm starrte. Aber als sie bei ihrem dritten Auftritt wieder dieselbe gelbe Jacke anhatte wie beim aller ersten Mal, war jeder Zweifel ausgeräumt. Seitdem liegt etwas Lauerndes in meinem Blick. Denn während ich bislang nur gebannt, aber erwartungslos hinstarrte - so wie man aus fahrenden Zügen fremde Landschaften betrachtet -, fing ich nun an, nach etwas Bestimmtem zu suchen. Und die Zahl meiner durchwachten Nächte ist erheblich angestiegen.

    Zugegeben: es ist eine nutzlose und abwegige Beschäftigung, die Welt als solche zu beobachten. Doch bei aller Seltsamkeit liegt eine so tiefe Befriedigung darin, dass man durchaus versuchen muss, ihr auf den Grund zu kommen. Trainspotter und Sternengucker kennen diesen Zustand ekstatischer Kontemplation oder kontemplativer Ekstase, wenn man ganz Auge wird, ganz Wahrnehmungsorgan, ohne den sich sonst so mächtig vordrängenden Impuls des Verstands. Ich sehe, also bin ich. Das Denken ruht. Das Ergründen und Interpretieren - sie sind nicht gefragt. Nur das Schauen gewährt diese direkte, umstandslose und primäre Aneignung der Dinge, die dem Begriff der Wirklichkeit zugrunde liegt.

    Die Wirklichkeit, in die ich nachts eintauche, ist allerdings zehntausend Kilometer weit entfernt. Der Supermarkt, dessen Eingangsbereich ich beobachte, schließt erst, wenn derjenige in meiner Straße schon fast wieder öffnet. Und es ist nicht zuletzt die durch den Zeitunterschied beglaubigte Entfernung, was mich an dieser Blick-Brücke so sehr fasziniert.

    Das Gerät, das diese aufwühlende Erfahrung von Distanz und Simultanität ermöglicht, gehört zu den wohl rätselhaftesten Nebenprodukten des Internets. Niemand weiß, wie viele Webcams heute in Betrieb sind, noch wann und wo sie jeweils senden. Ihre Datenströme werden von Suchmaschinen nicht erfasst, ihre Webadressen werden wie mit Botanisiertrommeln gesammelt und in liebevoll gepflegten Linkverzeichnissen herumgereicht. In der Tat kann man aus den Verkaufszahlen von Webcams weniger ersehen als bei anderen Erzeugnissen der Elektronik, da nur ein kleiner Teil der angeschafften Bildgeber in Gebrauch genommen wird. Es ist, als ob die Menschen eine tief sitzende Ehrfurcht vor der Möglichkeit des unbeschränkten Sehens hätten.

    Bevor ich mich auf jenen amerikanischen Supermarkt konzentrierte, pflegte ich alle paar Minuten nach neuen Bildquellen zu forschen. Unerschöpflich ist das Angebot, und grenzenlos die Begierde, es vollends auszuspähen. Meine Expeditionen führten mich zu schlafenden Löwen im Washingtoner Zoo und in der nächsten Minute zur Autobahn-Mautstelle von Villefranche in Frankreich. Dann schaltete ich zum Flughafen Zürich-Kloten, zum Stadtpanorama von Frankfurt am Main und zur Tower Bridge in London.

    Überall ist eine weniger als zehn Jahre alte Technologie im Einsatz, deren Ursprung im Trojan Room der Universität Cambridge liegt. Dort stand die sicherlich berühmteste Kaffeemaschine der Welt. Weil es die kaffeetrinkenden Mitglieder des Cambridger Computer Science Departments leid waren, ständig vergeblich zu ihrer Krups ‚Aroma' zu laufen und festzustellen, dass der Kaffee entweder alle oder noch nicht fertig war, installierten sie davor eine kleine elektronische Kamera, deren Bild im Netzwerk übertragen wurde. Das war die Geburt der Webcam. Seit 1994 war der Trojan Room Coffee Pot im Internet zu sehen - bis das Gerät im Sommer 2001 kaputt ging, abgebaut und versteigert wurde. Für 5000 Euro erwarb es "Spiegel Online", ließ die Maschine reparieren und stellte sie vor einer neuen Webcam in der Hamburger Ost-West-Straße 57 auf. Seither brüht sie wieder öffentlich.

    Durchlaufender Kaffee gehört gewiss nicht zu den aufregendsten Ansichten in unserem Kosmos. Auch der zähe Fluss der Fahrzeuge durch eine Autobahn-Zahlstelle südlich von Lyon ist von eher abseitigem Unterhaltungswert, genauso wie der Blick auf seit Jahrhunderten unverändert dastehende Gebäude. Und doch stellt diese Ästhetik der Allmählichkeit einen der wichtigsten Aspekte der Webcam-Faszination dar. In einer Epoche, da Film und Fernsehen den Rhythmus ihrer Blicksequenzen bis zur Schnelligkeit des Lidschlags beschleunigt und verdichtet haben, eröffnet sich dem Betrachter einer Webcam ein Wahrnehmungsuniversum von ganz anderer Art: Es sind gewissermaßen bewegte Andachtsbilder, Prospekte der Gewöhnlichkeit, Visionen einer geschehnislosen Geschichte.

    Es wäre verkehrt, an dieses ruhige Schauspiel der Realität irgendwelche dramaturgischen Erwartungen zu richten. Kein Autounfall, der von einer Webcam eingefangen wird, kein Mord und keine Schlägerei, deren Augenzeuge ich auf diese zufällige Weise werden könnte, prägen das Profil meiner Hoffnungen. Im Gegenteil, ich wünsche, dass auf der Bühne, in die sich jeglicher Ort durch die Gegenwart einer Kamera unweigerlich verwandelt, keine Handlung stattfinde, sondern nur Bewegung. Denn die Bewegung beweist immerhin, dass das Bild echt ist. Mehr wird nicht gebraucht.

    Die optische Kommunion zwischen den Kontinenten erzeugt eine metaphysische Spannung, von der noch in der vertraut-banalen Wohnumgebung mit Schreibtisch und Computer ein heißer Hauch herüberkommt. Der Supermarkt in Columbus liegt, wie ich durch Internet-Recherche herausgefunden habe, am westlichen Stadtrand, und das Städtchen Columbus, in dem ich eine Frau mit einer gelben Jacke kenne, liegt im Bundesstaat Indiana. In Columbus, Ohio, das viel größer ist, hätte ich vermutlich keine Chance auf ein Wiedersehen.

    Die Deutschlandfunk-Bestenliste Neue Medien

    THEMA: Krieg und Frieden

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