Für das Buch, mit dem wir uns nun befassen wollen, hat Gore Vidal Anfang der 70er Jahre den Anstoß gegeben. Im Gespräch an einer Hotelbar hat er den damals schon bekannten Reporter Studs Terkel dazu ermuntert, einmal ein Buch über den Tod und das Sterben zu machen. Terkel, der in den USA eine eigene Rundfunksendung hatte und immer den Helden des Alltagslebens auf der Spur gewesen war, ihre Erzählungen aufgenommen und weitergeführt hatte, war zunächst von dieser Idee nicht angetan. 30 Jahre hat es gedauert, bis aus dieser Anregung tatsächlich ein Buch geworden ist, ein Buch, das wie alle Arbeiten des heute 90jährigen Terkel die Klischees über die USA und ihre Menschen zerstört. Heute erscheint dieser Band unter dem Titel 'Gespräche um Leben und Tod’ im Verlag Antje Kunstmann.
Die Erfahrung des tausendfachen Todes, des massenhaften Sterbens ist den US-Amerikanern bis zum Anschlag auf das World Trade Center erspart geblieben, nach Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest verdrängt worden. Studs Terkel aber ruft sie wieder in Erinnerung – und korrigiert Elias Canettis universelle Sichtweise in der Feineinstellung des persönlichen Gesprächs. Aus dem Blickwinkel des Verfassers der Studie über "Masse und Macht" hatte der Krieg das einzige Ziel, die Zahl der Feinde zu verringern – ohne viel Rücksicht auf das Schicksal der eigenen Leute. Einem Veteranen des Zweiten Weltkriegs dagegen, Teilnehmer der Invasion in der Normandie, entlockt der Journalist Terkel folgendes Geständnis:
Am meisten fürchten Soldaten, vor anderen nicht tapfer zu erscheinen. Die Angst, vor deinen Kameraden als Feigling dazustehen, überwiegt alles andere. Es geht nicht um die Fahne, es geht nicht ums Vaterland, es geht nicht um Pflichterfüllung, es geht um den Mann neben dir – du darfst ihn nicht im Stich lassen.
Heute arbeitet Frank Raila als Herzspezialist – und hat damit Leben gerettet, für ihn "ein großartiges Gefühl." Dieses Gefühl allerdings teilen nicht alle Ärzte. Gary Slutkin etwa praktizierte für ein Jahrzehnt in Afrika, engagierte sich dort in Hilfsprogrammen und versuchte im aussichtslosen Kampf gegen die Tuberkulose in Somalia US-Marines zu mobilisieren, weil die Öffentlichkeit nicht reagierte:
In Amerika interessiert man sich im Grunde überhaupt nicht dafür. Wir reden von Millionen Menschen, die in Afrika an AIDS gestorben sind und nach wie vor sterben, sind aber völlig davon losgelöst. Gleichgültig, wie oft wir es im Fernsehen sehen, wir sind nicht in der Lage, angemessen zu reagieren. Das ist wahrscheinlich das größte ethische Dilemma auf diesem Planeten: Wir verfügen über Medikamente, mit denen wir die Menschen, die von den schlimmsten Epidemien betroffen sind, am Leben erhalten könnten – aber wir tun nichts.
Da ist sie wieder, die Seuche, die nach Canetti neben dem Krieg als unbekannte Macht von außen wirkt, die durch ihre Drohung eine "Gleichheit schrecklicher Erwartung" entstehen lässt, neben der alle üblichen sozialen Bindungen sich lösen. In Studs Terkels vielstimmigem Gedicht, in seinem virtuos collagierten Gesellschaftsgemälde tauchen aber auch Gegenpositionen auf, etwa Tico Valle, der am Aids-Quilt mitwebt, am Gedächtnisteppich, auf dem jeder Tote mit Namen verzeichnet wird. Der Puertoricaner hat die Aids-Seuche in Chicago als Bürgerkrieg erlebt, als Hölle auf Erden: Nur durch einen Einbruch im Archiv der Stadtverwaltung konnte sein Komitee dem Bürgermeister nachweisen, dass Millionen von Hilfsgeldern zurückgehalten wurden. Mittlerweile ist der Tod seiner Freunde für Valle eine Lebensweise geworden: Er empfindet es als "große Ehre", wenn sie in seinen Armen sterben.
In vielen Vorstellungen vom Tod tauchen verschüttete Werte einer Gesellschaft auf, werden ethische Grundlagen sichtbar, die in durchgestylten Talksshows oder standardisierten Meinungsumfragen keinen Platz mehr haben. Auf der Straße, an Bushaltestellen oder in seinen alten Kneipen – heute "In-Lokale" der auch schon nicht mehr jüngsten generation X – hat Terkel Geschichtenerzähler aufgestöbert. Darunter nicht nur Außenseiter, sondern auch ein Aufsteiger wie Bruce Bendinger, Marketingexperte und Wahlkampfstratege, der großspurig "den Konzern Amerika" zu seinem "Schlachtfeld" erklärt – und am Ende kleinlaut feststellen muss:
Fernsehen ist wie kalorienloses Essen: Jeder sitzt vor dem Apparat und hat nur den einen Gedanken: "Ob wohl irgendwo was anderes läuft?" Der Lebensrhythmus ist in einem Maße immer schneller geworden, dass wir nicht mehr mitkommen. Meine Generation hat sich immer ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, ist nicht auf jenes nächstes Lebensstadium vorbereitet – auf das Sterben.
Wenn es in den USA ans Sterben geht, dann ist selten von Religion, oft von "Spiritualität" die Rede. Und Terkel, der die von ihm angestoßenen Erzählungen selten kommentiert, führt das auf die Abneigung seiner Landsleute gegen Institutionen, also auch gegen kirchliche Bürokratien zurück. Für Vernon Jarrett, den Leiter des Chicago-Studios von ABC, ist Religion eine "geistige Existenzform", ohne die seine schwarzen Vorfahren als Sklaven in Amerika kaum hätten überleben können. Peggy Terry dagegen, die engagierte Bürgerrechtlerin, ist in ihrer Jugend auf dem Lande nicht nur vom eingewurzelten Rassismus abgeschreckt worden, sondern auch vom bigotten "Geschnatter", dem Zungenreden einer Pfingstgemeinde. Und für Kurt Vonnegut, den Schriftsteller, halten weder Religion noch Spiritualität die Gesellschaft zusammen, sondern ganz andere "religiöse Dokumente: Unabhängigkeitserklärung und Bill of Rights." Sein Leben wird erst lebenswert durch jene Heiligen, die der ehemalige Kriegsgefangene aus dem Dresdner "Schlachthof Nr. 5" in den Hochhausschluchten von Chicago trifft: Menschen, die sich in einer unanständigen Gesellschaft anständig verhalten. "Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern." Diesen Bibelsatz propagiert Vonnegut als radikale politische Idee – die leider keinen Respekt mehr findet, weil eine Geschichte von blutiger Rache leichter zu erzählen ist und das Publikum eher zufrieden stellt. Aber immerhin erweist sich Studs Terkels einfache Kunst, eine Gesellschaft im Gespräch zu sich selbst finden zu lassen – und damit den Blick für die Anderen, für das Ausland zu schärfen – als probates Gegenprojekt zu trivialen Hollywood-Motiven, als Antidot gegen Kreuzzugs-Manien und auch als notwendige Ergänzung im publizistischen, mit Offenen Briefen und Schwarzweiß-Malereien geführten Schlagabtausch der Intellektuellen diesseits und jenseits des Großen Teiches. Vor dem Hintergrund all dessen, was sich nach dem 11. September, nach dem Erscheinen des Buches ereignete, lesen sich manche Passagen wie politische Prophezeiungen. Etwa die Lebensgeschichte eines Chirurgen, der spezialisiert ist auf traumatische Verletzungen, auf Schusswunden zumal. Dabei, so erklärt der aus Irland eingewanderte gläubige Katholik, geht es nicht um technische Fingerfertigkeit, sondern um schnelle Entscheidungsfindung, gepaart mit Einfühlungsvermögen. Etwas, das der erfahrene Notfallmediziner auch vielen Polizisten zubilligt, die er bei seinem nervenaufreibenden Job kennen gelernt hat:
Es gibt berechtigte Gründe, jemanden zu töten – hauptsächlich Notwehr. Wenn jemand dich umbringen will, und die einzige Möglichkeit, dein Leben zu retten, die ist, dass du den anderen umbringst, dann hast du das Recht, ihn zu töten. Das kann man ausdehnen auf einen gerechten Krieg – wenn es denn so etwas gibt.
Studs Terkel: Gespräche über Leben und Tod, übersetzt von Inge Leipold und erschienen im Verlag Antje Kunstmann. Es hat 400 Seiten und kostet 24.90 Euro.