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Stürme in der Tiefsee

Ozeanologie. - Die meisten Menschen stellen sich die Tiefsee als lichtlose, kalte und irgendwie einheitliche Wassermasse vor, in der wenig bis gar nichts passiert. Eine Vorstellung übrigens, der bis vor kurzem auch viele Wissenschaftler anhingen. Mittlerweile hat sich das Bild dramatisch verändert. Zunächst fanden Forscher bizarre Lebewesen, die - wie auch immer - dem lebensfeindlichen Tiefssee-Milieu trotzen; und jetzt stellten sie fast, dass in unregelmäßigen Abständen das ruhig vor sich hin dümpelnde Wasser in Aufruhr versetzt wird: Gigantische Energien erzeugen über viele Tausend Kilometer Wasserströme, die bestimmte Bereiche der Tiefsee wie Stürme durchtoben - durchaus vergleichbar mit den Vorgängen in der Atmosphäre.

    Von Mirko Smiljanic

    Das Bild auf dem Monitor des Forschungsschiffes Polarstern war ebenso unverständlich wie erschreckend: Seit Wochen übertrug eine in 1000 Metern Tiefe installierte Beobachtungskamera im nördlichen Atlantik nichts als langweilige Bilder. Langsam herbsinkendes Sediment leuchtete die starke Lampe an, ab und zu ein paar bizarre Fische, kaum Bewegung. Plötzlich aber - von einer Minute zu anderen - veränderte sich alles: Riesige Sedimentmengen schossen an der Kamera vorbei, eine mächtige Strömung zerrte an der Verankerung, die mehr als einmal zu reißen drohte. Um das Equipment zu schonen, wurde die Anlage schließlich geborgen. An der Wasseroberfläche war bis auf den üblichen Seegang im nördlichen Atlantik von dem unterseeischen Tohuwabohu übrigens nichts zu spüren. Zunächst konnte sich niemand die Bilder erklären, bis sich eine Arbeitgruppe dem seltsamen Phänomen annahm,...

    ...und da stellten wir fest, dass wir gekoppelt über die Mondzyklen, Gezeitenwellen, also Gezeitenfronten durchwandern sehen, das konnten wir messen anhand der sprunghaft angestiegenen Strömungsgeschwindigkeiten, und dabei werden Energien freigesetzt, wie sie auch bei Fluten im Wattenmeer, also im absoluten Flachwasser, auftreten, und das in 1.000 Meter Wassertiefe, das ist absolut neu!

    Professor André Freiwald ist Meeresforscher und Paläontologie an der Universität Nürnberg-Erlangen. Die Strömungsgeschwindigkeiten liegen bei etwa einem Meter pro Sekunde, ein vergleichsweise hoher Wert, der nicht so recht in die Annahme passte, Tiefseestürme haben etwas mit der Gezeitenwelle zu tun. Erstens stimmen die Strömungsgeschwindigkeiten nicht überein; zweitens bricht der Unterwassersturm nicht bei jeder Flut aus; und drittens bewegt er sich nur in einem schmalen Bereich der Tiefsee.

    Vor Irland beispielsweise ziemlich genau 600 bis 900 Meter Wassertiefe, das selbe Phänomen finden wir je weiter wir nach Norden gehen in zunehmend flacherem Wasser und je weiter wir uns Richtung Äquator bewegen vor Nordwestafrika zwischen 1000 Meter und 1200 Meter. Das hängt mit der globalen Wassermassenschichtung zusammen.

    Ozeane haben keine einheitlichen Wassermassen, sie sind vielmehr - durchaus vergleichbar mit dem Sedimentgestein an Land - geschichtet.

    Es gibt unterschiedliche Wassermassen mit speziellen physikalischen und chemischen Eigenschaften. Stoßen unterschiedliche Wassermassen aneinander, vermischen die sich nicht einfach, das heißt es kommt zu großen Scherkräften an diesen Grenzen. Die Grenzen bewegen sich natürlich in einem gewissen Spektrum auf und ab.

    Drei Schichten unterscheiden die Wissenschaftler: Die Termokline, die Halokline und die Pycnokline - Temperatur, Salzgehalt und Wasserdichte entscheiden letztlich, dass einzelne Schichten sich nicht vermischen, sondern aufeinander liegen. Die Spannung der Grenzschicht kann so stark sein, dass sie mechanischen Kräften widersteht: Untermeerische Sedimentlawinen etwa stauen sich über längere Zeit. Gibt die Schicht nun doch nach, beschleunigt die aufgebaute Energie das im Wasser schwebende Sediment auf eine hohe Geschwindigkeiten. Das Wasser selbst fließt dabei kaum, was sich bewegt, sind Energie und Partikel. Diese kinetische Energie transportiert so Sedimente über viele Tausend Kilometer durch die Ozeane - vergleichbar mit einem Sturm in der Atmosphäre. Durchaus vergleichbar ist auch die Wirkung der Stürme.

    Selbst wenn sie zerstörerisch wirken, weil vielleicht zu viel toniges Sediment herangeführt wird, ist es eigentlich wie bei dem Ökosystem an Land, denn ein Ökosystem erfährt seine Stabilität auch dadurch, dass es von Zeit zu Zeit von Katastrophen wie Waldbränden heimgesucht wird, dadurch dass ein ständiger Wechseln von Pioniergemeinschaften und ausgereiften Lebensgemeinschaften statt findet, das treibt auch die artliche Vielfalt in die Höhe.