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Stummes Sprachgenie

Der amerikanische Autor David Wroblewski hat mit seinem Debütroman "Die Geschichte des Edgar Sawtelle" eine ganze Menge gewagt. Nur vordergründig handelt er von der Kunst der Welpenaufzucht. Tatsächlich geht es um den stummen (aber nicht tauben) Edgar, der alles daran setzt, den Mörder seines Vaters zu überführen.

Von Tanya Lieske | 09.02.2010
    Edgar Sawtelle wird auf einer abgelegenen Farm in Wisconsin groß. Seine Eltern Trudy und Gar sind Hundezüchter. Sie züchten keine Rasse, sondern Eigenschaften – Treue, Durchhaltevermögen, die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Dass sich dahinter eine ganze Philosophie verbirgt, und dass die unter Experten kontrovers diskutiert wird, kann man sich als unbedarfter Leser gut vorstellen. Nach der Lektüre dieses Romans weiß man es sicher. Der amerikanische Autor David Wroblewski hat mit seinem Debütroman "Die Geschichte des Edgar Sawtelle" eine ganze Menge gewagt.

    Viele hundert Seiten mit der Aufzucht von Welpen zu füllen, diesen Stoff in ein Familiendrama von Shakespeare'schen Dimensionen hineinzuweben, dem Ganzen die dramatische Struktur eines Fünfakters zu verleihen, das ist ein ungewöhnliches Unterfangen. Dieser Roman kommt auf eine etwas ungelenke, wiewohl sympathische Art gestrig daher. Es scheint, als schreibe der Autor für einen fast vergessenen Typus von Leser, unabgelenkt müsste der sein, weniger auf der Suche nach Sensationen als willens, sich von einem Text einfach mitnehmen zu lassen. Hat sich David Wroblewski vom 19. Jahrhundert inspirieren lassen?

    "Es ist in der Tat ein altmodischer Roman. Ich habe zwar nicht in Bezug auf das 19. Jahrhundert geschrieben, mich auch nicht an Autoren wie Dickens orientiert. Ich wollte vielmehr zu unserer Gegenwartsliteratur Stellung beziehen. Es gab da in den Vereinigten Staaten in den 90er-Jahren einen Minimalismus, eine literarische Schule, die ungefähr 15 Jahre lang existierte, und mit ihr einen Ton, der fast schon ins literarische Repertoire übergegangen war. Dieser Ton hat viel mit Zynismus zu tun und mit einem Überdruss, mit einer Abneigung gegenüber dem Geschichtenerzählen. Ich persönlich habe aber noch Spaß an Geschichten, ich lese einen Roman, weil ich mich für Tage oder auch Wochen in einer Geschichte verlieren will, und die soll Teil meines Lebens werden. Solch eine Geschichte wollte ich schreiben. Das war mir wichtiger, als das 19. Jahrhundert zu imitieren."

    Wie die meisten ersten Stoffe, verrät dieser Roman einiges über die Biografie des Autors, und viel von seinen Vorlieben. Der ehemalige Software-Entwickler David Wroblewski ist heute Romanautor. In seiner Jugend wollte er Schauspieler werden. Shakespeares Dramen, vor allem der Hamlet, haben es ihm besonders angetan. So kommt es, dass in diesem Roman noch mit Gift gemordet wird, dass die Witwe Trudy nach einer angemessenen Trauerzeit die Frau des Mörders Claude wird. Erzählt wird das alles aus der Perspektive des jungen Edgar Sawtelle, der stumm ist, aber nicht taub; und der alles daran setzt, den Mörder seines Vaters zu überführen.

    Viel großes Drama also, und es wird in epischer Breite erzählt. Schauplatz ist die amerikanische Provinz mit kleinen Städten und schrulligen Typen, mit viel Wildnis und Einsamkeit und einem Gehöft, dessen Scheune am Ende brennen wird. Dieses Gehöft ist in seiner Gewöhnlichkeit schon fast ein Symbol für anderes, langsameres, sehr amerikanisches Leben abseits der großen Städte. Über das gemächliche Erzähltempo geht diese Atmosphäre in die Romanhandlung über:

    "Ich bin auf einer sehr abgeschiedenen Farm aufgewachsen. Während der Ferien war es fast unmöglich, in die Stadt zu kommen, ich hatte ein paar Freunde, die einige Meilen entfernt wohnten, und die ich mit dem Fahrrad besuchen konnte. Dann war ich auf einer Farm, die genauso aussah wie unsere eigene. Das Leben geht dort auf jeden Fall viel langsamer! Als Jugendlicher konnte ich damit nichts anfangen. Ich war ungeduldig, ich hatte das Gefühl, das Leben findet anderswo statt, da draußen und in den Städten, ich hatte keinen Zugang zur Kultur, und ich bin überstürzt ausgezogen. Als ich dann ungefähr 30 Jahre alt war, und auf meine Kindheit zurückblickte, hat sich etwas in mir verändert. Ich war zum ersten Mal stolz auf meine Herkunft. Kurz danach habe ich angefangen, mein Buch zu schreiben."

    Die Geschichte des Edgar Sawtelle war in Amerika ein ganz großer Erfolg, vielleicht gerade wegen des abgelegenen Schauplatzes. Man findet den genau beschriebenen Wechsel der Jahreszeiten, die tägliche Routine wiederkehrender Aufgaben, nicht zuletzt die Typen, die unverkennbar provinziell sind, die aber unterhalb der Karikatur in Szene gesetzt werden. Zum Beispiel Ida Paine, Inhaberin des Dorfladens, die stets im Bilde darüber ist, was ihre Kunden eigentlich kaufen wollten, oder was sie vergessen haben:

    "Vorne saß hinter einer langen gerillten Holztheke Ida Paine, die adlernasige, hellsichtige Inhaberin des Ladens ... musterte ihre Kunden mit starrem Blick von Kopf bis Fuß; durch ihre gewölbten Brillengläser erschienen ihre Pupillen so groß wie Vierteldollarmünzen. Nach jedem Betrag knallte sie den Hebel der Kasse mit einer Wucht herunter, die genügt hätte, um die Zahlen in ein Stück Eichenholz zu stanzen. Die Einheimischen waren das alles gewöhnt, Fremde aber konnte es um den Verstand bringen. »War's das?« fragte sie, wenn sie alles eingetippt hatte, legte den Kopf schräg und fixierte den Kunden. »Noch was?« Die blau geäderten Finger ihrer linken Hand hämmerten auf die Tasten ein und hüpften auf den Hebel. Rumms! Der Kunde erschrak, vielleicht auch vor dem Neigen des Kopfes. Man konnte sehen, wie er überlegte, ob er auch wirklich alles hatte. Die Frage hallte in seinem Kopf wider, ein metaphysisches Rätsel. Brauchte er nicht doch noch etwas? War dies womöglich der letzte Einkauf seines Lebens: vier Dosen Bohnen und Würstchen, eine Tüte Kartoffelchips und ein halbes Dutzend Fischköder? War das wirklich alles? War da nicht doch noch etwas, das er mitnehmen musste? Und überhaupt: Hatte er in seinem ganzen Leben je etwas Bedeutendes vollbracht?"

    In ihrem Zentrum ist die Geschichte des Edgar Sawtelle aber ein Entwicklungsroman. Der Leser begleitet die Hauptfigur von der Geburt bis zum 17. Lebensjahr. Hier hat der Autor die wohl größte Herausforderung des epischen Erzählens gemeistert, die Zeit so verstreichen zu lassen, dass der Leser es wahrnimmt, aber nicht bemerkt. Am Ende der 17 Jahre beginnt für Edgar ein Aufenthalt in der Wildnis, eine Art Initiation:

    "Ein paar Sachen hatte ich mir fest vorgenommen. Mein Roman sollte die Form eines Theaterstücks in Fünf Akten haben, und das hat mir sehr geholfen. Wenn man einen ersten Roman schreibt, stellen sich jede Menge Probleme, die scheinbar unüberwindlich sind. Die fünf Akte aber schienen machbar, jedenfalls wollte ich den Versuch wagen. Ich hatte eine Idee davon, wie sich jeder Akt anfühlen sollte, was im übertragenen Sinne darin geschehen sollte. Zum Beispiel wusste ich, dass Edgar im vierten Akt sein Heim verlassen würde, dass er in die Welt gehen würde. Ich hatte dafür noch keine Worte, wusste aber um die Qualität dieser Erfahrung. Ich wusste auch, dass er am Anfang und am Ende einen kleinen Fluss durchqueren würde, aber der Rest war auch für mich eine Entdeckung."

    Edgars Flucht in die Wälder von Wisconsin gehört zu den gelungensten Passagen des Romans. Hier vollzieht sich die Wandlung vom Jungen zum Mann, und zugleich dreht sich das Rad der Geschichte zurück, man betritt Amerika in seiner wilden, vorzivilisatorischen Form. Das Land und sein Protagonist stehen ganz im Einklang. Daneben gibt es, wie könnte es anders sein, auch einige Schwächen, die zum ersten Werk gehören, vor allem der Anspruch, die Welt in einem Wurf ganz und vollständig zu erklären. So sieht David Wroblewski in seiner "Geschichte des Edgar Sawtelle" auch eine Studie der menschlichen Sprache:

    "Ich bin sehr an dem Phänomen der Sprache interessiert, ich habe mich damit mein ganzes Leben lang in der einen oder anderen Weise beschäftigt. Ein wesentlicher Bestandteil von Sprache ist ein Paradox: sie ist nicht immer hilfreich, manchmal setzt man seine Worte ja auch ein, um Leute zu verwirren, um eine Spur zu verwischen, um unlautere Ziele zu verfolgen. Auf der anderen Seite ist die Sprache das, was uns zum Menschen macht. Deshalb ist Edgar auch stumm. Er ist fast schon ein linguistisches Wunderkind, aber ihm fehlt diese eine Fähigkeit, er kann nicht sprechen. Er hört und versteht alles, erfindet seine eigene Zeichensprache, er kommuniziert auf allen Ebenen. Ich habe Edgar seine Sprache genommen und wollte sehen, wie sich das auf den Verlauf der Geschichte auswirkt, und dann konnte ich ihn mir nicht mehr mit einer Stimme vorstellen."

    In der Tat hat es selten einen Stummen gegeben, der so viel kommuniziert wie Edgar Sawtelle. Seine Geschichte, eigenwillig und konsequent erzählt, wird den Leser so schnell nicht wieder loslassen. David Wroblewski hat in seinem ersten Roman alle Traditionen der Moderne ignoriert, und das mit Erfolg.

    David Wroblewksi: Die Geschichte des Edgar Sawtelle. Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, 704 Seiten, 22,90 Euro.