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Stumpfe Proteinschere für Bakterien und Viren

Medizin. – Nicht nur die Abfolge von Aminosäuren in einem Protein, die ja durch ein Gen im Erbgut vorgegeben wird, sondern vor allem die dreidimensionale Form entscheidet, ob und wie ein Enzym seine Aufgaben erfüllt. Doch aus der Chemie alleine kann die endgültige Struktur nicht bestimmt werden. Hier hilft das Verfahren der so genannten Röntgenstrukturanalyse. Damit gelang es Forschern, ein Enzym mit verblüffender Wirkung bei Infektionen mit Viren und Bakterien zu entschlüsseln und es so in Zukunft möglicherweise für die Medizin nutzbar zu machen.

    Ob Ebola- oder Aids-Viren, Anthrax- oder Diphtherie-Bakterien, sie alle haben eines gemein: Um ihre verheerende Wirkung zu entfalten, sind sie auf Mithilfe ihres Wirts angewiesen, erklärt Manuel Than vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München: "Viele Krankheitserreger, sowohl Bakterien als auch Viren, müssen eigene Enzyme und Proteine zunächst aktivieren, damit diese funktionieren können. Dazu werden die hergestellten Eiweiße verkürzt, indem Enden der Aminosäurekette abgeschnitten werden. Diese Schneidefunktion aber übernimmt das so genannte Furin, das aus dem Wirtsorganismus stammt." So verschärft der Körper selbst quasi die Folgen einer Infektion mit etwa Gift produzierenden Keimen, indem sein Furin-Enzym die "verpackten" Giftsubstanzen zu aktiven Toxinen zerschneidet. "Viren dagegen bringen ebenfalls inaktive Enzymvorstufen mit, die in Zellen durch die Furinschere "aufgeweckt" werden und anschließend die Vervielfältigung des Virus einleiten." Selbst Krebszellen missbrauchen die biologische Schneide, um Enzyme arbeitsbereit zu machen, mit deren Hilfe einzelne entartete Zellen durch ganze Gewebe wandern können und sich dann andernorts zu Metastasen absiedeln.

    Damit Furin aber eine Eiweißkette kappt, muss das Schneidewerkzeug selbst erst einsatzbereit gemacht werden. Dies gelingt nur, wenn eine bestimmte chemische Verbindung des zu zerschneidenden Proteins nach dem Schlüssel-Schlossprinzip in das so genannte "aktive Zentrum" – quasi das Schloss des Furins – passt. "Wir haben hier am Max-Planck-Institut die dreidimensionale, atomare Struktur des Furinmoleküls sowie eines passenden Hemmstoffes aufgeklärt. Dadurch erfuhren wir exakt, wie das aktive Zentrum dieses Furins ausschaut, wie es seine Schneidefunktion ausübt und welche Bestandteile seiner Struktur dafür notwendig sind", schildert Manuel Than. Doch das klingt einfacher als es war, denn während ein herkömmliches Enzym normalerweise in sechs Monaten analysiert ist, benötigten die Max-Planck-Wissenschaftler dafür ganze drei Jahre. Der Grund: bislang wussten Experten kaum etwas über die Enzym-Familie der so genannten "Proprotein-Convertasen", der das Furin angehört. Die neuen Kenntnisse, so ist Than überzeugt, ließen sich auch dazu nutzen, um Furin mit künstlich erzeugten und genau zu dem Aktivierungszentrum des Schneidemoleküls passenden Substanzen zu blockieren.

    Doch die Idee hat einen Haken: Zwar könnten solche Furin-Hemmstoffe verhindern, dass Virus- und Bakterienenzyme aktiviert werden, doch auch alle anderen überlebenswichtigen Eiweiße des Körpers selbst würden nicht mehr in Betriebszustand versetzt. Entsprechend würde eine Furin-Blockade mit schweren Nebenwirkungen einhergehen. Doch Manuel Than sieht dennoch einen Ausweg: "Durch einen kurzzeitigen Einsatz solcher Furinhemmer in der aktiven Phase einer Krankheit könnte Zeit erkauft werden, um massive Auswirkungen bakterieller Giftstoffe oder die Verbreitung von Viren einzuschränken." Das Immunsystem des Patienten oder eingenommene Medikamente erhielten so eine größere Spanne, um die eingedrungenen Keime zu bekämpfen. Dass diese Strategie im Prinzip erfolgreich sei, ergaben erste Tierexperimente. Doch selbst wenn sie sich auf den Menschen übertragen ließen, wären solche Hemmstoffe angesichts ihrer gefährlichen Nebenwirkungen nur eine allerletzte Alternative.

    [Quelle: Renate Ell]