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Stumpfes Adjektiv

Sie haben ursprünglich ein Dorf bewohnt, am sumpfigen Ufer eines Flusses, und um aus dem Sumpf zu kommen, sind sie auf sieben Hügel gestiegen. Dann waren sie Untertanen fremder Könige, aus der Nachbarschaft, und als sie deren Herrschaft abgeschüttelt hatten, haben sie sich einige Jahrhunderte lang damit vergnügt, selbst alle Nachbarn zu überfallen und zu besetzen, bis in Italien nichts mehr zu besetzen blieb. Danach sind sie übers Meer gegangen und über die Berge und haben weitere Nachbarn in die Familie aufgenommen. Zwangsweise. Oder abgeschlachtet. Jetzt, so scheint es, sind sie an Grenzen gelangt. Nicht unbedingt Grenzen dessen, was sie erobern könnten, sondern dessen, was sie verlockt.

Florian Felix Weyh | 14.03.2004
    Sie, das sind die Herren der Welt. In diesem Jahr 29 befinden sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Gewiss, der erfolgreichste Kaiser der gesamten römischen Geschichte – zugleich ihr erster, nämlich Augustus – ist seit ein paar Jahren tot, und sein Nachfolger Tiberius verwaltet das Erbe mehr schlecht als recht. Er residiert nicht mal in seiner Hauptstadt, sondern hält sich die meiste Zeit auf Capri auf, während in Rom andere um die Macht ringen. Zum Beispiel Sejanus, der intrigante Befehlshaber der Prätorianergarden – jener Elitetruppe, die Augustus etablierte, um sich vor dem "inneren Feind" zu schützen. Seit den Tagen der Triumvirate gibt es viele innere Feinde, nachgerade eine Konstante römischer Politik. In der Machtelite ist sich niemand grün, und da das dynastische Prinzip schon beim ersten Kaiser versagt, rechnen sich viele Aspiranten Chancen auf den nächsten oder übernächsten Thron aus. Manchmal geht das schneller, als man denkt; Kaiser leben gefährlich und ungesund:

    Wer an Zufälle glaubte, mochte die Gnade der Götter preisen, die dafür gesorgt hatten, dass alle Nachkommen des Augustus umgekommen waren: im Kampf, durch Krankheit, wodurch auch immer. Wer nicht an Zufälle glaubte, hielt nicht die Gnade der Götter, sondern eher Livias Tücke für maßgeblich. Manche im Kampf erlittene Wunde fand sich im Rücken des Toten, manche Krankheit ließ sich kaum von der Wirkung des einen oder anderen Gifts unterscheiden. Aufmerksame Zeugen – ungläubige Menschen nannten sie Spitzel – berichteten Livia von Äußerungen und vom Lebenswandel edler Römer, darunter viele Verwandte des Augustus, und nachdem Livia den Princeps in Kenntnis gesetzt hatte, musste dieser seine Freunde und eigenen Verwandten verurteilen: zur Verbannung, manchmal zum Tod. Auch in den Provinzen wusste man, dass in Rom kein Gedanke gedacht, kein Wort gesagt wurde, ohne dass Livia davon erfuhr. Als schließlich Augustus starb, wobei Gehässige durchaus an einer Krankheit zweifelten und das Wort Gift flüsterten, war nur noch ein Thronfolger verfügbar: Tiberius, Sohn der Livia aus ihrer ersten Ehe mit Tiberius Claudius Nero.

    Livia Augusta, genannt "das alte Ungeheuer", die zähe zweite Gattin des Augustus, überlebte den Imperator um fast fünfzehn Jahre; ihr Sohn musste einige Energie aufwenden, um sie von den Staatsgeschäften fernzuhalten. Als sie endlich starb, munkelte man in Rom, sie habe ein privates Spitzelnetz betrieben, das dem offiziellen des Sejanus den Rang ablief. Wahrheit oder Fiktion? Wir wissen es nicht, zumindest so lange wir den Roman nicht durch wissenschaftliche Parallellektüre ergänzen, und dazu mag sich ein Leser historischer Romane kaum verstehen. Das Genre wird von der Literaturkritik gemeinhin gemieden, weil sich nicht selten dahinter eine Mogelpackung verbirgt: Historienromane sind historisierende Romane. Sie kümmern sich wenig um Faktizität, sondern nutzen das gebotene Kolorit zu Unterhaltungszwecken, päppeln Antike und Mittelalter, Orient und Okzident kräftig mit Sex&Crime auf. Gisbert Haefs verlangt von seinen Lesern einiges mehr. Die Fähigkeit etwa, zweitausend Jahre zurückliegende politische Details einordnen zu können, sich unzählige Namen und Orte zu merken und last noch least Bibelkenntnisse zu besitzen, die man im Religionsunterricht nach 1968 kaum noch erwarb. Denn natürlich – das klingt schon im reißerischen Titel "Die Geliebte des Pilatus" durch – kennen wir die Epoche des Tiberius aus ganz anderen Zusammenhängen. Als römische Geschichte ist das Jahr 29 staubige Vergangenheit, als christliche Überlieferung zumindest in Spurenelementen präsent:

    Afer erkannte ihn sofort; es war Jehoschua. Zum ersten Mal sah er aus der Nähe die feinen Züge, die durchdringenden, aber zugleich warmen dunklen Augen, den Mund, an dem und dessen Worten so viele hingen. Den offenbar so viele fürchteten. Jehoschua lächelte, und Afer begriff, daß lächeln für ihn einfacher und natürlicher war als schmähen oder fluchen. (...) Afer betrachtete die schmalen und doch kräftigen Finger, die so lange gute Zimmermannsarbeit geleistet hatten; und während er sich bemühte, die Sanftheit und die Kraft der Stimme zu ermessen, hörte er die eigene, lächerlich flache Stimme sagen: "Wer ist schon gerecht?" – "Der diese Frage stellt, kennt den Beginn des Wegs. Aber wir alle sind unvollkommen und krank. Wie dein Knecht, nicht wahr? Miriam sagte, er ist auch dein Freund." Afer brachte nur ein "Ja" heraus. Vier oder fünf Männer, vermutlich Anhänger Jehoschuas, kamen aus dem Haus, blieben stehen und betrachteten Afer mißbilligend, als wollten sie ihn mit Blicken verscheuchen. "Ich habe viel zu tun", sagte Jehoschua. "Aber weil du gut zu Miriam warst und ein guter Mann bist, will ich zu dir kommen und nach deinem Knecht schauen.

    So klingt die Bibel in der Sprache eines Unterhaltungsschriftstellers. Schwer zu richten, ob das Original – zum Beispiel im Lukasevangelium – nicht doch ein bisschen voller tönt:

    Und eines Hauptmanns Knecht lag todkrank, den er wert hielt. Da er aber von Jesu hörte, sandte er die Ältesten der Juden zu ihm und bat ihn, dass er käme und seinen Knecht gesund machte. Da sie aber zu Jesu kamen, baten sie ihn mit Fleiß und sprachen: Er ist es wert, dass du ihm das erzeigest; denn er hat unser Volk lieb, und die Schule hat er uns erbaut. Jesus aber ging mit ihnen hin. Da sie aber nun nicht ferne von dem Hause waren, sandte der Hauptmann Freunde zu ihm und ließ ihm sagen: Ach HERR, bemühe dich nicht; ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehest; darum habe ich auch mich selbst nicht würdig geachtet, dass ich zu dir käme; sondern sprich ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Kriegsknechte unter mir und spreche zu einem: Gehe hin! so geht er hin; und zum andern: Komm her! so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das! so tut er's. Da aber Jesus das hörte, verwunderte er sich über ihn und wandte sich um und sprach zu dem Volk, das ihm nachfolgte: Ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden! Und da die Gesandten wiederum nach Hause kamen, fanden sie den kranken Knecht gesund.

    Gisbert Haefs ist ein vielbeschäftigte Übersetzer und macht in seinen historischen Romanen das, was er sonst zwischen verschiedenen Sprachen tut: Vermittlungsarbeit leisten, Fremdartiges ins eigene Idiom übertragen. Auch dieser Hauptmann Afer, der Jesus begegnet und ihn gegenüber Pontius Pilatus als einen "Gerechten" verteidigt – was den Delinquenten nicht rettet –, wirkt in seinen Gedanken und Taten zeitgenössisch wie fast alle Figuren in diesem Sittenbild des Nahen Ostens. Der römische Hauptmann spielt darin eine wichtige Rolle. Er ist – obwohl in Diensten des hebräischen Königs stehend – Kontaktmann der Römer zu den Einheimischen und koordiniert eine seltsame Aktion, die selbst am Ende das Buches für den Leser nicht ganz klar wird: die Einnahme der Oase Ao Hidis, in der sich ein räuberischer Fürst gegen römische Einflussnahme wehrt. Afer hat zu diesem Zweck einen Vertrauten in der Nähe des Fürsten installiert, weiß aber nichts davon, dass zur selben Zeit die Prätorianer des Sejanus in geheimer Mission nach Ao Hidis unterwegs sind. Der kleine Trupp aus "Special Forces" – wie man sie in der Sprache Hollywoods nennen würde – hat sich weit im Süden einer Karawane angeschlossen, die ihrerseits seltsame Gestalten versammelt. Den römischen Händler griechischer Abstammung Demetrius, den indischen Schankwirt Ravi, einen nubischen Fürstensohn und den ehemaligen römischen Legionär Opiter Perperna, der dreißig Jahre lang als Sklave bei den Arabern schuften musste, bis ihn Demetrius bei einem Sänftenrennen gewinnt und freilässt. Zu all diesem Durcheinander gesellt sich noch das weibliche Element: Kleopatra mit drei Gefährtinnen. Die Kleopatra?

    Ich entstamme einer Nebenlinie." Sie klang nun wieder ganz sachlich. "Der Urgroßvater der großen Kleopatra hatte eine Halbschwester; aus ihrem Schoß stammt mein Teil der Familie. Die Hauptlinie ist zwar nicht ausgestorben, wie wir alle wissen. Aber seit Ägypten durch Erbschaft und Krieg Rom in die Hände fiel, ist die Frage von Hauptlinien und Nebenlinien bedeutungslos, was Macht angeht. Aber es gibt Reichtümer. Gold, Paläste, wertvolles Land, und es gibt Nachstellungen." – "Nachstellungen von wem?" Sie breitete die Arme aus. "Frag lieber: von wem nicht? Andere Nebenlinien, Nebennebenlinien, römische Verwalter, die gern in einen der Paläste umzögen, aufstrebende Händler, denen zur Krönung ihres Reichtums noch dieses Gebäude oder jenes Landstück fehlt. Männer, deren Großväter von einem meiner Vorfahren beleidigt wurden; Männer, die meinen, sich für angebliche Beleidigungen ihrer Vorfahren an mir rächen zu müssen.

    Das Thema ist gesetzt. Vielmehr: die Themenstränge. Römische Imperiumspolitik im Nahen Osten, innerjüdische Streitigkeiten zwischen orthodoxen Priestern und dem Machthaber Herodes Antipas – nicht identisch mit dem alten König Herodes aus der Weihnachtsgeschichte – und schließlich eine Schatzsuche nach alten Zeichnungen, die den Eingang zu einer Smaragdmine aus dem Familienbesitz der Ptolemäer weisen. So vermengt sich historisches Material mit Stoff, aus dem die Abenteuer sind. Nichts von dem, was man dazu imaginieren mag, bleibt aus: Überfälle und Entführungen, Verrat und Liebesakte, Heimtücke und Edelmut. In dieser männerdominierten Welt wirkt die "Fürstin" Kleopatra nicht fremd genug, um nicht den Verdacht zu erwecken, dass sie an raue Sitten gewöhnt sei – wenn nicht gar an vulgäre Umgangsformen. Der Buchtitel weist dem Leser die richtige Spur: Die junge Frau ist eine Hetäre, eine Edelprostituierte, die Pontius Pilatus ein paar schöne Stunden in Alexandria bereitete. Dafür mag er sie anständig bezahlt haben, den immateriellen Lohn, nämlich die Unterstützung in ihren Privatangelegenheiten, will sie erst jetzt einfordern. Darin liegt der Grund ihrer Reise, denn dass sie in Armut lebt, verdankt sie einem Betrüger, der – mit der römischen Besatzungsmacht verbandelt – nur vom mächtigen Pilatus zur Ordnung gerufen werden kann. Eine riskante Rechnung, denn inzwischen ist der Statthalter nicht mehr ganz so frei in seinen Sympathiebezeugungen. Seine Gattin Procula wacht über Schritte und Fehltritte. So steht Kleopatra schließlich einer kühlen Adligen gegenüber, die sich vor allem in komplizierten Abstammungsfragen auskennt. Macht basiert im Imperium Romanum nicht nur auf Blutvergießen, sondern auch auf Blutsverwandtschaft; da ist es ratsam, sich der Identität möglicher Feinde vorab zu versichern:

    "Lass mich das verdauen"", sagte Procula. "Du, die Tochter von Alexandros. Enkelin von Kleopatra und Marcus Antonius. Nach dem Sieg, nach dem Tod deiner Großeltern hat Octavianus Augustus euch im Triumph mitgenommen nach Rom. Ach nein, nicht euch, deinen Vater und seine Schwester. Und er hat sie der rechtmäßigen römischen Gemahlin des Marcus Antonius übergeben – seiner eigenen Schwester Octavia. Kleopatra Selene wurde mit dem Mauretanier luba vermählt. Sie haben einen Sohn, Ptolemaios, nicht wahr? (...) Lass mich all dies weiter entwirren." Procula schloss die Augen halb und schaute auf die Tischplatte, wo ihr rechter Zeigefinger Linien malte, von denen Linien abzweigten, von denen andere Linien abzweigten. "Octavia, Schwester des Augustus... Von Marcus Antonius hat sie zwei Töchter, beide Antonia genannt. Die Jüngere war mit Drusus vermählt und ist durch ihn Mutter von Germanicus, Livilla und Clau-Clau-Claudius; nach dem Tod des Drusus hat sie nicht mehr geheiratet, sondern sich um die Familie gekümmert. Sie hat von Octavia die Sorge um die anderen Kinder von Marcus übernommen, nicht wahr? Kleopatra Selene war bei Octavia, bis Augustus sie mit luba vermählte; Alexandras Helios..." Sie sprach nicht weiter. (329)

    Auch wir halten inne: zu viele Namen, zu viele Daten, zu viele Verwandte. Gisbert Haefs ist ein manischer Lexikograph. Nur: Seine Leser dürften das kaum sein, und die seltsame Mixtur aus trivialer Abenteuerromantik und historischer Faktensammelei macht die Lektüre anstrengend. Manchmal hilft nur ein Weiterblättern, aber dann droht der rote Faden abhanden zu kommen. Denn Haefs hat auch Krimis geschrieben – nicht gerade wenige –, und bei solch einer Herkunft kann ein Historienroman offensichtlich nicht geradlinig verlaufen. Nicht nur, dass die Prätorianer unter ihrem Anführer Rufus eine zwielichtige Doppelagentenrolle spielen, auch der Händler Demetrius gehört einem konkurrierenden Kundschaftersystem an. Als reisender Kaufmann weiß er mehr als manch offizieller Spitzel, aber wozu diese Geheimdienstkulisse aufgebaut wird, erschließt sich nicht wirklich. Der Feind – jener Oasenkönig Belhadad – erscheint viel zu unwichtig, als dass sich davon ein Bedrohungsszenario ableiten ließe. Wenn nicht – ja wenn man den Roman nicht vor einer anderen Folie läse. Das Römische Reich anno 29 stünde dabei für die amerikanische Weltmacht des Jahres 2003, mit ihrer Anmaßung, Arroganz und Weltbeglückungsideologie:

    Was also ist das Imperium der Römer? Ein Gerät zur Errichtung von Wasserleitungen? Ein Körper, dessen Glieder harmonisch miteinander leben? Oder vielleicht ein einziger Krieger, der mehr und schneller und grausamer töten kann als alle vor ihm? (...) Vielleicht kommt einmal ein Gott, der größer ist als die Götter Roms. Sicher kommt einmal ein Volk, das einen Anfall schwächlicher Unordnung bei den Römern nutzt, um ihre Herrschaft zu beenden. Aber das liegt weiter in der Zukunft als die Geburt deines Urgroßvaters in der Vergangenheit. Es wird uns also nichts anderes zu tun bleiben als das, was wir ohnehin tun: den Römern freundlich begegnen, solange sie die Grenzen nicht überschreiten; sie erschlagen, wenn sie bei uns eindringen; zurückweichen und aus dem Dickicht angreifen, wenn sie zu viele sind; nachrücken und sie erschlagen, wenn sie sich zurückziehen.
    In dieser Interpretation wäre Belhadad eine Art Saddam Hussein der Antike, aber vermutlich geht das zu weit, denn Spannungsliteratur übermittelt selten subkutane Botschaften, selbst wenn sie so trivial ausfielen wie diese. Interessanter die Frage, warum der Autor seine Story ausgerechnet im Kreuzigungsjahr Jesu ansiedelt? Mächtig muss ihn die Tradition gekitzelt haben, die seit hundertfünfzig Jahren eine nicht von der Kirche abgesegnete Literarisierung des Neuen Testaments wagt. Kam im 19. Jahrhundert dabei noch pathetischer Kitsch heraus, versuchte es das zwanzigste mit sozialkritischem Realismus. Bei Gisbert Haefs ersteht das 19. Jahrhundert wieder auf, wenn er Kleopatra auf den Messias treffen lässt:

    Sie betrachtete ihn aufmerksam, von der Seite. Er schien die Blicke zu spüren und wandte ihr den Kopf zu. Ein gutes Gesicht, sagte sie sich; sanft, aber kraftvoll (...); sie schaute wieder hoch, in sein Gesicht, in seine Augen. Zwei Atemzüge vielleicht, sagte sie sich später, keinesfalls länger, bis er den Kopf abwandte und zur Tür von Pilatus' Saal blickte. Aber in dieser winzigen Spanne fühlte sie sich durchbohrt, durchschaut, von innen nach außen gewendet. Und zugleich, auf eine ihr vollkommen unbegreifliche Weise, empfand sie Wärme, Trost und Zuspruch. Es war, als sei ihr Inneres vor ihr ausgebreitet, vor ihm und vor der Welt entblößt; alle Schande, alle Niederlagen, alle schäbigen kleinen Siege, die Lügen und Tapferkeiten und Mutlosigkeit, Anmaßung, Bedauern, Witz und Stolz und Trauer, alle Worte und jedes Schweigen. Durchschaut, entblößt, wieder verdeckt; und sie fühlte sich kraftlos und gestärkt, getadelt und gepriesen. Auseinandergenommen und neu zusammengefügt, dachte sie wie betäubt; neu und besser zusammengefügt. Wer ist dieser Mann? (...) Eine Art Hoheit, demütige Hoheit? Dann wich dieser Gedanke und machte einem anderen Platz, einem anderen Eindruck, dem wichtigsten: Dieser Mann war voll unendlicher Trauer. Und voll unendlicher Entschlossenheit. Einer, der sterben wollte und wusste, dass er bald sterben würde.

    Mit einem solchen Jesusbild können selbst konservative Kleriker leben, von den rüden Profanisierungen des 20. Jahrhunderts ist Gisbert Haefs meilenweit entfernt. Damit offenbart sich, was
    Die Geliebte des Pilatus wirklich ist: ein Buch für katholische Leihbibliotheken. Sein anstößiger Anteil bleibt gering; wenn Prostituierte Hetären heißen und aus besseren Verhältnissen stammen, wirken sie gleich weniger verderbt, und am wichtigsten ist ihre Fähigkeit, den Messias als solchen zu erkennen. Nein, wer historische Romane bislang für reine Zerstreuungsobjekte hielt, wird von Gisbert Haefs keines Besseren belehrt. Der Roman ist stellenweise unterhaltsam, aber wenig aufklärend und für einen Schreib- und Übersetzungsroutinier sprachlich erstaunlich durchwachsen. Wenn nicht gerade dynastische Aufzählungen anstehen, schwelgt der Autor in Beschreibungen, die dennoch an der Oberfläche der Objekte verharren; Adjektive haben noch selten einen Sachverhalt durchdrungen. Das sieht auch der Hauptprotagonist Demetrius in einer nächtlichen poetologischen Anwandlung so; ausgerechnet nachdem einer seiner Gefährten ermordet worden ist:

    Die nächtliche Nacht, die wüste Wüste ... Der sandige Sand; der windige Wind; das meerige Meer. Warum sprachen die Dichter vom Abgrund der Nacht, die sich doch über ihm türmte und ihn nicht aufsog, sondern zu erdrücken schien? Warum sagten sie die unendliche Wüste, das Meer aus Sand, da die Wüste doch einfach dies war: wüst, öde, mörderisch? Das weinfarbene Meer – tückisch, ruhig, aufgewühlt, schäumend, wiegend, malmend, lebenspendend, mordend, fischig, tangig, salzig, tausend Eigenschaften, die wesentlicher waren als die Farbe, und zahllose Farben, die nichts mit Wein zu tun hatten. Dunkel wie Wein – so war das Meer nur, wenn sich über ihm ein Unwetter bereit machte, loszubrechen; dann war es bedrohlich, und wann wäre Wein bedrohlich?

    Bei so viel Abschweifung dehnen sich vierhundert Seiten gar manchmal wie eine wüste Wüste aus, in der das Gefühl, sich in einem Labyrinth verirrt zu haben, immer stärker zunimmt. Am Ende sind die meisten tot und viele Fragen offen. Demetrius findet dennoch zu Kleopatra, die Smaragdmine wird entdeckt, das Christentum nimmt seinen Lauf. Voller Wehmut gedenkt ein belesener Rezipient jener historischen Stoffe, die nicht unter der Ägide von Unterhaltungsautoren zuschanden gekommen sind; etwa das alttestamentarische Israel in Stefan Heyms "König David Bericht". Aber das ist eben doch eine ganz andere Gewichtsklasse.

    Gisbert Haefs,
    Die Geliebte des Pilatus
    BTB bei Goldmann, 414 S., EUR 22,90