Der Rawda-Platz im Stadtzentrum von Damaskus. In einem großen weißen Zelt diskutieren junge Leute neue Slogans für ihre Plakate, am Straßenrand schwenken Studenten syrische Fahnen, aus Lautsprechern dröhnen nationale Lieder. "Mr. Bush, wir brauchen unsere Demokratie, nicht Ihre!" steht auf einem Transparent – unübersehbar für jeden, der 30 Meter weiter zur amerikanischen Botschaft will. Feraz, ein 24jähriger Student, ist weder in der Baathpartei noch ein großer Fan des syrischen Regimes. Trotzdem macht er mit.
"Wir sind hier, um gegen den ausländischen Druck zu demonstrieren – selbst wenn Syrer in den Mord an Hariri verwickelt sind. Die Amerikaner benutzen das Thema Hariri für ihre eigenen Ziele. Sie wollen Syriens Einfluss im Nahen Osten untergraben."
Auslöser der Proteste ist ein Deutscher: Detlev Mehlis, Oberstaatsanwalt aus Berlin. Im Auftrag der UNO untersuchte er den Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Al Hariri. Am 14. Februar waren Hariri und 22 andere bei einem Anschlag in Beirut gestorben, Mitte Juni begann Mehlis seine Untersuchung. Heute stellte er dem Weltsicherheitsrat seinen Abschlussbericht vor, der in Wirklichkeit ein Zwischenbericht ist, denn die Ermittlungen gehen weiter. Das Dokument enthält schwere Anschuldigungen gegen das syrische Regime. Insgesamt 19 Syrer und Libanesen stehen im Verdacht, den Mord geplant zu haben, darunter führende Vertreter des syrischen Sicherheitsapparates. Außerdem habe Damaskus nicht vollständig mit der UNO-Kommission kooperiert und versucht, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. Jetzt könnte der Weltsicherheitsrat Sanktionen gegen Syrien verhängen. Denn bereits nach dem ersten Mehlis-Bericht im Oktober hatte das Gremium eine Resolution verabschiedet, die von Damaskus bedingungslose Zusammenarbeit fordert. Die jungen Leute am Rawda-Platz fühlen sich davon persönlich bedroht. Auch der 21jährige Youssef.
"Ich verteidige keine Partei oder Person, ich verteidige 18 Millionen Syrer. Oder lass' es acht Millionen sein, acht Millionen junge Leute, deren Zukunft auf dem Spiel steht, die studieren, arbeiten und etwas werden wollen. Es ist eine Schande und es ist ungerecht, sie daran zu hindern."
Youssef fürchtet, die internationale Gemeinschaft könnte Syrien isolieren wie einst den Irak. Und er steht mit seinen Ängsten nicht alleine. Eine Solidaritätswelle hat das Land erfasst: Ärzte, Lehrer, Parlamentarier, sogar Journalisten gehen auf die Straße – für Syrien und Präsident Bashar Al Assad. Die meisten dieser Aktionen sind Teil einer PR-Kampagne der Regierung, sagt Joshua Landis, ein in Damaskus lebender amerikanischer Politologe. So wie US-Präsident George Bush sein Volk auf den Irakkrieg eingeschworen habe, mobilisiere Damaskus seine Leute gegen die Angriffe von außen. Das Spiel mit der Angst funktioniere überall, so Landis.
"Die Regierung benutzt diese Angst sehr geschickt, indem sie die Leute ständig daran erinnert: Wir könnten wie der Irak enden, es könnte Chaos ausbrechen, sie wollen unsere nationale Einheit zerstören. Die Leute glauben das, weil es wahrscheinlich stimmt. Wenn Syrien kollabiert, könnte das Land auseinander brechen wie der Irak oder der Libanon im Bürgerkrieg – dafür braucht es keine Fantasie, das ist sehr wahrscheinlich."
Auch Kritiker des Regimes sind deshalb vorsichtiger geworden. Allein die Vorstellung, dass in Syrien Muslime gegen Christen, Araber gegen Kurden und Alawiten gegen Ismaeliten kämpfen könnten, bereitet den Oppositionellen Bauchschmerzen. Da ist ein Diktator wie Bashar Al Assad noch das geringere Übel, sagt der syrische Intellektuelle Abdel Razaq Eid. Nach 40 Jahren Baathideologie brauche das Land eine schrittweise Demokratisierung, keinen plötzlichen Regimewechsel von außen. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zum Fall Hariri könnten dennoch hilfreich sein, meint Eid.
"Wir hoffen, dass durch den Mehlisbericht der Geheimdienstapparat zusammenbricht und dass Bashar Al Assad gezwungen wird, sich für Demokratie und Reformen einzusetzen. So wie die Festnahmen der vier libanesischen Generäle nach dem Mord an Hariri die Macht der Geheimdienste im Libanon gebrochen haben, so hoffen wir, dass auch die Macht des syrischen Sicherheitsapparates gebrochen wird."
Eids Hoffnung könnte sich durchaus erfüllen. In seinem Bericht fordert Mehlis die syrische Regierung auf, alle Verdächtigen zu verhaften. Darunter sind auch zwei bekannte Generäle: Rustom Ghazale, der Chef des syrischen Militärgeheimdienstes im Libanon zum Zeitpunkt des Hariri-Anschlags, und Jamea Jamea, der Leiter der Geheimdienstzentrale in Beirut. Anscheinend hat Mehlis genug Beweise gesammelt, um sie vor Gericht zu stellen. Die Frage ist nur, vor welches? Noch fehlt der juristische Rahmen für einen Prozeß gegen die Angeklagten – und das erschwert die Ermittlungen. Denn solange ein Verdächtiger nicht weiß, wo er landet – ob vor einem syrischen Militärgericht oder vor dem Internationalen Tribunal in Den Haag – wird er wohl kaum alles sagen, was er weiß. Sowohl Detlev Mehlis als auch die libanesische Regierung befürworten deshalb, die Angelegenheit vor einem internationalen Gericht zu verhandeln. Nahostexperte Landis.
"Die Libanesen wollen nicht, dass das Ganze auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Sie wollen den Prozess ins Ausland verlegen, denn sie leiden ohnehin schon unter den schlechten Beziehungen zu Syrien. Nicht Libanon, sondern die internationale Gemeinschaft soll die treibende Kraft hinter dem Prozess sein. Damit nicht Libanon gegen Syrien kämpft, sondern die internationale Gemeinschaft."
Schon jetzt ist das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn angespannt. Auf rhetorische Frontalangriffe gegen einzelne Politiker folgen stets versöhnliche Worte. Selbst Saad Al Hariri, der Sohn des Ermordeten, erklärte kürzlich, es gebe kein Problem mit der syrischen Regierung, sondern nur mit den Mördern seines Vaters. Mehlis´ erster Bericht hatte sowohl den Bruder als auch den Schwager des syrischen Präsidenten Bashar al Assad verdächtigt, an dem Mordkomplott beteiligt gewesen zu sein. Aber keiner der beiden wurde anschließend noch mal vernommen. Die UNO-Ermittler hatten darauf bestanden, syrische Zeugen im Ausland zu verhören, erst nach wochenlangen Diskussionen einigte man sich schließlich auf Wien. Statt der zunächst angefragten sechs Syrer fuhren vergangene Woche jedoch nur fünf nach Österreich – darunter Geheimdienstler unterschiedlichen Ranges. Wer fehlte, war Asef Schaukat, der Schwager des Präsidenten. Joshua Landis vermutet dahinter einen Deal zwischen Assad und der UNO.
"Sie haben sich darauf geeinigt, dass niemand aus der engsten Familie des Präsidenten nach Wien fährt. Die Syrer waren erleichtert und gehen jetzt davon aus, dass sie mit ein paar Generälen aus der Geschichte rauskommen, die nicht zum engsten Machtzirkel gehören. Das wird sich zwar negativ auf Syrien auswirken, aber nicht unmittelbar auf die Familie des Präsidenten. Die Syrer denken, dass Mehlis sich nun nicht mehr für Asef Shaukat interessiert. Aber das war nicht Teil des Deals. Die große Frage ist deshalb: Wird es einen erneuten Angriff auf die Familie des Präsidenten geben und damit auf die eigentliche Führung des Landes?"
Es scheint so. Mehlis kündigte an, Asef Shaukat erneut verhören zu wollen. Sollten die UNO-Ermittler anschließend seine Verhaftung fordern und handfeste Beweise vorlegen, bliebe Bashar Al Assad nichts anderes übrig als Wort zu halten, meint Ayman Abdel Nur, ein syrischer Regimekritiker. In mehreren Fernsehinterviews hatte der Präsident angekündigt, jeden Syrer, der an dem Hariri-Mord beteilt sei, vor Gericht zu stellen. Abdel Nur geht davon aus, dass Assad sich dann für sein Land und gegen die Familie entscheiden werde.
"Das ist keine Familienahngelegenheit, sondern eine Staatsaffäre. Sein Vater hat viele Brüder und Cousins gefeuert. Sollte Bashar das auch tun, wird er die Unterstützung der Bevölkerung und insbesondere der Alawiten gewinnen."
Vor allem seine Landsleute, die in Syrien herrschende Minderheit der Alawiten, braucht Assad dringend, um an der Macht zu bleiben. Sämtliche Schlüsselpositionen in Militär und Geheimdiensten sind von Alawiten besetzt und nicht wenige von ihnen betrachten die jahrzehntelange Macht des Assad-Clans mit Argwohn. Schuldige nicht auszuliefern und die eigenen Familienmitglieder weiter aus der Schusslinie zu halten, ist deshalb ziemlich riskant, meint Regimekenner Abdel Nur. Zum Druck von außen könne dann auch noch Druck von innen kommen. Youssef, der Demonstrant am Rawda-Platz, scheint ihm Recht zu geben.
"Wenn es ein Syrer war, dann sollte nicht das ganze Volk den Preis dafür bezahlen, sondern der, der Hariri getötet hat. Angenommen es waren zwei oder drei, oder lass' es zehn sein. Wegen dieser zehn sollen 18 Millionen Syrer leiden? Das ist unlogisch."
Nach wie vor besteht die syrische Regierung darauf, nichts mit dem Mord zu tun zu haben. Ministerin Bouthaina Shaaban zeigt sich fest von der Unschuld der Syrer überzeugt. Syrien hat nicht das technische Knowhow für einen solchen Anschlag, sagt Shaaban. Aber muss der zuständige syrische Geheimdienst nicht davon gewusst haben?
"Ich weiß nicht, wer davon wusste und wer nicht. Aber es ist unmöglich, dass Syrien so einen Anschlag verübt. Würde sich die Untersuchung mehr um die technischen Details kümmern: den Sprengstoff, die Technologie, ob es eine Rakete war, wie sie alle Telefone in Beirut abschalten konnten... Dann würden sie herausfinden, dass weder die Libanesen noch die Syrer dazu in der Lage sind."
Angesichts derartiger Unschuldsbeteuerungen fragen sich Beobachter, warum die Syrer nicht versucht haben, den "wahren Schuldigen" zu finden. Statt den Libanesen und Mehlis das Feld zu überlassen, hätten sie selbst recherchieren und aufdecken können, wer Hariri umgebracht hat. Erst vor eineinhalb Monaten – nach Erscheinen des ersten Mehlisberichts – beauftragte Syrien seine obersten Staatsanwälte damit, im Mordfall Hariri zu ermitteln. Ayman Abdel Nur hält die beauftragten Kommissionsmitglieder jedoch für unglaubwürdig.
"Was erwartest du von ihnen? Um in eine solche Position zu kommen, brauchen sie die Zustimmung der Baathpartei und der Geheimdienste. Wie sollen sie also gegen Leute recherchieren, denen sie ihre Posten zu verdanken haben?"
Die syrischen Ermittler bemühten sich folglich vor allem darum, die internationale Untersuchung zu diskreditieren. Mit einigem Erfolg. Ende November gelang den Syrern ein großer Coup, sie enttarnten einen der beiden Hauptzeugen des ersten Berichts: Houssam Taher Houssam, einen ehemaligen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes im Libanon.
In einer spektakulären Pressekonferenz in Damaskus beschrieb Houssam, wie libanesische Politiker und Mitglieder der Hariri-Familie ihn bestochen hätten. 1,3 Millionen Dollar und eine neue Existenz in Frankreich inklusive plastisch-chirurgischer Gesichtsveränderung seien ihm für seine Aussagen angeboten worden. Vor allem Maher Al Assad, den Bruder des Präsidenten, und seinen Schwager Asef Schaukat sollte er belasten, versicherte Houssam. So detailreich der Kurde zuvor den UNO-Ermittlern über konspirative Treffen im Palast des syrischen Präsidenten berichtet hatte, so spannend erzählte er jetzt von Plastiktüten voller Geld. Der überzeugende Auftritt eines professionellen Lügners, urteilt Politologe Landis.
"Er war unwiderstehlich. Er war gut vorbereitet, hat keinen Moment gezögert und alle Fragen der Journalisten beantwortet. Er war attraktiv und eloquent, und vielen Syrern erschien er glaubwürdig, zumindest am ersten Tag. Das war ein kleiner Triumph für Syrien."
Mehlis bezeichnete die Vorstellung in Damaskus als erbärmliche Propaganda. Houssam habe seine Aussagen aus Angst vor dem syrischen Geheimdienst widerrufen. Dennoch hatte der deutsche Chefermittler ein Problem: Einer seiner beiden Hauptbelastungszeugen war unglaubwürdig geworden. Denn egal wann und wo Houssam die Wahrheit gesagt hatte – im Libanon oder in Syrien – auf eine so windige Gestalt konnte sich keine Anklage stützen. Damit nicht genug. Mehlis´ zweiter wichtiger Zeuge, Mohammed Zuheir Al Saddiq, sitzt in Paris in Untersuchungshaft. Er outete sich vor zwei Monaten als Mitwisser des Hariri-Mordes und wurde so vom Zeugen zum Verdächtigen. Alles in allem kein leichter Job für den Berliner Oberstaatsanwalt. Zu den komplizierten Ermittlungen kamen persönliche Anfeindungen. In Syrien ist Mehlis zum Symbol einer ausländischen Verschwörung geworden.
Vier bis fünfmal am Tag läuft im syrischen Radiosender Al Madina FM der Mehlis-Song: "Dein Bericht will vertreiben, töten und verhaften, Mehlis! Das ist ein von langer Hand geplantes Spiel", heißt es darin. Kein Meisterwerk, eher plumpe Meinungsmache für das Volk. Syriens Intellektuelle zeigen sich davon unbeeindruckt, sie stilisieren Mehlis zum Helden: Schließlich könnte dem Deutschen gelingen, was Syriens Opposition aus eigener Kraft nicht schafft, meint Abdel Razaq Eid: die Demokratisierung des Landes.
"Mehlis ist ein Held, genau. Eines Tages werden wir ihm ein Denkmal errichten... (lacht). Es ist unmöglich, dass alle 150 Ermittler, die mit Mehlis arbeiten, vom amerikanischen Geheimdienst bezahlt werden. Das ist dummes Geschwätz. Mehlis hat seinen Bericht eingereicht, und was die UNO damit macht, ist nicht mehr seine Sache."
Fest steht, dass die Arbeit der UNO-Kommission weitergeht – allerdings ohne Mehlis. Der Staatsanwalt will Ende des Jahres aufhören und nach Berlin zurückkehren, offensichtlich aus persönlichen Gründen. Er habe von vornherein angekündigt, nur für sechs Monate zur Verfügung zu stehen, so Mehlis. Joshua Landis sieht in dem Personalwechsel eine Chance.
"Dadurch, dass Mehlis geht und den Weg für jemand anderen frei macht, entspannt sich erst mal die Lage. Syrien ist jetzt wieder mit der internationalen Gemeinschaft und der UNO konfrontiert. Sie können nicht mehr sagen, oh, der böse Mehlis ist Schuld, der uns nur terrorisieren soll. Für das syrische Regime ist der Personalwechsel nicht unbedingt gut, denn der Neue will sich einen Namen machen und wird entsprechend hart sein."
Syrien wird weiterhin versuchen, auf Zeit zu spielen, sagt Landis. Damaskus werde mit den UNO-Ermittlern gerade so viel zusammenarbeiten, dass es keinen Ärger bekommt. Der internationalen Gemeinschaft kann das letztlich recht sein, meint der Amerikaner. Auch sie profitiere davon, wenn sich die Ermittlungen im Mordfall Hariri möglichst lange hinziehen.
"Es ist im Interesse des Westens, den Fall am Laufen zu halten und ihn dazu zu benutzen, Syrien unter Druck zu setzen. Auf diese Weise stellen sie sicher, dass Bashar sich benimmt, denn wann immer er einen Fehler macht, können sie ihm drohen. Syrien muss das Spiel nur zweieinhalb Jahre überleben bis Bush das Weiße Haus verlässt und Washington Syrien vergisst. Vielleicht sind die USA dann nicht mehr so auf die arabische Welt fixiert, sondern interessieren sich stattdessen für China oder Indien, wer weiß."
Der wachsende Druck auf das Regime mag im Sinne des Westens sein, für die Syrer ist er eine Katastrophe, sagt Ministerin Bouthaina Shaaban. Denn die außenpolitische Krise bremse den innenpolitischen Reformprozess.
"Statt morgens aufzuwachen und über meine Reformpläne und eine bessere Zukunft nachzudenken, wache ich auf und mache mir Sorgen um die Sicherheit meines Landes. Wir brauchen Leute, die uns unterstützen, nicht Leute, die uns bedrohen."
Der Westen wird Syrien dennoch weiter isolieren. Nach den neuen Anschuldigungen scheinen Sanktionen absehbar. Konten einzelner Regimevertreter könnten eingefroren und der Flugverkehr nach Damaskus eingestellt werden. Die Europäer könnten ihre Botschafter abziehen, Investitionen und Entwicklungsprojekte stoppen. Ein Wirtschaftsembargo wie im Irak erscheint allerdings unwahrscheinlich, sagt Joshua Landis, der grundsätzlich wenig von Sanktionen hält.
"Entweder sind die Sanktionen nur gegen Vertreter des Regimes gerichtet – was nicht viel bringen wird: Ihre Konten einzufrieren wird sie zwar nerven, aber nicht ihr Verhalten ändern, denn sie haben genug Geld im Land. Oder es werden härtere Sanktionen verhängt. Dann bezahlen die Syrer den Preis, die Armutsrate steigt von 30 auf 50 Prozent, und Babys verhungern, wie im Irak. Aber ich glaube, das will in Wirklichkeit niemand. Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei, Russland – sie haben alle schon gesagt, dass sie das nicht wollen, und sie können es verhindern."
Der Nahe Osten hat schon genug Probleme. Umgeben von Krieg und Gewalt wirkt Syrien wie ein Hort des Friedens und der Stabilität. Keine größeren Terroranschläge, keine islamistischen Aktivitäten, keine Angriffe auf Israel, stattdessen ein säkulares Regime mit einem netten Diktator. Das will niemand aufs Spiel setzen – selbst die Amerikaner nicht, meint Nahostexperte Landis. Statt das Regime zu zerstören, wolle Washington es deshalb nur schwächen und dadurch gefügig machen.
"Die ganze Region scheint auseinander zu brechen: Anschläge in Jordanien, Irak versinkt im Chaos, die Muslimbrüder gewinnen in Ägypten. Alle regionalen Mächte – Saudi-Arabien, Türkei, sogar Israel – sagen: Wir haben kein Problem mit den Assads. Wir wollen nicht noch einen gescheiterten Staat, nicht noch mehr Chaos. Israels sicherste Außengrenze sind die Golanhöhen. Die Türkei freut sich, dass Syrien seine Kurden unter Kontrolle hat. Sie alle sagen: Reißt ihnen die Fingernägel aus, schneidet ihnen die Hände ab und wir sind glücklich mit den Syrern, wir mögen sie."
Für das Assad-Regime bedeutet das eine weitere Chance. Detlev Mehlis meint, es könne noch Monate oder Jahre dauern, bis der Fall Hariri abgeschlossen ist. Die Machthaber in Damaskus müssen also nur durchhalten. Nach welcher Parole, ist klar: Zugeständnisse nach außen, schleichende Reformen im Innern. Im Irak, im Libanon und im Umgang mit palästinensischen Gruppen werden die Syrer guten Willen zeigen, die eigenen Leute werden sie mit wirtschaftlichen Reformen ruhigstellen. So kann es erst mal weitergehen – einen langen Atem beweist das syrische Regime ja bereits seit 35 Jahren.
"Wir sind hier, um gegen den ausländischen Druck zu demonstrieren – selbst wenn Syrer in den Mord an Hariri verwickelt sind. Die Amerikaner benutzen das Thema Hariri für ihre eigenen Ziele. Sie wollen Syriens Einfluss im Nahen Osten untergraben."
Auslöser der Proteste ist ein Deutscher: Detlev Mehlis, Oberstaatsanwalt aus Berlin. Im Auftrag der UNO untersuchte er den Mord an dem ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Al Hariri. Am 14. Februar waren Hariri und 22 andere bei einem Anschlag in Beirut gestorben, Mitte Juni begann Mehlis seine Untersuchung. Heute stellte er dem Weltsicherheitsrat seinen Abschlussbericht vor, der in Wirklichkeit ein Zwischenbericht ist, denn die Ermittlungen gehen weiter. Das Dokument enthält schwere Anschuldigungen gegen das syrische Regime. Insgesamt 19 Syrer und Libanesen stehen im Verdacht, den Mord geplant zu haben, darunter führende Vertreter des syrischen Sicherheitsapparates. Außerdem habe Damaskus nicht vollständig mit der UNO-Kommission kooperiert und versucht, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. Jetzt könnte der Weltsicherheitsrat Sanktionen gegen Syrien verhängen. Denn bereits nach dem ersten Mehlis-Bericht im Oktober hatte das Gremium eine Resolution verabschiedet, die von Damaskus bedingungslose Zusammenarbeit fordert. Die jungen Leute am Rawda-Platz fühlen sich davon persönlich bedroht. Auch der 21jährige Youssef.
"Ich verteidige keine Partei oder Person, ich verteidige 18 Millionen Syrer. Oder lass' es acht Millionen sein, acht Millionen junge Leute, deren Zukunft auf dem Spiel steht, die studieren, arbeiten und etwas werden wollen. Es ist eine Schande und es ist ungerecht, sie daran zu hindern."
Youssef fürchtet, die internationale Gemeinschaft könnte Syrien isolieren wie einst den Irak. Und er steht mit seinen Ängsten nicht alleine. Eine Solidaritätswelle hat das Land erfasst: Ärzte, Lehrer, Parlamentarier, sogar Journalisten gehen auf die Straße – für Syrien und Präsident Bashar Al Assad. Die meisten dieser Aktionen sind Teil einer PR-Kampagne der Regierung, sagt Joshua Landis, ein in Damaskus lebender amerikanischer Politologe. So wie US-Präsident George Bush sein Volk auf den Irakkrieg eingeschworen habe, mobilisiere Damaskus seine Leute gegen die Angriffe von außen. Das Spiel mit der Angst funktioniere überall, so Landis.
"Die Regierung benutzt diese Angst sehr geschickt, indem sie die Leute ständig daran erinnert: Wir könnten wie der Irak enden, es könnte Chaos ausbrechen, sie wollen unsere nationale Einheit zerstören. Die Leute glauben das, weil es wahrscheinlich stimmt. Wenn Syrien kollabiert, könnte das Land auseinander brechen wie der Irak oder der Libanon im Bürgerkrieg – dafür braucht es keine Fantasie, das ist sehr wahrscheinlich."
Auch Kritiker des Regimes sind deshalb vorsichtiger geworden. Allein die Vorstellung, dass in Syrien Muslime gegen Christen, Araber gegen Kurden und Alawiten gegen Ismaeliten kämpfen könnten, bereitet den Oppositionellen Bauchschmerzen. Da ist ein Diktator wie Bashar Al Assad noch das geringere Übel, sagt der syrische Intellektuelle Abdel Razaq Eid. Nach 40 Jahren Baathideologie brauche das Land eine schrittweise Demokratisierung, keinen plötzlichen Regimewechsel von außen. Die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses zum Fall Hariri könnten dennoch hilfreich sein, meint Eid.
"Wir hoffen, dass durch den Mehlisbericht der Geheimdienstapparat zusammenbricht und dass Bashar Al Assad gezwungen wird, sich für Demokratie und Reformen einzusetzen. So wie die Festnahmen der vier libanesischen Generäle nach dem Mord an Hariri die Macht der Geheimdienste im Libanon gebrochen haben, so hoffen wir, dass auch die Macht des syrischen Sicherheitsapparates gebrochen wird."
Eids Hoffnung könnte sich durchaus erfüllen. In seinem Bericht fordert Mehlis die syrische Regierung auf, alle Verdächtigen zu verhaften. Darunter sind auch zwei bekannte Generäle: Rustom Ghazale, der Chef des syrischen Militärgeheimdienstes im Libanon zum Zeitpunkt des Hariri-Anschlags, und Jamea Jamea, der Leiter der Geheimdienstzentrale in Beirut. Anscheinend hat Mehlis genug Beweise gesammelt, um sie vor Gericht zu stellen. Die Frage ist nur, vor welches? Noch fehlt der juristische Rahmen für einen Prozeß gegen die Angeklagten – und das erschwert die Ermittlungen. Denn solange ein Verdächtiger nicht weiß, wo er landet – ob vor einem syrischen Militärgericht oder vor dem Internationalen Tribunal in Den Haag – wird er wohl kaum alles sagen, was er weiß. Sowohl Detlev Mehlis als auch die libanesische Regierung befürworten deshalb, die Angelegenheit vor einem internationalen Gericht zu verhandeln. Nahostexperte Landis.
"Die Libanesen wollen nicht, dass das Ganze auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Sie wollen den Prozess ins Ausland verlegen, denn sie leiden ohnehin schon unter den schlechten Beziehungen zu Syrien. Nicht Libanon, sondern die internationale Gemeinschaft soll die treibende Kraft hinter dem Prozess sein. Damit nicht Libanon gegen Syrien kämpft, sondern die internationale Gemeinschaft."
Schon jetzt ist das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn angespannt. Auf rhetorische Frontalangriffe gegen einzelne Politiker folgen stets versöhnliche Worte. Selbst Saad Al Hariri, der Sohn des Ermordeten, erklärte kürzlich, es gebe kein Problem mit der syrischen Regierung, sondern nur mit den Mördern seines Vaters. Mehlis´ erster Bericht hatte sowohl den Bruder als auch den Schwager des syrischen Präsidenten Bashar al Assad verdächtigt, an dem Mordkomplott beteiligt gewesen zu sein. Aber keiner der beiden wurde anschließend noch mal vernommen. Die UNO-Ermittler hatten darauf bestanden, syrische Zeugen im Ausland zu verhören, erst nach wochenlangen Diskussionen einigte man sich schließlich auf Wien. Statt der zunächst angefragten sechs Syrer fuhren vergangene Woche jedoch nur fünf nach Österreich – darunter Geheimdienstler unterschiedlichen Ranges. Wer fehlte, war Asef Schaukat, der Schwager des Präsidenten. Joshua Landis vermutet dahinter einen Deal zwischen Assad und der UNO.
"Sie haben sich darauf geeinigt, dass niemand aus der engsten Familie des Präsidenten nach Wien fährt. Die Syrer waren erleichtert und gehen jetzt davon aus, dass sie mit ein paar Generälen aus der Geschichte rauskommen, die nicht zum engsten Machtzirkel gehören. Das wird sich zwar negativ auf Syrien auswirken, aber nicht unmittelbar auf die Familie des Präsidenten. Die Syrer denken, dass Mehlis sich nun nicht mehr für Asef Shaukat interessiert. Aber das war nicht Teil des Deals. Die große Frage ist deshalb: Wird es einen erneuten Angriff auf die Familie des Präsidenten geben und damit auf die eigentliche Führung des Landes?"
Es scheint so. Mehlis kündigte an, Asef Shaukat erneut verhören zu wollen. Sollten die UNO-Ermittler anschließend seine Verhaftung fordern und handfeste Beweise vorlegen, bliebe Bashar Al Assad nichts anderes übrig als Wort zu halten, meint Ayman Abdel Nur, ein syrischer Regimekritiker. In mehreren Fernsehinterviews hatte der Präsident angekündigt, jeden Syrer, der an dem Hariri-Mord beteilt sei, vor Gericht zu stellen. Abdel Nur geht davon aus, dass Assad sich dann für sein Land und gegen die Familie entscheiden werde.
"Das ist keine Familienahngelegenheit, sondern eine Staatsaffäre. Sein Vater hat viele Brüder und Cousins gefeuert. Sollte Bashar das auch tun, wird er die Unterstützung der Bevölkerung und insbesondere der Alawiten gewinnen."
Vor allem seine Landsleute, die in Syrien herrschende Minderheit der Alawiten, braucht Assad dringend, um an der Macht zu bleiben. Sämtliche Schlüsselpositionen in Militär und Geheimdiensten sind von Alawiten besetzt und nicht wenige von ihnen betrachten die jahrzehntelange Macht des Assad-Clans mit Argwohn. Schuldige nicht auszuliefern und die eigenen Familienmitglieder weiter aus der Schusslinie zu halten, ist deshalb ziemlich riskant, meint Regimekenner Abdel Nur. Zum Druck von außen könne dann auch noch Druck von innen kommen. Youssef, der Demonstrant am Rawda-Platz, scheint ihm Recht zu geben.
"Wenn es ein Syrer war, dann sollte nicht das ganze Volk den Preis dafür bezahlen, sondern der, der Hariri getötet hat. Angenommen es waren zwei oder drei, oder lass' es zehn sein. Wegen dieser zehn sollen 18 Millionen Syrer leiden? Das ist unlogisch."
Nach wie vor besteht die syrische Regierung darauf, nichts mit dem Mord zu tun zu haben. Ministerin Bouthaina Shaaban zeigt sich fest von der Unschuld der Syrer überzeugt. Syrien hat nicht das technische Knowhow für einen solchen Anschlag, sagt Shaaban. Aber muss der zuständige syrische Geheimdienst nicht davon gewusst haben?
"Ich weiß nicht, wer davon wusste und wer nicht. Aber es ist unmöglich, dass Syrien so einen Anschlag verübt. Würde sich die Untersuchung mehr um die technischen Details kümmern: den Sprengstoff, die Technologie, ob es eine Rakete war, wie sie alle Telefone in Beirut abschalten konnten... Dann würden sie herausfinden, dass weder die Libanesen noch die Syrer dazu in der Lage sind."
Angesichts derartiger Unschuldsbeteuerungen fragen sich Beobachter, warum die Syrer nicht versucht haben, den "wahren Schuldigen" zu finden. Statt den Libanesen und Mehlis das Feld zu überlassen, hätten sie selbst recherchieren und aufdecken können, wer Hariri umgebracht hat. Erst vor eineinhalb Monaten – nach Erscheinen des ersten Mehlisberichts – beauftragte Syrien seine obersten Staatsanwälte damit, im Mordfall Hariri zu ermitteln. Ayman Abdel Nur hält die beauftragten Kommissionsmitglieder jedoch für unglaubwürdig.
"Was erwartest du von ihnen? Um in eine solche Position zu kommen, brauchen sie die Zustimmung der Baathpartei und der Geheimdienste. Wie sollen sie also gegen Leute recherchieren, denen sie ihre Posten zu verdanken haben?"
Die syrischen Ermittler bemühten sich folglich vor allem darum, die internationale Untersuchung zu diskreditieren. Mit einigem Erfolg. Ende November gelang den Syrern ein großer Coup, sie enttarnten einen der beiden Hauptzeugen des ersten Berichts: Houssam Taher Houssam, einen ehemaligen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes im Libanon.
In einer spektakulären Pressekonferenz in Damaskus beschrieb Houssam, wie libanesische Politiker und Mitglieder der Hariri-Familie ihn bestochen hätten. 1,3 Millionen Dollar und eine neue Existenz in Frankreich inklusive plastisch-chirurgischer Gesichtsveränderung seien ihm für seine Aussagen angeboten worden. Vor allem Maher Al Assad, den Bruder des Präsidenten, und seinen Schwager Asef Schaukat sollte er belasten, versicherte Houssam. So detailreich der Kurde zuvor den UNO-Ermittlern über konspirative Treffen im Palast des syrischen Präsidenten berichtet hatte, so spannend erzählte er jetzt von Plastiktüten voller Geld. Der überzeugende Auftritt eines professionellen Lügners, urteilt Politologe Landis.
"Er war unwiderstehlich. Er war gut vorbereitet, hat keinen Moment gezögert und alle Fragen der Journalisten beantwortet. Er war attraktiv und eloquent, und vielen Syrern erschien er glaubwürdig, zumindest am ersten Tag. Das war ein kleiner Triumph für Syrien."
Mehlis bezeichnete die Vorstellung in Damaskus als erbärmliche Propaganda. Houssam habe seine Aussagen aus Angst vor dem syrischen Geheimdienst widerrufen. Dennoch hatte der deutsche Chefermittler ein Problem: Einer seiner beiden Hauptbelastungszeugen war unglaubwürdig geworden. Denn egal wann und wo Houssam die Wahrheit gesagt hatte – im Libanon oder in Syrien – auf eine so windige Gestalt konnte sich keine Anklage stützen. Damit nicht genug. Mehlis´ zweiter wichtiger Zeuge, Mohammed Zuheir Al Saddiq, sitzt in Paris in Untersuchungshaft. Er outete sich vor zwei Monaten als Mitwisser des Hariri-Mordes und wurde so vom Zeugen zum Verdächtigen. Alles in allem kein leichter Job für den Berliner Oberstaatsanwalt. Zu den komplizierten Ermittlungen kamen persönliche Anfeindungen. In Syrien ist Mehlis zum Symbol einer ausländischen Verschwörung geworden.
Vier bis fünfmal am Tag läuft im syrischen Radiosender Al Madina FM der Mehlis-Song: "Dein Bericht will vertreiben, töten und verhaften, Mehlis! Das ist ein von langer Hand geplantes Spiel", heißt es darin. Kein Meisterwerk, eher plumpe Meinungsmache für das Volk. Syriens Intellektuelle zeigen sich davon unbeeindruckt, sie stilisieren Mehlis zum Helden: Schließlich könnte dem Deutschen gelingen, was Syriens Opposition aus eigener Kraft nicht schafft, meint Abdel Razaq Eid: die Demokratisierung des Landes.
"Mehlis ist ein Held, genau. Eines Tages werden wir ihm ein Denkmal errichten... (lacht). Es ist unmöglich, dass alle 150 Ermittler, die mit Mehlis arbeiten, vom amerikanischen Geheimdienst bezahlt werden. Das ist dummes Geschwätz. Mehlis hat seinen Bericht eingereicht, und was die UNO damit macht, ist nicht mehr seine Sache."
Fest steht, dass die Arbeit der UNO-Kommission weitergeht – allerdings ohne Mehlis. Der Staatsanwalt will Ende des Jahres aufhören und nach Berlin zurückkehren, offensichtlich aus persönlichen Gründen. Er habe von vornherein angekündigt, nur für sechs Monate zur Verfügung zu stehen, so Mehlis. Joshua Landis sieht in dem Personalwechsel eine Chance.
"Dadurch, dass Mehlis geht und den Weg für jemand anderen frei macht, entspannt sich erst mal die Lage. Syrien ist jetzt wieder mit der internationalen Gemeinschaft und der UNO konfrontiert. Sie können nicht mehr sagen, oh, der böse Mehlis ist Schuld, der uns nur terrorisieren soll. Für das syrische Regime ist der Personalwechsel nicht unbedingt gut, denn der Neue will sich einen Namen machen und wird entsprechend hart sein."
Syrien wird weiterhin versuchen, auf Zeit zu spielen, sagt Landis. Damaskus werde mit den UNO-Ermittlern gerade so viel zusammenarbeiten, dass es keinen Ärger bekommt. Der internationalen Gemeinschaft kann das letztlich recht sein, meint der Amerikaner. Auch sie profitiere davon, wenn sich die Ermittlungen im Mordfall Hariri möglichst lange hinziehen.
"Es ist im Interesse des Westens, den Fall am Laufen zu halten und ihn dazu zu benutzen, Syrien unter Druck zu setzen. Auf diese Weise stellen sie sicher, dass Bashar sich benimmt, denn wann immer er einen Fehler macht, können sie ihm drohen. Syrien muss das Spiel nur zweieinhalb Jahre überleben bis Bush das Weiße Haus verlässt und Washington Syrien vergisst. Vielleicht sind die USA dann nicht mehr so auf die arabische Welt fixiert, sondern interessieren sich stattdessen für China oder Indien, wer weiß."
Der wachsende Druck auf das Regime mag im Sinne des Westens sein, für die Syrer ist er eine Katastrophe, sagt Ministerin Bouthaina Shaaban. Denn die außenpolitische Krise bremse den innenpolitischen Reformprozess.
"Statt morgens aufzuwachen und über meine Reformpläne und eine bessere Zukunft nachzudenken, wache ich auf und mache mir Sorgen um die Sicherheit meines Landes. Wir brauchen Leute, die uns unterstützen, nicht Leute, die uns bedrohen."
Der Westen wird Syrien dennoch weiter isolieren. Nach den neuen Anschuldigungen scheinen Sanktionen absehbar. Konten einzelner Regimevertreter könnten eingefroren und der Flugverkehr nach Damaskus eingestellt werden. Die Europäer könnten ihre Botschafter abziehen, Investitionen und Entwicklungsprojekte stoppen. Ein Wirtschaftsembargo wie im Irak erscheint allerdings unwahrscheinlich, sagt Joshua Landis, der grundsätzlich wenig von Sanktionen hält.
"Entweder sind die Sanktionen nur gegen Vertreter des Regimes gerichtet – was nicht viel bringen wird: Ihre Konten einzufrieren wird sie zwar nerven, aber nicht ihr Verhalten ändern, denn sie haben genug Geld im Land. Oder es werden härtere Sanktionen verhängt. Dann bezahlen die Syrer den Preis, die Armutsrate steigt von 30 auf 50 Prozent, und Babys verhungern, wie im Irak. Aber ich glaube, das will in Wirklichkeit niemand. Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei, Russland – sie haben alle schon gesagt, dass sie das nicht wollen, und sie können es verhindern."
Der Nahe Osten hat schon genug Probleme. Umgeben von Krieg und Gewalt wirkt Syrien wie ein Hort des Friedens und der Stabilität. Keine größeren Terroranschläge, keine islamistischen Aktivitäten, keine Angriffe auf Israel, stattdessen ein säkulares Regime mit einem netten Diktator. Das will niemand aufs Spiel setzen – selbst die Amerikaner nicht, meint Nahostexperte Landis. Statt das Regime zu zerstören, wolle Washington es deshalb nur schwächen und dadurch gefügig machen.
"Die ganze Region scheint auseinander zu brechen: Anschläge in Jordanien, Irak versinkt im Chaos, die Muslimbrüder gewinnen in Ägypten. Alle regionalen Mächte – Saudi-Arabien, Türkei, sogar Israel – sagen: Wir haben kein Problem mit den Assads. Wir wollen nicht noch einen gescheiterten Staat, nicht noch mehr Chaos. Israels sicherste Außengrenze sind die Golanhöhen. Die Türkei freut sich, dass Syrien seine Kurden unter Kontrolle hat. Sie alle sagen: Reißt ihnen die Fingernägel aus, schneidet ihnen die Hände ab und wir sind glücklich mit den Syrern, wir mögen sie."
Für das Assad-Regime bedeutet das eine weitere Chance. Detlev Mehlis meint, es könne noch Monate oder Jahre dauern, bis der Fall Hariri abgeschlossen ist. Die Machthaber in Damaskus müssen also nur durchhalten. Nach welcher Parole, ist klar: Zugeständnisse nach außen, schleichende Reformen im Innern. Im Irak, im Libanon und im Umgang mit palästinensischen Gruppen werden die Syrer guten Willen zeigen, die eigenen Leute werden sie mit wirtschaftlichen Reformen ruhigstellen. So kann es erst mal weitergehen – einen langen Atem beweist das syrische Regime ja bereits seit 35 Jahren.