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Stunde Null im Boden

Eine dicke Schicht Ton, darauf ein paar Meter hoch toter Sand. So wurde in einem ehemaligen Tagebau bei Cottbus vor ein paar Jahren ein künstlicher Tafelberg aufgeschüttet. Aus dem entwickelt sich seitdem ohne menschliche Einflüsse eine Urlandschaft.

Von Rainer B. Langen | 15.05.2011
    "Es ist, wenn man so will, ein furchtbar einfaches System. Es ist eine Schüssel, die wir in die Landschaft gestellt haben, wir haben ein bisschen Sand reingetan, und jetzt regnet es."

    "Es war eine ansonsten ziemlich wüste Sandfläche, auf der eigentlich so gut wie nichts wuchs. Das hat sich dann allerdings sehr schnell geändert. Die ersten Arten waren schon im nächsten Jahr da und das hat dann letztlich auch die Vegetationsuntersuchung gezeigt, die ist dann explosionsartig weiter fortgeschritten."

    Im ehemaligen Tagebaugelände südwestlich von Cottbus sieht es aus wie auf einer Modellbahnanlage, bei der die Landschaft noch nicht fertig aufgebaut ist: Hier ein paar Reihen Bäumchen, wie mit dem Lineal aufgerichtet, dort ein Stück Grünland, das wie ein Teppich auf die Brache gezogen scheint. Es ist Rekultivierungsgebiet. Nach ein paar Kilometern Fahrt taucht in der Ferne ein Tafelberg auf. Wie eine Insel ragt er empor: ein paar Hundert Meter lang, gut zehn Meter hoch. Den hat die Bergbaufirma mit ihren riesigen Baggern aufgeschüttet: Eine dicke Tonschicht und dann drei bis vier Meter Sand darauf, dann glattgezogen und eingezäunt. Und an die Wissenschaft übergeben.

    Dort wird nichts rekultiviert, nichts angepflanzt. Dort wächst, was von alleine kommt. Und die Landschaft entwickelt sich, wie Wind und Wetter sie formen. Und 70 Wissenschaftler aus 12 Disziplinen gucken, was passiert. Die Forscher können beobachten, wie sich ein neuer Lebensraum von der Stunde Null an entwickelt. Gerade über die allerersten Anfänge bei der Entstehung von Landschaften und Ökosystem wissen sie noch viel zu wenig. Ökologen zum Beispiel. Sie würden gerne viel besser verstehen, nach welcher inneren Logik sich Ökosysteme aufbauen und wie sie funktionieren, sagt der Präsident der Gesellschaft für Ökologie, der Gießener Biologe Professor Volkmar Wolters:

    "Wir haben keine wirklichen guten Erkenntnisse über Regeln, die ganz am Anfang solcher Ökosystementwicklungen stehen."

    Die Regeln brauchen sie aber, um Vorhersagen zu treffen.

    "Ökologen müssen mehr und mehr die Frage beantworten: Was wird passieren, wenn sich Ökosysteme verändern, also in die Zukunft hinein Prognosen abgeben, sagen 'das könnte passieren'. Sie müssen aber in dem Kontext vielleicht dann auch gleich mitsagen, was können wir überhaupt tun, damit bestimmte Entwicklungen nicht eintreten."

    Solches Wissen würde zum Beispiel bei Umweltkatastrophen nützen. Ökologen können damit Behörden und Helfern gezielte Empfehlungen geben, was zu tun ist. Wolters:

    "Und da muss man ganz einfach sagen: Dafür braucht man Regeln, um solche Prognosen treffen zu können. Man muss, ganz ähnlich wie Mathematiker auch, einen bestimmten Satz von Regeln haben, mit denen man extrapolieren kann, in die Zukunft hinein sehr verlässliche Aussagen treffen kann. Und diese Regeln haben wir nicht.""

    Solche Regeln wollen die Forscher unter anderem mithilfe der Versuchsfläche im ehemaligen Tagebau erkunden. Sie wollen detaillierter verstehen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Wasser- und Stoffkreisläufe, Lebensgemeinschaften von Bakterien, Pilzen, Pflanzen und Tieren sich gegenseitig beeinflussen, damit ein Ökosystem entsteht und funktioniert.

    In der Ökologie ist schon viel darüber bekannt, wie sich die Zusammensetzung von Tier- und Pflanzengesellschaften in Lebensräumen ändert, wenn der Mensch nicht eingreift: was zum Beispiel aus einem brachliegenden Acker wird, oder einer stillgelegten Kiesgrube. Solche Landschaften fangen jedoch nicht bei Null an: Bei ihnen entwickelt sich die Vegetation aus Samen, die lange im Boden geruht hatten. Und es gibt schon Nährstoffe für die Pflanzen.

    Aber, wie es funktioniert, wenn Bakterien und Pilze die Nährstoffe erst bilden müssen, wenn Wasser einer Landschaft zum ersten Mal eine Form gibt, wann und wie dann die ersten Pflanzen Fuß fassen, welche ihnen folgen, welche Tiere einwandern: Solche Fragen müssen Ökologen klären, wenn sie die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten aufdecken wollen, die der Entwicklung von Ökosystemen zugrunde liegen. Volkmar Wolters:

    "Ökosysteme passen nicht ins Reagenzglas, passen auch noch nicht in größere Glashäuser, Gewächshäuser, sondern wir brauchen wirklich Freilandlaboratorien, die so etwas untersuchen."

    Der Tafelberg im ehemaligen Tagebau ist ein Freilandlabor. Ein Labor im Landschaftsmaßstab, so groß wie acht Fußballfelder. Das letzte Stück Weg zum Versuchsgelände in der Lausitz führt über eine Brücke.

    "Da können Sie den Bach Hühnerwasser in Augenschein nehmen. Ich nehme an, dass er im Moment ganz gut Wasser führen sollte. Dieser Bach, der wird noch weitergeführt."

    Der Bach und das Versuchsgelände hängen zusammen. Der Tafelberg gibt sein Wasser an den Bach ab, erzählt Dr. Werner Gerwin von der Technischen Universität Cottbus. Das Versuchsgelände ist als künstliches Wassereinzugsgebiet angelegt, also als eine Landschaft, die einmal Wasser sammeln, speichern und dosiert abgeben soll. Eine steile Auffahrt führt zum Eingang des Geländes. Dort stellt Werner Gerwin den Wagen neben einem weißen Bürocontainer ab. Am Beginn des Experiments im Spätsommer 2005 muss es hier ziemlich trostlos ausgesehen haben:

    "Es war eine zwar planierte, aber ansonsten ziemlich wüste Sandfläche, auf der eigentlich so gut wie nichts wuchs.""

    Aber jetzt gibt es hier am Eingang zum Versuchsgelände kaum einen Fleck ohne Vegetation. Sanddornsträucher und Robinien ragen an einigen Stellen übermannshoch aus dem Boden. An vielen Stellen leuchten die gelben Blüten des Huflattichs. Und kleine Tiere huschen über den Boden. Gerwins Kollege Michael Elmer hat welche entdeckt, die kaum so groß sind wie zwei Stecknadelköpfe:

    "Hier vorne läuft ein kleiner Laufkäfer, ein kleiner schwarzer, der Gattung Bembidion, gerne an feuchten Stellen zu finden, daneben auch eine kleine Spinne."

    Kein Zweifel: Das Leben hat von der künstlichen Landschaft Besitz ergriffen. Aber bei der Entwicklung einer Landschaft kommt es nicht nur auf Pflanzen und Tiere an. Die waren ganz am Anfang noch nicht da. Das Wetter veränderte die Landschaft vom ersten Tag an. Dabei gab es gleich zu Beginn schon Überraschungen. Das bekamen Hydrologen zu spüren, Spezialisten für den Wasserhaushalt in einer Landschaft. Sie berechnen unter anderem mit Computermodellen voraus, wie sich Wasser in einem Gebiet verteilen müsste. Aber diese Modelle sind theoretische Annahmen. An dem Versuchsgelände in der Lausitz Cottbus konnten die Hydrologen prüfen, ob ihre Theorien sich mit der Wirklichkeit decken, erzählt Projektleiter Professor Reinhard Hüttl von der Universität Cottbus.

    "Wir haben die besten Hydrologen der Welt gefragt, ob sie bereit sind, zu kommen, um ihre Modelle laufen zu lassen. Es ist ja, wenn man so will, ein furchtbar einfaches System. Es ist eine Schüssel, die wir in die Landschaft gestellt haben, wir haben ein bisschen Sand reingetan, und jetzt regnet es. Und von den weltweit führenden Hydrologen hat keines der Modelle wirklich exakt das wiedergegeben, was wir messen."

    Das Wasser geht ganz andere Wege als die Experten vorausberechnet hatten, erläutert Professor Uwe Grünewald von der Universität Cottbus. Er leitet dort den Lehrstuhl für Hydrologie und Wasserwirtschaft.

    "Wir hatten zum Beispiel gedacht, dass viel mehr Wasser in den Untergrund hineingeht. Jetzt ist es aber so, dass aus diesem schönen glatten Sandhaufen eigentlich eine sehr strukturierte, erosionsrinnengeprägte, Oberfläche entstanden ist."

    Womit einige Hydrologen nicht gerechnet hatten: Zum Beispiel bildete sich ganz oben auf dem Sand eine feste Kruste, über die das Wasser weiter rann, anstatt zu versickern. Und im Boden gab es noch keine Wurzeln, an denen entlang das Wasser schnell hätte nach unten gelangen können. Grünewald:

    "Wir sehen, dass der Grundwasserspiegel langsamer ansteigt als wir ursprünglich erwartet hatten und wir sehen auch, wie sich das Wasser im Untergrund ganz anders verteilt als wir ursprünglich erwartet hatten."

    Dass die Vorhersagen der Hydrologen daneben lagen, ist nicht nur ein wissenschaftliches Problem. Denn Modellrechnungen werden heute schon für wichtige hydrologische Prognosen genutzt, erläutert Professor Jan Vanderborght. Er untersucht am Forschungszentrum Jülich Wasserbewegungen und Stofftransport im Boden.

    "Mit diesen Modellen wird zum Beispiel vorhergesagt, wie viel Chemikalien aus dem Boden auswaschen und gegebenenfalls zu einer Gefährdung der Grundwasserqualität führen."

    Ob diese Vorhersagen dann auch eintreffen, wird oft allerdings nicht mehr überprüft. Denn dazu müsste man Jahrzehnte oder noch länger warten. Das macht die Überprüfung schwierig. Und meist erfahren die Gutachter gar nicht, ob sie richtig lagen. Das war bei der Sandschüssel in der Lausitz anders. Da konnten sie ziemlich schnell ihre Fehler erkennen und Lehren ziehen. Vanderborght:

    "Das Beispiel zeigt eigentlich, dass man Vorhersagen mit solchen Modellen doch mit Vorsicht genießen sollte."

    Das künstliche Wassereinzugsgebiet im Tagebau ist zerfurcht von tiefen Rinnen. Eine ist mannstief und so breit, dass ein Kleinwagen hineinpassen würde. Sie teilt sich in einem Schilfgürtel in Mäander auf, die in einen See am unteren Ende des Versuchsgeländes führen. Er ist etwa so groß wie zwei Fußballplätze. Werner Gerwin:

    "Dass soviel an der Oberfläche abfließt und damit der See beispielsweise innerhalb weniger Tage komplett gefüllt war und nicht, wie manche Modellierer angenommen hatten, nach einigen Jahren, das war sicherlich auch ein überraschender Aspekt."

    Die große Rinne, durch die Wasser dem See vor allem zufließt, ist 30, 40 Meter oberhalb der Mündung trocken. Hier strömt nur Wasser hindurch, wenn es regnet. Heute scheint die Sonne. Aber ein paar Meter weiter unten ist trotzdem ein leises Plätschern zu hören. In dem mächtigen Sandkörper haben sich Grundwasserreservoirs gebildet. Werner Gerwin zeigt auf ein Rinnsal in einem Bachbett:

    "Diese Rinne ist so tief eingeschnitten, dass hier die Grundwasseroberfläche berührt wird und damit Wasser austritt. Wir haben also hier sozusagen Quellen, die hier entstanden sind in dieser Rinne und in der dort drüben."

    Furchen, Bäche, Quellen, Rinnen: Das ist das, was man oberflächlich vom Wasserhaushalt in der künstlichen Landschaft sieht. Wo sich das Wasser unterirdisch sammelt, das bekommen die Hydrologen über ein dichtes Raster von Messeinrichtungen mit, die in den Boden ragen. Mit deren Daten füttern sie ihre Computer, damit hydrologische Vorhersagen in Zukunft besser werden. Hüttl:

    "Die Frage ist ja, wie können wir solche Systeme, solche Modelle übertragbar gestalten, damit wir sie beispielsweise bei der Klimaprognose auch hinreichend sicher einsetzen können und da nicht, ich sag mal etwas plakativ, mit Hausnummern operieren. Und das ist ein wesentliches Ziel, solche Modelle weiter zu entwickeln, dass sie eben eine bessere Vorhersage realisieren können."

    Es geht aber nicht nur um einzelne Modelle für die Hydrologie. Alle Disziplinen tragen ihre Daten bei, die sie hier erheben, seit im September 2005 die letzte Planierraupe abgezogen ist. Das war sozusagen die Stunde Null. Damals waren Rinnen im Sand nach den ersten Regengüssen die einzigen sichtbaren Veränderungen. Die Forscher haben mit Kunststoffplatten ein Wegenetz durch das Hühnerwasser-Gelände verlegt und es in 130 Rasterpunkte aufgeteilt. Alle sind mit einem Fähnchen nummeriert. Um jedes Fähnchen herum sind mit einer Art Zeltheringen Quadrate abgesteckt. Die nehmen sich Botaniker der Technischen Universität München einmal im Jahr vor. Sie halten genau fest, was dort wächst. Bis zum ersten Winter war von Leben auf der kargen Fläche nichts zu sehen. Gerwin:

    "Das hat sich dann allerdings sehr schnell geändert. Die ersten Arten waren dann schon im nächsten Jahr da und das hat dann letztlich auch die Vegetationsuntersuchung der Münchner Kollegen gezeigt, die ist dann explosionsartig weiter fortgeschritten."

    Die erste Pflanzenart im Frühjahr nach dem Start war das kanadische Berufkraut. Seine Samen werden über weite Strecken mit dem Wind verfrachtet. Drei Jahre nach dem Start hatten sich schon über 100 Pflanzenarten angesiedelt und jetzt sind es mehr als 130. Dass es so schnell so viele Arten wurden, hat selbst die Spezialisten überrascht. Gerwin:

    "Über 130 Arten: Das ist ausgesprochen viel, wenn man einen naturnahen Wald ansieht, da sind um Kategorien weniger Arten drin vertreten als jetzt hier im Moment auf dieser Fläche sind.""

    Inzwischen wehen viel mehr Pflanzensamen aus der Fläche hinaus als herein. In der Versuchsfläche breiten sich Pflanzen auch in den Bachrinnen aus. Sie besiedeln die flachen Uferseiten. Damit formen jetzt auch die Pflanzen die Bäche mit. Gerwin:

    "Das Wasser verliert seine Schleppkraft, wird durch die Vegetation hier so in dem oberen Bereich gehalten, es versickert auch mehr und auf die Art und Weise verändern sich die Rinnen auch."

    Die Hydrologen beobachten noch andere Einflüsse der Pflanzen auf den Wasserhaushalt, schildert der Hydrologe Uwe Grünewald:

    "Wir wissen zum Beispiel, wie sich das Wasser verhält, wenn keine Vegetation da ist. Wir sehen jetzt langsam, wie die Vegetation entsteht, wie dann plötzlich die Verdunstung eine ganz andere Rolle spielt - solange die Vegetation fehlte, war die Verdunstung relativ gering."

    In der Natur kommt es immer wieder vor, dass ein Ökosystem bei Null beginnt. Etwa nach Waldbränden oder einem Vulkanausbruch. In den sechziger Jahren ist im Nordatlantik sogar komplett neues Land aufgetaucht. Damals wuchs bei Island der Vulkan Surtsey buchstäblich aus dem Meer. Das war für die Forschung eine einmalige Gelegenheit. Als die Insel noch kein halbes Jahr alt war, gingen die ersten Geologen und Botaniker an Land. Sie durften nicht zu lange an einer Stelle stehen bleiben; sonst schmolzen ihre Schuhsohlen auf dem heißen Boden. Aber die Forscher gaben nicht auf. Es sollte noch mehr als ein Jahr dauern, bis sie das erste Pflänzchen auf Surtsey keimen sahen. Es war Meersenf. Bald siedelte sich Strandhafer an, dessen Wurzeln sich in den Sand krallten. Bis die ersten Tiere auftauchten, sollten noch an die zehn Jahre vergehen. Das waren dann Springschwänze. Diese winzigen Bodeninsekten waren vermutlich mit der Meeresströmung von anderen Inseln im Nordatlantik aus hier angeschwemmt worden. Richtig aufgeblüht ist das Leben auf Surtsey, als sich dann Mitte der 80er Jahre Brutvögel niederließen. Möwen schleppten mit dem Gefieder Pflanzensamen von Nachbarinseln ein und mit ihrem Kot brachten sie Pflanzennährstoffe auf die karge Insel. Jetzt grünt und blüht es genau da, wo die Vögel nisten.

    Für Ökologen sind solche jungen Lebensräume eine Fundgrube. Wo kommen die ersten Tiere und Pflanzen her? Wie setzen sie sich fest? Welche setzen sich durch? Und für wie lange? Wie Pflanzen in Industriebrachen Mauerritzen sprengen, in verbrannten Wäldern nach dem Feuer rasch die fruchtbare Asche überwuchern oder sich auf kalter Lava die ersten Pflanzen festkrallen, deren Samen Vögel oder der Wind herbeigetragen haben. Das wird an vielen Orten auf der Welt untersucht.
    Aber daraus lassen sich keine allgemeingültigen Regeln ableiten. Denn an jedem Standort herrschen andere Bedingungen. Und Forscher sind oft nicht ganz von Anfang dabei, um alles zu beobachten und zu messen, was eine Rolle spielen könnte.

    Das ist am Hühnerwasser anders. Hier war von Anfang an alles auf Beobachtung ausgelegt und mit vielen Messeinrichtungen versehen. Die Startbedingungen waren klar definiert. Das sind schon mal gute Voraussetzungen, um die Ergebnisse mit denen aus anderen jungen Landschaften zu vergleichen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Trotzdem kann so etwas immer noch schnell in die Irre führen, gibt der Mikrobiologe Professor Josef Zeyer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich zu bedenken. Er ist in die Forschungen in der Lausitz eingebunden:

    ""Dann stellt sich immer die Frage: Ist nun der Standort repräsentativ; können wir was lernen für andere Standorte oder ist das hier nur an diesem Standort gültig und wir können nichts lernen für vergleichbare Situationen. Deswegen ist es sehr wichtig, dass man andere Standorte mit einbezieht, um zu sehen, was man Allgemeingültiges erkennen kann.""

    Deswegen stellen die Forscher auch Untersuchungen in einem natürlichen Dünengebiet bei Cottbus und an einem Gletscher im Schweizer Kanton Uri an. Seit 70 Jahren weicht der Gletscher dort zurück und gibt Jahr für Jahr ein Stück neuen Bodens frei – wie unmittelbar nach der Eiszeit. Dort können sie prüfen, ob eine Beobachtung, die am Hühnerwasser aussieht wie eine Gesetzmäßigkeit, sich auch unter natürlichen Bedingungen wiederfindet. Bis jetzt haben die Forscher am Hühnerwasser mit dem Gletschervorfeld und der Düne bei Cottbus zwei sogenannte Vergleichsstandorte. Aber es sollen noch mehr werden. Vulkan-Ökosysteme auf Hawaii sind im Gespräch und Gletschervorfelder in Alaska. Je mehr Vergleichsmöglichkeiten, desto besser. Das alles, sagt Projektleiter Reinhard Hüttl, dient einem Ziel:

    "Dass wir sagen: Was sind denn jetzt die prinzipiellen, die wirklich relevanten Prozesse, die dann auch übertragbar sind, und welche Prozesse sind dann eben spezifisch für ein Gletscherrückzugsgebiet oder für vulkanische Böden oder Landschaften, die sich daraus entwickeln?"

    Zusammen mit Spezialisten vom Naturkundemuseum in Görlitz hat Michael Elmer im Gelände kleine Fallen für Tiere eingelassen, die auf dem Boden leben. Darin werden vor allem Insekten und Spinnen erfasst. Aber die Ökologen haben von Anfang an mit Bohrsonden auch nach Tieren gesucht, die im Boden leben.

    "Man kann sagen, dass die Besiedlung dieser Fläche praktisch mit dem Nullpunkt von Beginn an stattgefunden hat und die ersten Tiere dann auch schon dort waren, allerdings nur sehr sporadisch, im ersten Jahr, die ersten Bodentiere auch schon festgestellt werden konnten."

    Diese tierischen Pioniere im Boden waren winzige Insekten aus der Gruppe der Springschwänze und mikroskopisch kleine Fadenwürmer. Sie ernährten sich vor allem von den Bakterien und Pilzfäden im Boden. Zwei drei Jahre später waren die ersten Tiere nicht mehr alleine. Nicht nur die Zahl der Individuen hatte stark zugenommen, sondern auch die der Arten. Elmer:

    "Was die Zusammensetzung der Artengemeinschaften angeht, konnte man eben sehen, dass mit einer Zunahme der Vegetation auf der Fläche auch deutlich mehr Tiere vorhanden waren, die sich von Pflanzen ernähren.""

    Inzwischen haben sich die ersten Räuber angesiedelt. Es sind Raubmilben und Laufkäfer, die etwa Fadenwürmer und Springschwänze fressen. Jedes Detail, das die Forscher jetzt in der Anfangsphase beobachten, könnte wichtig sein für die spätere Entwicklung von Ökosystemen, erläutert Projektleiter Reinhard Hüttl:
    "Ich vergleiche das manchmal auch mit dem menschlichen Leben. Wenn man wirklich wissen will, es gibt einen Menschen, der hat etwas Schlimmes getan und dann fragt der Richter, warum er das getan hat, dann schaut man häufig auch zurück in die Kindheit. Das heißt, diese Initialphase prägt die weitere Entwicklung und das ist auch unsere Arbeitshypothese: Wir sagen, diese Initialphase, also das Ausgangsmaterial, so wie es nach der Eiszeit vorlag, von der Struktur, vor allem von der Konsistenz, von der Beschaffenheit und natürlich auch die Interaktion mit den Strukturen und die Prozesse, die da ablaufen vom Punkt null an, das ist sozusagen prägend für die weitere Entwicklung."

    Wenn die Daten dafür vorliegen, wie sich Ökosysteme von Anfang an entwickeln, können Wissenschaftler vielleicht erstmals die Komplexität von Ökosystemen begreifen, erläutert Volkmar Wolters, der Präsident der Gesellschaft für Ökologie:

    "Ich erwarte mir erst mal - da wir so was nie wirklich gemacht haben – Aufklärung über Dinge, die wir gar nicht so erwarten würden, weil einfach, wenn zwei Kugeln zusammenschlagen, wissen wir, was passiert, wenn drei Kugeln zusammenschlagen, vielleicht auch noch, aber wenn Tausende von Kugeln zusammenschlagen wie in Ökosystemen, also verschiedene Prozesse nebeneinander ablaufen, dann müssen wir damit rechnen, dass sich die Dinge auch Überraschungen in sich bergen."

    Die Wechselwirkungen in Ökosystemen seien viel komplexer als beim Klima, sagt Volkmar Wolters. Der Mensch kommt da ohne Hilfe nicht mehr mit. Forscher können die Zusammenhänge nur noch mit Hilfe von Computermodellen nachvollziehen.

    "Sie berücksichtigen die räumliche Heterogenität von Systemen, sie berücksichtigen die Unterschiede in zeitlichen Abläufen, was das menschliche Gehirn schlichtweg nicht kann."

    Die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Ökologie ist interdisziplinäre Grundlagenforschung. Aber einige Anwendungen liegen einfach auf der Hand. Josef Zeyer ist nicht um Beispiele verlegen. Er erzählt von der Düne, die die Forscher auf der Vergleichsfläche im Norden von Cottbus beobachten: Wie sich in diesem toten Sandhaufen eine sogenannte Sukzession entwickelt, das heißt, wie er nach und nach von Lebewesen besiedelt wird. In diesem Fall sind es Bakterien, Pilze und Algen, die die Düne nach und nach durchziehen und schließlich stabilisieren. Das könnte vor allem für trockene oder "aride" Regionen interessant sein.

    "Wenn Sie jetzt über Deutschland rausblicken und sich vorstellen, wie viele aride Zonen wir haben auf der Welt, ich rede von der Sahelzone, ich rede vom Westen der USA, ich rede vom Westen von China oder von Australien, da haben wir ja an und für sich ganz analoge Situationen und da ist es natürlich höchst willkommen, diese Sukzessionen, wenn möglich, auch zu steuern, sodass natürlich die ariden Zonen sich stabilisieren."

    Das heißt noch nicht, dass sich damit die Wüste in fruchtbares Ackerland verwandeln ließe.

    "Aber zumindest ist es lohnend, zu überlegen, wie man überhaupt die Verwüstung hemmen kann."

    Die gezielte Rekultivierung von verödetem Land, etwa nach einem Tagebau, wird in Deutschland seit vielen Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Aber vielleicht kann man mit den Erkenntnissen, die sich die Forscher vom Hühnerwasserprojekt erhoffen, der Natur besser helfen, in ein verödetes Gelände zurückzukehren. Zeyer:

    "Das denke ich durchaus. Wenn ich jetzt ein Besitzer so eines Standortes wäre, so hätte ich ja ein Interesse, dass nach dem Aufschütten der Wasserkreislauf sofort wieder funktioniert, dass die Grundwasserinfiltration funktioniert, dass wir keine allzugroße Erosion der brachliegenden Fläche haben, dass wir eine Nährstoffbilanz erreichen können, die auch den Aufbau von höheren Pflanzen erlaubt und das möchte ich ja eigentlich möglichst fördern."

    Auf dem Rückweg durch das ehemalige Tagebaugelände führt der Wege wieder über die Brücke mit dem Bach, der das Wasser von dem künstlichen Einzugsgebiet aufnimmt. Gerwin:

    "Im Moment versickert das hier. Aber der wird dann später in Richtung Spree weiterfliegen."

    Es wird eine ganz besondere Landschaft sein, aus der die Spree dann Wasser bekommt: buchstäblich eine Urlandschaft, in der sich Böden, Pflanzen und Tierwelt von ganz alleine ansiedeln und ungestört vom Menschen entwickeln. Eine paradoxe Urlandschaft. Denn sie wird viel jünger sein wird als der größte Teil ihrer Umgebung.