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Stures Warten auf den Gott der Gerechtigkeit

In Adigas historisch platziertem Werk herrschen die Ungerechtigkeiten des indischen Gesellschaftssystems - doch seine Figuren finden sich nicht ab mit ihrem Elend. "Mit der Welt stimmt etwas nicht", empört sich der Fahrradkuli Chenayya einmal, und dieser Satz ist Motto und Mantra der Geschichten zugleich.

Von Shirin Sojitrawalla | 18.08.2009
    Die Stadt Kittur liegt an Indiens Südwestküste, zwischen Goa und Calicut, etwa gleich weit von beiden Städten entfernt. Sie beherbergt rund 200.000 Einwohner und liegt im Bundesstaat Karnataka, Kannada ist die Amtssprache dort. Kittur weist ein für Indien typisches Religionsgemisch auf: Mehrheitlich leben Hindus dort, danach folgen Muslime, Christen, Jainisten, Parsen, Juden, Buddhisten. Lediglich 89 Bewohner geben an, keiner Religion anzugehören. Es gibt einen Markt, viele Tempel, einen prächtigen Bahnhof, ein katholisches Viertel mit Kathedrale, ausgesprochene Armen- wie Reichenviertel, eine quirlige Hauptstraße, ein YMCA, ein Pornokino und viele andere Kinos, ein Geschäftsviertel, einen Hafen, eine Highschool und alles sonst, was zu einer echten indischen Stadt gehören kann. Ausgedacht hat sich diese Stadt, die das Land im Kleinformat spiegelt, der 1974 geborene Schriftsteller Aravind Adiga, der im vergangenen Jahr für sein umwerfendes Debüt "Der weiße Tiger" vollkommen zu Recht mit dem "Man Booker Prize" ausgezeichnet wurde. Der Roman erschien mittlerweile in fast 40 Ländern der Welt. Darin beschreibt Adiga den unmoralischen Aufstieg eines gewitzten Unterschichtlers zum Millionär. Dienten ihm in seinem Debüt fiktive Briefe an den chinesischen Ministerpräsidenten als Rahmenhandlung, bettet er seinen neuen Geschichtenzyklus zwischen die Deckel eines Pseudoreiseführers. Jedes Kapitel beginnt er mit einer touristischen Beschreibung des jeweiligen Schauplatzes. Das erinnert an den fiktiven Reiseführer "Molwanien: Land des schadhaften Lächelns". Darin parodierten australische Witzbolde übliche Reiseführer, indem sie deren beschränkte Weltsicht karikierten. Weniger komisch und eher bemüht originell erweist sich allerdings Adigas Kniff, seine Geschichten im Gestus eines Stadtrundgangs zu präsentieren. Sein Erzähler spricht die Leser direkt an und empfiehlt all denjenigen, die Kittur besuchen möchten, einen Aufenthalt von mindestens einer Woche, und selbstverständlich führt das Buch genau sieben Tage lang durch die Stadt. Mit der Erfindung von Kittur mag Adiga aber auch dem indischen Schriftsteller R. K. Narayan seine Reverenz erweisen. Der 2001 gestorbene Autor zählt zu den populärsten Indiens, ist wie Adiga in Madras, dem heutigen Chennai, geboren und viele seiner Geschichten sind im fiktiven südindischen Ort Malgudi angesiedelt.

    "Zwischen den Attentaten" nennt Adiga sein neues Buch und begrenzt damit auch den Zeitraum, in dem es spielt, nämlich zwischen dem Attentat auf die indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi am 31. Oktober 1984 und dem Attentat auf ihren Nachfolger und Sohn, Rajiv Gandhi, am 21. Mai 1991. Im Gegensatz zu seinem Roman "Der weiße Tiger", der auch von den heillosen Grabenkämpfen der Globalisierung und einem mit der ganzen Welt vernetzten Indien erzählte, spielen die neuen Geschichten in einer Zeit, in der das Land noch ohne Coca-Cola, McDonalds und Co. auskam. An den wesentlichen Ungerechtigkeiten hat sich freilich seitdem nicht viel geändert, weswegen der von Adiga gewählte Zeitrahmen streng genommen auch keine größere Bedeutung für seine Geschichten hat.

    Für jedes Kapitel seines Buches schnappt sich Adiga eine Figur aus dem Bevölkerungsgewusel Kitturs, um an ihr ein Exempel zu statuieren. Heraus kommen kurze Erzählungen, Momentaufnahmen, Shortcuts aus einer Stadt, in der die Gegensätze sich so gar nicht anziehen wollen. Das Kastenwesen, die Klassengesellschaft, Arm und Reich, Korruption und Landflucht waren schon Themen seines Debüts. Auch in "Zwischen den Attentaten" stellt er seine Landsleute als wahre "Weltmeister" in den drei Disziplinen "Schwarzmarkt, Produktfälschung und Korruption" bloß. Doch diesmal umkreist er seine Themen in vielfältigen Variationen, indem er sich in verschiedene Milieus begibt und Figuren unterschiedlicher Kasten, Religionen und Generationen zu Wort kommen lässt, auch wenn den Underdogs, ob Teejunge oder Tagelöhner, sein ganz besonderes Augenmerk gilt. So schaut er dem Fahrradkuli Chenayya über die hagere Schulter, der sich für ein paar schmutzige Rupien am Tag den Buckel krumm schuftet, begleitet aber auch den rechtschaffenen Journalisten Gururaj Kamath, dem nichts so auf der verschwitzten Seele brennt wie der Wunsch, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Dann wieder gilt seine Aufmerksamkeit dem aberwitzigen Moskitomann George D'Souza, einem christlichen Wanderarbeiter, der sich hocharbeitet, nur um danach um so tiefer zu fallen, oder er beäugt den gewieften Sexologen und fliegenden Händler Ratna Shetty, dem niemand einen Tripper für eine Grippe vormacht. Fast immer stehen Männer im Zentrum der anekdotenhaft konzipierten Geschichten, die zwar den naiven Blick auf Land und Leute schön wach halten, zuweilen aber unter ihrer schulbuchmäßigen Thesenhaftigkeit ächzen.

    "Mit der Welt stimmt etwas nicht", empört sich der Fahrradkuli Chenayya einmal, und dieser Satz ist Motto und Mantra der Geschichten zugleich.

    Insgesamt kommt das neue Buch, das Klaus Modick aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte, behäbiger, weniger komisch und weniger rasant als Adigas Erstling daher. Dabei scheut er sich auch diesmal nicht, die brutale Wirklichkeit Indiens in den strengen Blick zu nehmen. Anschaulich und genau schreibt er an gegen die Ungerechtigkeiten des indischen Gesellschaftssystems, indem er Figuren erschafft, die sich nicht abfinden mit dem Elend ihrer Welt. Sie alle verbindet in ihrem Ringen mit der eigenen Existenz der Wunsch nach dem guten Leben. Meist ist ihr Alltag rau und ein einziger Kampf ums Überleben. Fast alle sind Einzelkämpfer. Und ihr Aufbegehren, ihr Frust, ihr stures Warten auf den Gott der Gerechtigkeit und auch ihre Hoffnungslosigkeit stehen im Zentrum der Geschichten, die zwar vor der wirtschaftlichen Öffnung Indiens spielen, sich aber leider immer noch als aktuell erweisen. Die sagenhafte Schönheit und den fabelhaften Schmutz des Landes beschreibt Adiga dabei en passant. Sein Buch ist keineswegs eine Abrechnung mit seiner Heimat, sondern eher eine zwiespältige Liebeserklärung an ein Land, das beinahe zwangsläufig zwiespältige Gefühle auslöst. Inmitten der Trostlosigkeit platziert er immer mal wieder kleine Inseln der Barmherzigkeit, anrührende Szenen, die sich wie Mahnungen lesen. Da teilt dann der Elefantentreiber seine spärlichen Erdnüsse mit dem ausgelaugten Arbeiter, oder ein Busfahrer chauffiert zwei zerlumpte Kinder kostenlos zu ihrem Ziel. Eine der schönsten Geschichten des Buches aber ereignet sich erst am sechsten Tag (Abend) im letzten Waldgebiet von Kittur. Ein kleiner distinguierter Kreis trifft sich dort zu seinen Soireen. Es wird palavert, diskutiert und gut gegessen, und über allem liegt schon der wehmütige Schmerz des nahenden Abschieds. Die Geschichte lässt sich auch wie eine tropische Variante von Tschechows "Der Kirschgarten" lesen: Ein Abgesang auf eine untergegangene Epoche, der weit mehr berührt als all das Klassen- und Kastenkämpferische die Tage zuvor.

    Aravind Adiga: "Zwischen den Attentaten".
    Aus dem Englischen von Klaus Modick, Verlag C. H. Beck, München 2009, 375 S., Euro 19,90.