Ich beobachte, wie der Vogel sich dort oben
auf der Stromleitung
ganz allein gegen
den sanft blauen Himmel abhebt
und die Lieder schmettert,
die er sich von all den anderen Vögeln
ausgeliehen hat.
Er probiert
eine Stimme nach der anderen an,
und hält zwischendrin
kurz inne,
um zu sehen, ob er
die Aufmerksamkeit des Vogelmädchens
seiner Träume gewonnen hat.
Immer wieder
steigt er in die Luft auf
und vollführt einen Salto
und zeigt die in seine Flügel eingravierten
weißen Flecken,
bevor er wieder auf der Stromleitung landet
und mit einem anderen Lied anfängt.
Und während ich ihn beobachte,
fühle ich mich wie er,
wie ein gefiedertes Wesen,
das auf einer Stromleitung balanciert
und ganz viele verschiedene Stimmen ausprobiert,
um zu sehen, welche
am besten funktioniert.
Immer wieder
wirble ich ein bisschen
auf der Tanzfläche rum
und hoffe, dass der Vogeljunge meiner Träume
vorbeifliegt und mich bemerkt,
dass er neben mir landet
und mich um einen Tanz bittet.
Sehnsuchtsvolle Träumereien und banale Alltagssituationen; Probleme mit den Eltern und grenzenlose Mädchenfreundschaft; Entzückung, Enttäuschung und das ganz normale Chaos adoleszenter Liebelei bestimmen diese Erzählung in Versen. Die kalifornische Autorin und Film-Cutterin Sonya Sones schreibt aus der tagebuchartigen Perspektive einer relativ wohl behüteten Jugendlichen, die zugleich naiv und altklug, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, mal kindlich und dann weiser als so mancher Erwachsene auf ihre Welt blickt. Entsprechend "normal" mutet auch die Geschichte an: Stürmisch verliebt sich die Erzählerin Sophie in den coolen Typ Dylan, ebenso schnell entliebt sie sich aber, weil er ihre jüdische Herkunft ignoriert, weil er nicht mit ihrer Körpergröße klar kommt, weil ihre Vorlieben doch zu unterschiedlich sind, und weil sie gleichzeitig eine Online-Beziehung im Chatroom pflegt. Doch auch die kann der Realität ebenso wenig standhalten wie eine schein-amouröse Begegnung beim Maskenball des Schulfests. Erst in den Winterferien, als die Freundinnen alle in den Urlaub fahren und sie in ihrer Heimatstadt Boston verbleiben muss, lernt Sophie, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie entdeckt ihre Liebe zu Murphy – dem hässlichsten Jungen der Klasse. Sie werden ein Paar, und dieses Verhältnis entpuppt sich als "Besser als alles – bisher.
Haar-Gebet
Seine Hand
in meinem Haar.
Möge er sie
bis April
oder Mai dort lassen –
an meinem Nacken,
genau unter
meinem linken Ohr.
Lass sie,
wo sie ist –
genau hier,
in meinem Haar –
und lass sie ein Jahr
und einen Tag
nirgendwo anders hingehen.
Noch besser,
lass sie dort,
bis ich grau bin.
Sonya Sones’ modernes Versepos für junge und alte Romantiker kann und will anscheinend keinerlei Vergleich mit Meisterpoeten wie Ovid oder T.S. Eliot standhalten. Wenn sich einzelne Verse mal reimen, ist dies wohl eher dem Zufall zu verdanken – oder liegt an der bemerkenswerten Übersetzung der 16-jährigen Anna Julia Strüh. Aus dem Kontext der Erzählung gerissen, funktionieren die wenigsten dieser Gedichte für sich allein, und zudem lesen sie sich gedruckt viel besser als sie beim Vorlesen klingen. Auch sonst verzichtet Sones auf jegliche literarische Originalität. Einzig das Novum der in Versform abgehandelten Geschichte macht hier den Reiz aus. Durch die Versform wird jede noch so alltägliche Situation besondert und aufgewertet – und damit selbst ein ganz gewöhnliches und unsensationelles Szenario als Literatur kommunizierbar. So gestaltet sich die Lektüre von "Besser als alles – bisher" dann auch als äußerst kurzweiliges, bisweilen aber anrührendes Vergnügen. Denn schnell bemerkt der Leser, dass Poesie sich hier zwischen den betont in poetischer Form angeordneten Zeilen entfaltet: in der fragilen Disposition der Erzählerin und ihrer Wahrnehmung und Reflexion menschlicher Verhältnisse. Man wird immer wieder eingenommen von ihrem unbekümmerten Charme und kann sich ein Schmunzeln oder Mitfühlen kaum verkneifen.
In der Bücherei
Ich denke gerade, ich könnte ohne weiteres
mein ganzes Leben
hier
in diesem friedlichen Raum
verbringen und
diese alten Gesichter
und knorrigen Hände zeichnen
und müsste nur Pausen machen, um was zu essen
und vielleicht um zu schlafen –
da gucke ich von meinem Zeichenblock hoch
und sehe, wie Murphy mich anlächelt.
"Ich wusste, hier gefällt’s dir", flüstert er,
"weil du eine echte Künstlerin bist."
Das ist das erste Mal, dass mich jemand
eine Künstlerin nennt – und auch noch eine echte.
Ich fühle mich,
als wäre gerade ein ganz neuer Teil von mir
geboren worden.
auf der Stromleitung
ganz allein gegen
den sanft blauen Himmel abhebt
und die Lieder schmettert,
die er sich von all den anderen Vögeln
ausgeliehen hat.
Er probiert
eine Stimme nach der anderen an,
und hält zwischendrin
kurz inne,
um zu sehen, ob er
die Aufmerksamkeit des Vogelmädchens
seiner Träume gewonnen hat.
Immer wieder
steigt er in die Luft auf
und vollführt einen Salto
und zeigt die in seine Flügel eingravierten
weißen Flecken,
bevor er wieder auf der Stromleitung landet
und mit einem anderen Lied anfängt.
Und während ich ihn beobachte,
fühle ich mich wie er,
wie ein gefiedertes Wesen,
das auf einer Stromleitung balanciert
und ganz viele verschiedene Stimmen ausprobiert,
um zu sehen, welche
am besten funktioniert.
Immer wieder
wirble ich ein bisschen
auf der Tanzfläche rum
und hoffe, dass der Vogeljunge meiner Träume
vorbeifliegt und mich bemerkt,
dass er neben mir landet
und mich um einen Tanz bittet.
Sehnsuchtsvolle Träumereien und banale Alltagssituationen; Probleme mit den Eltern und grenzenlose Mädchenfreundschaft; Entzückung, Enttäuschung und das ganz normale Chaos adoleszenter Liebelei bestimmen diese Erzählung in Versen. Die kalifornische Autorin und Film-Cutterin Sonya Sones schreibt aus der tagebuchartigen Perspektive einer relativ wohl behüteten Jugendlichen, die zugleich naiv und altklug, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, mal kindlich und dann weiser als so mancher Erwachsene auf ihre Welt blickt. Entsprechend "normal" mutet auch die Geschichte an: Stürmisch verliebt sich die Erzählerin Sophie in den coolen Typ Dylan, ebenso schnell entliebt sie sich aber, weil er ihre jüdische Herkunft ignoriert, weil er nicht mit ihrer Körpergröße klar kommt, weil ihre Vorlieben doch zu unterschiedlich sind, und weil sie gleichzeitig eine Online-Beziehung im Chatroom pflegt. Doch auch die kann der Realität ebenso wenig standhalten wie eine schein-amouröse Begegnung beim Maskenball des Schulfests. Erst in den Winterferien, als die Freundinnen alle in den Urlaub fahren und sie in ihrer Heimatstadt Boston verbleiben muss, lernt Sophie, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie entdeckt ihre Liebe zu Murphy – dem hässlichsten Jungen der Klasse. Sie werden ein Paar, und dieses Verhältnis entpuppt sich als "Besser als alles – bisher.
Haar-Gebet
Seine Hand
in meinem Haar.
Möge er sie
bis April
oder Mai dort lassen –
an meinem Nacken,
genau unter
meinem linken Ohr.
Lass sie,
wo sie ist –
genau hier,
in meinem Haar –
und lass sie ein Jahr
und einen Tag
nirgendwo anders hingehen.
Noch besser,
lass sie dort,
bis ich grau bin.
Sonya Sones’ modernes Versepos für junge und alte Romantiker kann und will anscheinend keinerlei Vergleich mit Meisterpoeten wie Ovid oder T.S. Eliot standhalten. Wenn sich einzelne Verse mal reimen, ist dies wohl eher dem Zufall zu verdanken – oder liegt an der bemerkenswerten Übersetzung der 16-jährigen Anna Julia Strüh. Aus dem Kontext der Erzählung gerissen, funktionieren die wenigsten dieser Gedichte für sich allein, und zudem lesen sie sich gedruckt viel besser als sie beim Vorlesen klingen. Auch sonst verzichtet Sones auf jegliche literarische Originalität. Einzig das Novum der in Versform abgehandelten Geschichte macht hier den Reiz aus. Durch die Versform wird jede noch so alltägliche Situation besondert und aufgewertet – und damit selbst ein ganz gewöhnliches und unsensationelles Szenario als Literatur kommunizierbar. So gestaltet sich die Lektüre von "Besser als alles – bisher" dann auch als äußerst kurzweiliges, bisweilen aber anrührendes Vergnügen. Denn schnell bemerkt der Leser, dass Poesie sich hier zwischen den betont in poetischer Form angeordneten Zeilen entfaltet: in der fragilen Disposition der Erzählerin und ihrer Wahrnehmung und Reflexion menschlicher Verhältnisse. Man wird immer wieder eingenommen von ihrem unbekümmerten Charme und kann sich ein Schmunzeln oder Mitfühlen kaum verkneifen.
In der Bücherei
Ich denke gerade, ich könnte ohne weiteres
mein ganzes Leben
hier
in diesem friedlichen Raum
verbringen und
diese alten Gesichter
und knorrigen Hände zeichnen
und müsste nur Pausen machen, um was zu essen
und vielleicht um zu schlafen –
da gucke ich von meinem Zeichenblock hoch
und sehe, wie Murphy mich anlächelt.
"Ich wusste, hier gefällt’s dir", flüstert er,
"weil du eine echte Künstlerin bist."
Das ist das erste Mal, dass mich jemand
eine Künstlerin nennt – und auch noch eine echte.
Ich fühle mich,
als wäre gerade ein ganz neuer Teil von mir
geboren worden.