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"Subnormal Europe" bei der Münchner Biennale
Von der Macht der Daten-Reizüberflutung

Die Münchner Biennale trotzt der Corona-Pandemie und geht auf Tour: Im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe war nun die erste Live-Musiktheater-Performance mit Publikum zu sehen. "Subnormal Europe" hinterfragt dabei die Daten-Reizüberflutung in den Medien.

Von Ursula Böhmer | 15.06.2020
    Noa Frenkel in "Subnormal Europe"
    Was ist Kopie, was echt, was ist Fakt, was Falschmeldung? Damit beschäftigt sich "Subnormal Europe" (Münchener Biennale / Armin Smailovic)
    Eine Frau erscheint auf der Spielfläche. Kurz darauf bricht hinter ihr auf einem Tryptichon aus Filmleinwänden ein Sturm los: Ein Sturm aus Bildern, Daten und Informationen.
    In schnell gesprochenen englischen Monologen spult die exzellente Sängerin und Performerin Noa Frenkel im ZKM Karlsruhe zunächst die Hintergrundinformationen zur Musiktheaterperformance herunter. Die spanischen Performance-Künstler Oscar Escudero und Belenish Moreno-Gil haben das Stück "Subnormal Europe" im Auftrag der Münchner Biennale entwickelt:
    "Das Stück spielt in der Realität: Die Sängerin Noa Frenkel stellt die Sängerin Noa dar, unser Toningenieur Sebastian spielt unseren Toningenieur Sebastian. Und Noa ist gerade in einer Aufnahme-Session - sie soll Meilensteine in der Geschichte der Aufnahmetechnik imitieren: Etwa die erste Tonaufnahme einer Stimme, die erste Aufnahme eines Tonfilms. Und sie soll dabei so perfekt wie möglich sein – denn das Hauptziel ist es, Repliken dieser ersten Aufnahmen zu bekommen."
    Ein Spiel mit dem Original und der Kopie
    Eine Live-Dokumentation über die Dokumentation einer Live-Dokumentation über die Geschichte der Aufnahmetechnik entsteht – und damit über die Geschichte der auditiven und visuellen Medien. Noa Frenkel imitiert unter anderem die ersten Sätze, die Thomas Alva Edison 1877 auf seinem neu entwickelten Phonographen eingesprochen hat – wobei ihre Stimme elektronisch verfremdet auf alt getrimmt wird. Oder sie schlüpft nach genauer Choreographie in Stimme und Bewegungen der spanischen Film-Diva Conchita Piquer, die in den 1920er Jahren in den ersten Tonfilmen auftrat.
    "Subnormal Europe" bei der Münchner Biennale
    Sängerin Noa Frenkel in "Subnormal Europe" (Münchner Biennale / Armin Smailovic)
    Das Spiel mit dem Original und der Kopie wird ad absurdum geführt, als Noa Frenkel bei der Filmdiva anfragt, was ihre Spontanität ausmacht. Zumal alles, was Noa Frenkel hier spricht, singt und tut, bis ins kleinste Detail zeitgleich dokumentiert wird - in einer Datenflut, die hinter ihr in den Videos aufploppt. Eine Datenflut, von der sie buchstäblich auch mal aufgesogen wird – wenn die Videos zwischendurch auf ihre weiße Bluse und Hose projiziert werden. Eine Datenflut, die nicht nur sie überfordert – sondern bewusst auch das Publikum überfordern soll, erklärt Belenish Moreno-Gil.
    "Wir haben keine Antworten, aber wir wollen Fragen stellen. Gerade in Corona-Zeiten ist es ein guter Moment, alles einmal langsamer anzugehen, Zeit mit den Familien zu verbringen, darüber nachzudenken, was ist wichtig in unserem Leben? Denn wir produzieren und produzieren und produzieren die ganze Zeit – und die Hauptsache ist das Geld verdienen. In unserem Stück schreibt der Tonmeister der Sängerin ständig vor, was sie zu tun hat. Und sie wird teilweise überladen von diesen ganzen Regeln – so wie es ja auch Teil unseres Lebens ist, oder?"
    Die Folgen der "fear of missing out"
    Mit kritischer Ironie hinterfragen Belenish Moreno-Gil und Oscar Escudero in ihrer Musiktheater-Performance "Subnormal Europe" die Macht der Daten-Reizüberflutung in den Medien unserer Tage. "FOMO" - Abkürzung für "fear of missing out" nennen Wissenschaftler der Europäischen Union inzwischen daraus resultierende Krankheits-Phänomene wie Ängste und Depression. Ein Phänomen, dem die Münchner Biennale - im Auftrag unter anderem der Vizepräsidentin der EU-Kommission – in diesem Jahr auf den Grund gehen sollte. Zwar wurde die Biennale abgesagt – doch acht der geplanten Uraufführungen sollen nun, nach kurzfristiger Ansage, an verschiedenen Orten gezeigt werden. Das ZKM Karlsruhe macht mit "Subnormal Europe" den Anfang. Was ist Kopie, was echt, was ist Fakt, was Falschmeldung? "Subnormal" ist Europa auch in anderer Hinsicht geworden - wenn etwa Tonmeister Sebastian aus dem Off gegen die Faschisten wettert, die heute überall in den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten anzutreffen sind.
    Welche Chancen bietet die Corona-Zeit?
    Technisch ist die Performance "Subnormal Europe" zweifellos hervorragend gemacht und umgesetzt – doch letztlich ist die Verquickung von ironisch-unterhaltsamer Historien-Dokumentation und Europa-Bashing zu viel des Guten. Insofern passt sie gut zum Thema der Münchner Biennale: "Points of NEW Return", also "Ideen zu einer NEUEN Rückkehr" – was im anschließenden "Salon des Wunderns und der Sichten" diskutiert wird: Welche Chancen tun sich in Corona-Pandemie-Zeiten auf – oder auch nicht? Dramaturg Malte Ubenauf ist eher pessimistisch: Für mich bleibt die zentrale Frage: Was habe ich, was haben viele andere eigentlich schon aufgegeben? Und tatsächlich, jetzt durch die völlig unerwarteten Ereignisse, ist was Erstaunliches passiert – nämlich: Man denkt überhaupt die Frage, was hab ich schon aufgegeben, ist auf einmal völlig in den Hintergrund gerückt. Stattdessen liegt die Frage auf dem Tisch: Was will ich wiederhaben? Und ich sehe kaum Impulse dafür, dass da was anders werden wird!"
    Daniel Ott, einer der beiden Leiter der Münchner Biennale, klingt dagegen zuversichtlicher: Manchmal habe ich sogar das Gefühl, vielleicht ist es ein Punkt wie 1990, als die Mauer weg war und als man das Gefühl hatte, Mensch, es könnte ein völlig neues Deutschland geben, es könnte alles, was wir uns mal geträumt haben von Partizipation, von Beteiligung, man konnte sich plötzlich vorstellen, dass dieser runde Tisch Ewigkeiten weitergeht. Wie es dann weiterging, wissen wir zwar. Aber ich habe im Moment das Gefühl: Der Deckel ist noch nicht drauf!