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Suche nach einem Leitfaden für das Leben

Der Roman "Podrostok" von Fjodor Dostojewskij zählte bisher bei uns unter dem Titel "Der Jüngling" zu den eher weniger bekannten Werken des großen russischen Schriftstellers. Nun hat Swetlana Geier im Rahmen ihres beeindruckenden Unternehmens der Neuübersetzung der fünf bedeutendsten Romane Dostojewskijs auch dieses Buch für den deutschen Leser erschlossen.

Von Karla Hielscher | 30.11.2006
    "Er ist auf der Suche nach einem Leitfaden für sein Verhalten, nach dem was gut und was böse ist, dem Leitfaden, den es in unserer Gesellschaft nicht mehr gibt, danach dürstet er, das sucht er instinktiv, und darin liegt das Ziel meines Romans."

    So beschreibt Fjodor Dostojewskij die Grundidee seines Romans "Podrostok", der bisher bei uns unter dem Titel "Der Jüngling" zu den eher weniger bekannten Werken des großen russischen Schriftstellers gehörte. Nun hat Swetlana Geier im Rahmen ihres beeindruckenden Unternehmens der Neuübersetzung der fünf bedeutendsten Romane Dostojewskijs, mit dem sie vor allem den Literaten und Sprachkünstler überraschend originell herausgearbeitet hat, auch diesen Roman für den deutschen Leser erschlossen.

    Dieses 1875 erschienene vorletzte Buch Dostojewskijs vor seinem Vermächtniswerk "Die Brüder Karamasow" gilt nicht ganz zu Unrecht als etwas chaotisch wucherndes Nebenwerk des Schriftstellers. Und in der Tat kostet es beim flüchtigen Lesen einige Mühe, sich in dem Wust von Ereignissen und Intrigen zurechtzufinden und trotz der Menge von dunklen Andeutungen, nebulösen Vor- und Zurückverweisen nicht den Überblick zu verlieren. Hermann Hesse hatte schon in seiner Rezension des Buches 1915 mit einiger Distanz den irritierenden Handlungsapparat beschrieben:

    "dieses wilde, grelle, beim ersten Lesen fieberhaft packende Operieren mit Geheimnissen, Verrat, Ahnungen, geheimen Dokumenten, mit Revolver, Gefängnis, Mord, Gift, Selbstmord, Wahnsinn, mit belauschten Verschwörungen und gemieteten Nebenzimmern"

    Derartige, auch die anderen Romane des Schriftstellers prägenden Ingredienzien des populären Kolportageromans sind jedoch nicht das, worauf es bei Dostojewskij ankommt. Denn natürlich ist auch dieses Werk ein tiefgründiger, bedeutungsschwerer philosophischer Ideenroman.

    Dostojewskij hat hier das ihn jahrelang umtreibende Projekt vom "Leben eines großen Sünders", das in mehreren seiner Werke Spuren hinterlassen hat, hineingestellt in den historisch gesellschaftlichen Kontext der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts in Russland. Damals breitete sich nach den Hoffnungen auf die demokratischen Reformen Alexanders II in der russischen Gesellschaft eine bittere Enttäuschung und ideologische Orientierungslosigkeit aus: Durch die Abschaffung der Leibeigenschaft erodierte das adelige Gutsbesitzersystem, und es entstand ein skrupelloser Raubtierkapitalismus; die revolutionäre Bewegung aber geriet immer mehr in terroristische Bahnen. "Ein grüner Junge" nun ist eine Art Erziehungsroman über "Väter und Söhne", die in dieser Zeit des Werteverfalls, die alle Schichten und alle Generationen erfasste, verzweifelt nach Orientierung suchen.

    Hauptheld ist der junge Arkadij Dolgorukij, der uneheliche Sohn des adeligen Gutsbesitzers Werssilow, der, bei fremden Menschen aufgewachsen und erzogen, als 19-Jähriger zu seiner "zufälligen Familie" nach Petersburg kommt und nun - in der Auseinandersetzung mit dem fast unbekannten, gehassten und geliebten Vater - sich selbst finden will. Dazu der Autor:

    "Ich nahm eine sündlose Seele, die aber schon angeschmutzt ist von der schrecklichen Möglichkeit der Verdorbenheit und von dem frühen Hass wegen der eigenen Unbedeutendheit und Zufälligkeit seiner Existenz, mit der die noch keusche Seele in ihren Gedanken immerhin schon bewusst das Laster zulässt, in ihrem Herzen schon hegt, in ihren noch verschämten aber schon dreisten und stürmischen Fantasien ihre Lust an ihm hat."

    Arkadij nun ist der Ich-Erzähler des Romans, der in einer ausufernden radikalen Selbstbefragung kurze Zeit später das turbulente Geschehen beschreibt, es zu verstehen versucht und nach dem rechten Weg sucht. In den langen Dialogen mit seinem adeligen Vater Werssilow und seinem nominellen Vater, dem armen Pilger Makar, sowie mit den Freunden aus einer konspirativen Untergrundgruppe spiegeln sich die erregenden geistigen Debatten der Zeit: Atheismus und tiefe Religiosität, die Auseinandersetzung mit der Milieutheorie, der Kommunismus, Russland und Europa, die "russische Idee" von der Bestimmung Russlands für die Welt.

    In der komplexen Gestalt des "russischen Europäers" Werssilow ist der ganze Zwiespalt dieser Umbruchszeit verkörpert: Er liebt Russland, kritisiert es jedoch scharf und lebt jahrelang in Westeuropa, er ist nicht gläubig, hängt aber leidenschaftlich einer großen Idee an, fühlt sich "als Träger des höchsten russischen Gedankens des allweltlichen Leidens für alle" und träumt vom Goldenen Zeitalter; er stammt aus einem alten Adelsgeschlecht, hat aber Verständnis für die Pariser Kommunarden. Und er ist als typischer russischer Charakter mit seiner "Schirokost"/ Weite", seinen Leidenschaften und Obsessionen rückhaltlos ausgeliefert, ist großmütig und nichtswürdig zugleich. Als Inbegriff des echten, des alten Russland mit seinen Werten der Allversöhnung und Liebe sind die Gestalten des Pilgers Makar und der demütig liebenden Mutter Arkadijs dagegengestellt.

    Aber nicht nur Kenner Dostojewskijs und der russischen Ideengeschichte kommen bei diesem Roman auf ihre Kosten. Denn hinter der spannend überdrehten Krimihandlung und der alle Extreme ausleuchtenden psychologischen Tiefe der dargestellten Protagonisten scheinen drei Themenkomplexe auf, die das Buch auch für den heutigen deutschen Leser außerordentlich aktuell erscheinen lassen.

    Das ist erstens das Thema des Zerfalls der Familie. Arkadijs Familie erinnert nämlich verblüffend an eine moderne Patchworkfamilie: Da gibt es die Kinder des Gutsbesitzers Werssilow aus zwei Beziehungen, die gerade erst dabei sind, sich kennen zu lernen; Arkadijs gottergebene, liebevolle Mutter, eine Magd aus seinem Hofgesinde lebt seit Jahren mit Werssilow, ist jedoch weiterhin mit dem frommen, sanftmütigen Makar Dolgorukij verheiratet, der auch von Werssilow rückhaltlos verehrt wird; und Werssilow, der seine Lebensgefährtin ehrlich liebt, lässt sie - gejagt von seinen Leidenschaften - immer wieder allein und hat intensive, skandalträchtige Beziehungen zu anderen Frauen.

    Durchgehendes Handlungsmotiv ist zweitens das Thema des Geldes. Der junge Arkadij, der fehlgeleitete und unausgegorene Idealist, hat eine fanatisch verstiegene Idee entwickelt, die Idee, reich wie Rothschild zu werden, um nach den demütigenden Erfahrungen seiner Kindheit Unabhängigkeit und Macht zu erlangen:

    "Darin besteht ja meine 'Idee', darin besteht ja ihre Stärke, dass Geld - der einzige Weg ist, der sogar eine Null auf den ersten Platz bringt. Vielleicht bin ich gar keine Null, aber ich weiß zum Beispiel, der Spiegel zeigt es, dass mein Äußeres mir schadet, weil mein Gesicht gewöhnlich ist, aber wäre ich so reich wie Rothschild, wer würde schon nach meinem Gesicht fragen, und würden dann nicht Tausende von Frauen auf den ersten Pfiff mit ihren Schönheiten zu mir geflogen kommen? (...) Das Geld ist freilich eine despotische Macht, aber ebenso die allerhöchste Gleichheit, darin liegt seine größte Stärke. Das Geld gleicht alles Ungleiche aus. darauf bin ich schon in Moskau gekommen."

    Wesentlicher Stimulus der Romanhandlung ist denn auch das Geld. Fast alle Akteure suchen nach Möglichkeiten, ans große Geld zu kommen: mit Prozessieren um Erbschaften, mit Erpressung durch den Besitz eines desavouierenden Briefdokuments, mit der Heirat eines reichen alten Fürsten, mit Spielsucht, Darlehensbetrug und Aktienfälschung. Und die Überwindung der Fixierung auf Geld und das Streben nach einem anderen, menschenwürdigeren Lebensziel ist das Resultat der selbstquälerischen Ich-Erzählung Arkadijs:

    "Am Ende meiner Aufzeichnungen, sobald die letzte Zeile geschrieben war, fühlte ich plötzlich, dass ich mich selbst umerzogen hatte, eben durch den Prozess des Erinnerns und Niederschreibens."

    Denn übergreifendes Thema ist der Verlust aller festen Werte in der Gesellschaft, das Empfinden einer bedrohlichen Verlorenheit und Unordnung, wo das selbstverständliche Wissen um gut und böse verloren gegangen ist. Thema ist das große Suchen nach echten, sinnvollen Lebenszielen in einer Zeit des moralischen Chaos.

    Swetlana Geier hat - wie inzwischen immer wieder von der Kritik begeistert konstatiert - auch in diesem umfangreichen, Roman die unterschiedlichen Stimmen in ihrer sprachlichen Eigenart hörbar gemacht und ist damit ganz nah am Originaltext Dostojewskijs.

    Diskutiert werden wird sicherlich über den neuen Titel des Romans "Ein grüner Junge". Aber er drückt die ganze Unfertigkeit, jugendliche Unreife, den Prozess des Werdens deutlicher aus als "Der Jüngling". Steckt doch im russischen "Podrostok" die Wurzel "wachsen/heranwachsen". Und die Wahl des Alters Arkadijs, der erst zwischen dem 19. und 20. Lebensjahr die Reife der Erkenntnis von Gut und Böse erlangt, geht auf alttestamentarische Vorstellungen zurück.