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Suche nach einer neuen Demokratie

In Island gewinnt nach der Finanzkrise eine Laienpartei die Kommunalwahl, in Italien feiert ein Komiker politische Erfolge und in Deutschland erlebt die Piratenpartei Höhen und Tiefen bei den Umfragewerten. Braucht die westliche Demokratie eine Erneuerung? Zwei Bücher suchen Antworten.

Von Annette Brüggemann | 22.07.2013
    Marina Weisband, die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, fordert mehr Mitbestimmung für alle Bürger.
    Marina Weisband, die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, fordert mehr Mitbestimmung für alle Bürger. (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Ein Wort ist derzeit in aller Munde: Krise. Euro-Krise. Zypern-Krise. Krise des Kapitalismus. Krise der Demokratie. Das Wort "Krise" bezeichnet im Griechischen eine "Zuspitzung", gefolgt von einer "entscheidenden Wendung". Doch was genau spitzt sich zu? Wohin geht die Reise? Von welcher Gesellschaft träumen wir?

    Menschen auf europäischen Plätzen und Straßen. Sie erheben ihre Stimme. Sie wollen mehr. Mehr Vertrauen in die Politik. Mehr Mitbestimmung. Mehr Demokratie.

    Ungeachtet regionaler Unterschiede werfen die jungen Protestbewegungen Fragen auf. Zum einen die Frage, ob wir lieber eine marktkonforme oder menschenkonforme Demokratie wollen. Zum anderen die Frage, wie wir unsere in die Jahre gekommene Demokratie neu gestalten können. Doch vor allem stellen die alternativen Bewegungen eine Kulturfrage, die zwar einfach formuliert, aber komplexer nicht sein könnte: Wie wollen wir in Zukunft leben?

    Zwei Bücher treffen mitten ins Zentrum dieser Frage und träumen – auf sehr unterschiedliche Weise – von der Zukunft.

    Das Buch "Demokratie. Wofür wir kämpfen" von Michael Hardt und Antonio Negri. Und Marina Weisbands Debüt "Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemäße Demokratie".

    Während Hardt und Negri ihre Utopie mit viel Pathos plakatieren, kleidet Marina Weisband ihre Ideen in eine einfache Sprache fernab des Politjargons. Und während Hardt und Negri die physische Präsenz und rebellische Leidenschaft als Grundlage politischen Handelns sehen, basiert Weisbands politischer Kosmos auf dem Potenzial des Internets fernab von Google und Facebook:

    "Mitbestimmung basiert doch letztlich darauf, dass wir alles freie Menschen sind, sehr individuelle Menschen, die einfach in einer Gesellschaft leben und uns unterhalten müssen darüber, wie können wir friedlich gemeinsam leben, wie geht’s uns allen gut. Dieser Prozess des Diskurses ist eigentlich ein Prozess, der von allen geführt werden sollte. Früher konnten wir ihn aber nicht alle zusammen führen, weil es zum Beispiel keinen Marktplatz gab, der groß genug wäre, dass wir uns alle da versammeln und alle mitreden. Deswegen haben wir gesagt, wir wählen Repräsentanten, die diesen Diskurs an unserer Stelle führen. Repräsentanten sind aber nie so gut, wie wir selbst. Denn ein Politiker weiß ja gar nicht so gut um meine Bedürfnisse wie ich. Und je mehr Macht und Möglichkeit ich bekomme, für meine eigenen Bedürfnisse einzustehen, desto glücklicher kann ich unterm Strich werden, und desto adäquater ist die gesamte Gesellschaft unterm Strich. Das heißt, jetzt wo wir mehr Möglichkeiten haben, Menschen mitreden zu lassen, zum Beispiel über das Internet, sollten wir diese Möglichkeiten auch nutzen."

    "Liquid Feedback" heißt die neue Mitmachsoftware, über die man online Ideen einbringen, abstimmen und mitreden kann. "Liquid Democracy" heißt das Modell in der Praxis. Die Piratenpartei experimentiert damit als erste demokratische Partei in der deutschen Geschichte. Friesland beteiligt mit "Liquid Friesland" als erster Landkreis in Deutschland die Bürger an lokalpolitischen Entscheidungen. Marina Weisband möchte unsere klassische repräsentative Demokratie nicht abschaffen, sondern um die konstruktive Idee des Internets ergänzen. Sie sieht in "Liquid Democracy" die Chance für mehr Mitbestimmung aller Bürger in diesem Land - fernab von Parteistrukturen und Landkreisen.

    "Wer damit aufwächst, etwas entscheiden zu können, wird auch größere Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen lernen, als jemand, der immer bevormundet wurde. Bürger von der Politik fernzuhalten, weil sie was kaputt machen könnten, ist eine grundsätzlich problematische Haltung. Wir können auch Kinder von der Straße fernhalten, weil ihnen etwas passieren könnte. Wir dürfen dann nur nicht erwarten, dass sie sich als Erwachsene souverän im Straßenverkehr bewegen. Ich will das mit der Demokratie so weit wie möglich ausgestalten. Grundlegend dafür erscheint mir das Vertrauen in Menschen. Und obwohl ich bei manchen E-Mails oder Leserkommentaren bisweilen Zweifel an meinem Weltbild bekomme, bleibe ich doch bei der steilen These, dass ein adäquateres politisches System auch besseren menschlichen Umgang bedingen wird."

    Marina Weisband vertraut darauf, dass wir eine Gesellschaft gestalten können, in der jeder Mensch viel mehr bereit ist für sich selbst und andere Verantwortung zu tragen, sich freiwillig mehr zu bilden, auch in ökologischen Fragen. Einem solch positiven Menschenbild wird gern "Naivität" vorgeworfen. Der Mensch sei nun mal des Menschen Wolf und populistische Positionen in ihrer Einfachheit zu verführerisch, um keine Mehrheiten zu bekommen. Ein Gegenargument mit historischer Berechtigung, nur hilft Zynismus beim Imaginieren eines wünschbaren Zustands nicht weiter. Marina Weisband bringt mit ihren Gedankenexperimenten frischen Wind in verstaubte Plenarsäle. Sie plädiert für kreative Prozesse und sukzessive Veränderungen. Politik sei nun mal eine zutiefst soziale Angelegenheit, die uns alle angehe, vor allem und ganz besonders im Bereich Bildung:

    "Das Internet allein ist nicht die Lösung. Es ist ja nur ein Werkzeug. Wenn wir nicht lernen, wie wir dieses Werkzeug benutzen, dann ist es komplett sinnlos. Lernen, wie wir dieses Werkzeug benutzen, das ist in erster Linie eine Bildungsfrage. Wir sagen zum Beispiel den Kindern an unseren Schulen, wie wichtig Demokratie ist, dabei gibt es kein hierarchischeres System als Schulen, wo die Schüler nichts zu sagen haben. Wir müssen also von ganz klein anfangen, den Schülern schon mehr Macht über ihre eigene Umgebung zu geben. Damit sie sich daran gewöhnen, dass sie einen direkten Einfluss auf ihre Welt ausüben."

    Genau diesen direkten Einfluss haben Michael Hardt und Antonio Negri zum Dreh- und Angelpunkt ihres leidenschaftlichen Pamphlets "Demokratie! Wofür wir kämpfen" gemacht. Hardt und Negri, die mit Büchern wie "Empire" und "Commonwealth" zu den prominenten Vordenkern der weltweiten Protestbewegungen wurden, wollen deren revolutionären Funken in etwas Nachhaltiges transformieren. Ihr von Marx und Foucault geprägtes Weltbild unterwerfen sie einem aufschlussreichen Praxis-Check: Was ist 2011 passiert? Wohin können uns die Wünsche, Sehnsüchte und Träume der jungen Menschen auf den Straßen tragen? Marx Begriff des Proletariats als "revolutionäre Klasse" haben Hardt und Negri auf ihren Begriff der "Multitude" übertragen. Hardt:

    "Die Multitude kann sich in ihrer Vielfalt selbst regieren. Das bedeutet, dass Menschen trotz aller Unterschiede einen Weg finden, ihr Leben gemeinsam in die Hand zu nehmen. Ihre Vielfalt und ihr aktives Selbergestalten sind der Schlüssel. Dadurch können sie weder manipuliert werden, noch sind sie auf einen Führer angewiesen."

    Diese basisdemokratische "Multitude" sahen Hardt und Negri in den Occupy-Camps – wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum – realisiert. So organisierte die schon legendär gewordene "General Assembly" von Occupy New York per Handzeichen wichtige Entscheidungen – ohne dass es eines Anführers bedurft hätte. Protestcamps sind für Hardt und Negri große Labore zur Produktion sozialer und demokratischer Leidenschaften. Gerade diese Labore seien in der Lage, neue politische Subjekte hervorzubringen, von denen eine Revolution ausgehen könne:

    "Rebellion und Widerstand bedeuten jedoch nicht nur Verweigerung: Sie setzen einen kreativen Prozess in Gang. Indem sie die eingeschränkten Subjekte der heutigen kapitalistischen Gesellschaft überwinden und ihr Potenzial freisetzen, eröffnen sie uns den Zugang zu unserer gesellschaftlichen und politischen Handlungsfähigkeit. Menschen, die sich aus der Angststarre befreien, schaffen echte Formen der Sicherheit. Und Menschen, die sich nicht mehr von anderen vertreten lassen, entdecken die Macht der demokratischen Beteiligung. Diese Eigenschaften, die aus der Macht der Rebellion und des Widerstands entstehen, definieren die Gemeinen."

    Analog zur "Multitude" entwerfen Hardt und Negri mit "den Gemeinen" ein Idealbild des politisierten Menschen. Sie träumen von global vernetzten Demokratien, die keine Repräsentanten mehr brauchen:

    "Die Korruption des repräsentativen Systems scheint mir echt und auch offensichtlich zu sein. Aber was könnte ein nicht-repräsentatives System sein? Ein System oder besser Systeme, in denen Menschen, meinetwegen auch lokal, politisch aktiv involviert sind? Ich finde das sehr klar, dass der Wunsch nach mehr Demokratie auch den Wunsch mit sich bringt, neue Mechanismen zu entdecken, mit denen Menschen sich selbst regieren können."

    Da wo Hardt und Negri von Wünschen und Zielen sprechen, setzt Marina Weisband mit einer konkreten Idee an, hier und jetzt, ohne Revolutionsromantik. Hardt und Negri fordern eine Grundsanierung der liberalen Verfassungen weltweit – mit einer neu definierten Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative. Marina Weisband wiederholt nur zwei Wörter, leise, bestimmt, wieder und wieder, wie eine Zauberformel: "Liquid Democracy". Fakt ist, sie landet damit auf dem Boden der Tatsachen und erkennt die Zeichen der Zeit: eine digitalisierte, beschleunigte Welt, mit der unsere klassische repräsentative Demokratie Probleme hat mitzuhalten. Nur: Wie schaffen wir ein neues demokratisches Instrument, das unserem Wunsch nach Beteiligung und Beschleunigung gerecht wird und uns gleichzeitig davor bewahrt, Opfer unserer Affekte zu werden?

    Wir befinden uns, daraus macht Marina Weisband kein Geheimnis, in einer Pionierphase. Ohne Pionierphase würde gar nichts passieren und das ist immerhin schon etwas. Eine einzigartige Möglichkeit. Eine zeitgemäße politische Idee. Ein Anfang.


    Marina Weisband: "Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemässe Demokratie".
    Tropen 2013, 174 Seiten, gebunden. ISBN: 978-3-608-50319-7. 16,95 Euro. Auch als E-Book erhältlich.

    Michael Hardt, Antonio Negri: "Demokratie! Wofür wir kämpfen".
    Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus 2013, 127 Seiten, kartoniert. ISBN: 978-3-593-39825-9. 12,90 Euro.