Rüttgers: "Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen bin ich."
Jürgen Rüttgers am 23. Mai 2005. Gerade eben hat der Christ- die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vernichtend geschlagen. Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen. Die sozialpolitische Bilanz der CDU in der schwarz-gelben Koalition fällt jedoch gemischt aus. Auf der Habenseite des selbsternannten Arbeiterführers Jürgen Rüttgers: Seine Auftritte bei Firmen-Pleiten und Unternehmen, die Stellen abbauen.
Als der taiwanesische High-Tech-Produzent BenQ seine von Siemens übernommene Handy-Sparte abwickelt und damit auch das Werk im nordrhein-westfälischen Kamp-Lintfort, eilt der Ministerpräsident an den Niederrhein. Das Megaphon in der Hand übt Rüttgers Solidarität mit den Betroffenen:
"Sie haben damals zusammen mit der IG Metall Verzicht geübt bei den Löhnen, weil man Ihnen gesagt hat: Wenn ihr das macht, dann sind eure Arbeitsplätze wieder sicher. Und wenn heute - und das ist ja gar nicht lange her - diejenigen, die Ihnen damals gesagt haben, sie wollten noch fünf Jahre lang hier in Deutschland Handys produzieren, den Laden einfach zumachen wollen, dann ist das eine große Sauerei, damit das klar gesagt worden ist, meine Damen und Herren!"
Die da applaudieren, hoffen im Spätsommer 2006 noch, "Robin Rüttgers" - wie er sich gern nennen lässt - könne und werde sie vor der Arbeitslosigkeit bewahren. Der Sozialdemokrat Christoph Landscheidt, Bürgermeister in Kamp-Lintfort, einem Steinkohle-Standort, warnt schon im September 2006 davor, Hoffnungen in die CDU-geführte Landesregierung zu setzen:
"Ich sehe eine gewisse Chance. Wenn nicht, dann reden wir in Kamp-Lintfort, wenn ich nur über BenQ spreche, über vielleicht 15 Prozent Arbeitslose. Und wenn ich dann noch lese, dass der Ministerpräsident dabei bleibt, so schnell wie möglich das Ende des Bergbaus einzuläuten, dann heißt das, dann reden wir über 18 oder gar 20 Prozent Arbeitslose."
Inzwischen steht fest: Mit der Steinkohle ist 2018 Schluss. Dafür hat nicht zuletzt Jürgen Rüttgers gekämpft. Und was die Strukturhilfe angeht, hat seine Wirtschaftsministerin Christa Thoben jüngst verlauten lassen, dass die Landesregierung sehr genau prüfen werde, wohin sie Geld gibt und wohin nicht.
Thoben, der Finanzminister Helmut Linssen und die FDP regieren Nordrhein-Westfalen, sagt Elke Hannack. Und es ist ihr ins Gesicht geschrieben, wie sehr ihr das missfällt. Elke Hannack ist in der CDU, sie ist im Bundesvorstand der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, und sie ist Vize-Chefin des DGB in Nordhrein-Westfalen. Robin Rüttgers? - da kann Elke Hannack nur lachen:
"Ich weiß, dass unsere Verdi-Kollegen den Vergleich ziehen und sagen: Er ist nicht Robin Hood, sondern er ist in Wahrheit der Sheriff von Nottingham. Und wenn man das jetzt wirklich auch mal runterbricht zwischen dem, was er gesagt hat und was er versprochen hat und dem, was er jetzt wirklich durchsetzt, finde ich, ist der zweite Vergleich meiner Verdi-Kollegen auch der richtige."
Am schlimmsten findet Elke Hannack das neue Landespersonalvertretungsgesetz. Die Regierung von CDU und FDP möchte damit die Verwaltung verschlanken. In Wahrheit, empört sich die Gewerkschafterin, verberge sich dahinter ein Ausverkauf der Mitbestimmung:
"Das ist ein Schleifen der Mitbestimmung, er macht hier die Mitbestimmung kaputt. Und das geht nicht, einerseits zu sagen "ich bin der Arbeitführer, ich tu was für die Beschäftigten in unserem Land", und andererseits macht er ja genau das kaputt, was Mitbestimmung ausmacht."
Wortbruch wirft Hannack dem Ministerpräsidenten vor. Trotzdem ist ihr Vertrauen in den Christdemokraten noch nicht ganz aufgebraucht. Dass sozialpolitisch so vieles so schlecht laufe in Nordrhein-Westfalen, liege am Einfluss der FDP. Tatsächlich ist Jürgen Rüttgers kein liberaler oder gar neoliberaler Geist, sondern ein konservativer. In Nordhrein-Westfalen heißt das für einen CDU-Mann immer: Anbindung an die CDA, in der Tradition der christlichen Soziallehre stehend.
Sich von dieser Tradition abzukoppeln, wäre politischer Selbstmord. Und Rüttgers ist in diesem Sinn nicht suizidgefährdet.
25. Januar, 18 Uhr. 30 Genossinnen und Genossen sind ins "Haus Witten”, in die gleichnamige Stadt im südlichen Ruhrgebiet gekommen. Draußen staut sich der Feierabendverkehr, mitten drin steckt der Referent der Veranstaltung. Der Ablauf der Diskussionsveranstaltung stockt gleich zu Beginn, die Parteimitglieder übernehmen die Regie. Die meisten haben kurz vorher die 67 Seiten des Programmentwurfs gelesen. "Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert” steht darauf. Ein Rentner macht den Anfang. Ihm geht einiges in dem SPD-Grundsatzprogramm mächtig gegen den Strich:
"So, wenn wir jetzt das Thema Alleinstellungsmerkmal mal nehmen - ich krieg so einen Hals, wenn da nicht mehr Sozialdemokratie steht. Ich krieg so einen Hals wenn da nichts mehr von sozialistischer Internationale drin steht. Nichts steht davon drin. Aber Wischi-Waschi. Über so was will ich lieber diskutieren."
Die Mehrzahl der SPD-Mitglieder des Kreisverbandes Ennepe-Ruhr sind Jahrgang 1950 und älter, einige Mittzwanziger sind auch gekommen. Männer sind deutlich in der Überzahl. Mit dem Entwurf des neuen Parteiprogramms ist kaum einer zufrieden. Aber Proteste in den eigenen Reihen sind nichts ungewöhnliches in der SPD.
Mühlhofer: "Programmdebatten in der SPD sind immer emotional. Und wenn wir das nicht hätten, wären wir tot. Gott sei Dank haben wir das."
Für die Genossen an der Basis ist die Konfrontation mit dem so genannten "Bremer Entwurf”, der im Oktober beim Hamburger Bundesparteitag das "Grundgesetz” der SPD für das 21. Jahrhundert werden soll, noch neu. Dennoch diskutiert die Partei schon seit sechs Jahren über neue Leitlinien. Christel Humme, die Bundestagsabgeordnete aus Witten, ist extra für den Diskussionsabend aus Berlin angereist. Für sie ist mit Händen greifbar, dass die Basis noch nicht mit in den Diskussionsprozess mitgenommen wurde:
"Zu einem wirklichen Thema der Partei ist die Grundsatzdebatte bisher noch nicht geworden bisher. Das ist höchste Zeit."
Vor allem weil in den roten Reihen die "soziale Frage” wieder neu entfacht worden ist. Gerhard Schröders Agenda-Politik hat Wunden hinterlassen im traditionellen "Wohnzimmer der SPD”, im Ruhrgebiet. Das wärmende Feuer des Gemeinschaftsgefühls hat gelitten. Lieb gewordene Besitzstände wurden in den letzten Jahren gestrichen, vieles steht auf dem Prüfstand.
Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit bekommt neue Nahrung. Christel Humme, die Bundestagsabgeordnete, gleichzeitig auch Sprecherin ihrer Fraktion in der Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik, hat eine interessante Entdeckung gemacht in ihrer Partei. Jüngere Genossen bewerten soziale Gerechtigkeit anders als ältere Parteimitglieder. Was heute an Leistungen gestrichen oder gekürzt wird - beispielsweise bei den Sozialversicherungen - empfinden Rentner als ungerecht, die 30-Jährigen sehen das anders. Sie haben deutlich weniger Probleme mit dem Zurückfahren des Sozialstaates, weil sie es sind, die die Lasten der Vergangenheit und Gegenwart demnächst tragen müssen. Die unterschiedlichen Deutungen, was sozial gerecht ist und was nicht, erschweren die parteiinternen Diskussionen.
Und noch etwas erzeugt Druck auf die Sozialdemokratie: Jahrzehntelang glaubte sich die SPD im Besitz eines Abonnements für Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit, jetzt wird es plötzlich eng in der Mitte. Alle Parteien entdecken derzeit das Soziale in der Politik. Vor allem die CDU-NRW hat einen Angriff auf die Kernkompetenz der Genossen gestartet.
Ortstermin im Münsterland. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann besucht die kirchliche Beschäftigungsinitiative "Horizonte e.V." für Langzeitarbeitslose. Hier lernen sie, sich wieder an einen Arbeitsalltag zu gewöhnen. 175 Mitarbeiter sind bei dem eingetragenen Verein beschäftigt, die meisten sind Hartz-IV-Empfänger und arbeiten auf der Basis von Ein-Euro-Jobs. Sie verkaufen gebrauchte Möbel, reparieren Fahrräder oder sägen Fensterschmuck aus Holz zurecht. Der Christdemokrat Laumann nimmt sich Zeit für einen Rundgang. An der Laubsäge bleibt er stehen und spricht die junge Frau mit Kopftuch an, die die Maschine bedient:
"Das ist eine Laubsäge, ne? Fein. Und macht Ihnen das Spaß?
Ja, klar.
Haben Sie schon mal richtig gearbeitet, ich meine vorher?
Nein, habe ich noch nicht.
Sie sprechen aber gut Deutsch.
Ein bisschen, es geht schon.
Es wird schon klappen. ... ."
Laumann ist der bodenständige Gegenpart zum manchmal unnahbar und hölzern wirkenden Jürgen Rüttgers. Der Arbeitsminister ist bei Betriebsbesichtigungen in seinem Element: Arbeitern Mut machen, Unternehmer überreden, doch noch einen Arbeitsplatz mehr zu schaffen - das ist die Welt des CDA-Chefs. Der gelernte Maschinenschlosser kommt gut an, wenn er in der Provinz unterwegs ist, so auch bei den Angestellten von "Horizonte e.V.":
"Ich finde das gut, dass so ein Politiker auch mal vor Ort gucken kommen kommt.
Und dass er sich für die Arbeitslosen einsetzt. Das finde ich gut. Ich finde den Besuch auch sehr gut heute hier, damit er auch mal sieht, was so los ist, ne?"
Die SPD in Nordrhein-Westfalen befindet sich in einer paradoxen Situation. Lange hatte sie gebraucht, ihren Machtverlust im Mai 2005 nach über 39 Jahren in Regierungsverantwortung zu verkraften. Mittlerweile scheint sie sich aber am neuen Dasein als Oppositionspartei zu erfreuen. Der Spagat, einerseits Schröders schmerzhafte Agenda-Politik zu verkaufen und andererseits Sozial-Anwalt für die eigene Wählerklientel zu sein, muss nun nicht mehr gemacht werden.
Mit Hannelore Kraft hat die SPD in Nordrhein-Westfalen seit einigen Wochen eine neue Partei-Vorsitzende, die das Soziale in der politischen Arbeit als Kernkompetenz wieder zu neuer Bedeutung erwecken will. Das ist auch nötig, denn der SPD sind sozialpolitisch Konkurrenten erwachsen. Das neue Bemühen der NRW-Genossen um Gerechtigkeitskompetenz hat etwas von Wiedergutmachung gegenüber der Basis und den Wählern nach den Reform-Zumutungen der Schröder-Ära.
"Wir müssen die Kümmerer sein. Vor Ort, in den Gemeinden. Da zeigt sich soziale Politik der SPD. Das Programm ist wichtig - von oben sozusagen - aber von unten, in der Praxis, muss man sich wirklich sozial verhalten, sich zu kümmern, das ist der Schlüssel dazu zu zeigen, das Soziale ganz oben auf der Agenda zu haben."
Das klingt gut, bleibt aber unkonkret. Die blonde Mülheimerin hat längst die Angriffe der politischen Konkurrenz auf das emotionale Feld Sozialpolitik als Gefahr für die SPD im Westen ausgemacht. Eine Anbiederung an die Wähler um jeden Preis will die Neue an der Spitze des größten SPD-Landesverbandes jedoch nicht mitmachen. Sozial ja, aber Reformen, auch schmerzhafte, müssen sein, sagt sie.
"Da gab es die Linken, die WASG, die sagten, es könnte alles so bleiben wie es ist. Wir mussten aber Reformen angehen. Manchmal muss man dann verkraften, dass Leute uns dann verlassen, die einfach populistisch sagen, es könnte alles so bleiben wie es ist."
Das soziale Profil der SPD ist kaum noch erkennbar oder ist nahezu deckungsgleich mit dem der CDU, haben Politologen herausgefunden. Der Markenkern geht verloren.
"Die Zeiten, in denen sich die SPD als die Sozialstaatspartei positionieren konnte und im Ruhrgebiet 50 Prozent und mehr Wähler erreichen konnte, die sind vorbei,” glaubt Frank Decker, Professor für Politologie an der Bonner Universität. Auch deshalb, so der Parteienexperte, weil die NRW-SPD durch Ministerpräsident Jürgen Rüttgers soziale Vorstöße zunehmend unter Druck gerät. So sehr, dass die Genossen sogar Gefahr laufen, links überholt zu werden:
"Die SPD, ihre Führung, hat sich nicht programmatisch auf die Notwendigkeiten eingestellt. Ganz im Gegenteil: Sie hat sogar im Wahlkampf 98 sozialstaatliche Sicherheitsversprechen abgegeben, die sie dann in der Regierung wieder zurücknehmen musste. Das produziert natürlich enorme Glaubwürdigkeitsverluste. Nicht nur bei den eigenen Mitgliedern, sondern auch bei der Wahlklientel."
Dennoch sieht Decker Chancen für die SPD konstruktiv aus dem doppelten Dilemma des inneren und äußeren Drucks auf ihre Sozial-Programmatik herauszukommen. Zum Beispiel in einer Antwort zum Thema Mindestlohn.
"Diese Antwort würde sie sogar programmatisch in einen Vorteil bringen gegenüber der Union - und auch im Parteienwettbewerb. Die SPD kann nämlich sagen, dass die notwendige Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt begleitet werden kann, werden muss, durch eine Absicherung im Mindestlohn. Es muss auch eine Grenze nach unten geben. Beides sind zwei Seiten einer Medaille."
In Nordhrein-Westfalen ist Jürgen Rüttgers' Erfolgsrezept fürs erste aufgegangen. Die Wahlen hat er gewonnen mit seinem Spagat zwischen sozialpolitischer Verantwortung und notwendiger Erneuerung. Aber Jürgen Rüttgers ist nicht nur Ministerpräsident in Nordhrein-Westfalen. Er ist auch Vizevorsitzender der CDU im Bund. Und auch hier spielt er die sozialpolitische Karte aus. - Eine Strategie, die nicht nur Rüttgers hilft, sondern auch der CDU insgesamt nützlich sein kann, meint der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth:
"Das Problem der Union besteht ja darin, dass ja eigentlich diese Partei eben immer weniger aus solchen gestandenen Einzelpersönlichkeiten besteht, die mit ihrer wirklichen Prägekraft die Unverwechselbarkeit des Images einer Volkspartei herbeiführen. Und da versucht aber in diesem Zusammenhang Rüttgers dem linken Spektrum der Union sich zu nähern und eher als linker Flügelmann zu erscheinen. Er nutzt das auch, weil das von ihm als ehesten als eine Chance zur Wiederwahl in Nordrhein-Westfalen angesehen wird."
Das hilft ihm auch im Wettbewerb mit den anderen Ministerpräsidenten von der CDU:
"Er will ja nicht nur immer lesen, dass die Wulffs und die Kochs schon den Braten unter sich ausmachen. Sondern er will auch in Erinnerung führen, dass er der Vorsitzende des größten Landesverbandes ist und natürlich der Ministerpräsident ebenfalls des größten Bezirks einer Landesregierung."
Die Sozialpolitik ist Rüttgers nicht nur Zweck, sondern auch Mittel. Ein Alleinstellungsmerkmal in der CDU, das er nutzen möchte. Dass seine Vorstöße vom linken Flügel nicht immer gut ankommen, kann ihm deshalb nur recht sein. Nicht umsonst hat er seinen Vorwurf, die CDU müsse sich von Lebenslügen trennen, im letzten Sommerloch platziert. Denn da war sicher, dass er besonders viel Aufmerksamkeit ernten würde:
"Man kann nicht behaupten, dass die Senkung von Steuern automatisch zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Investitionen führt. Allein schon deshalb, weil viele Großunternehmen ja gar keine Steuern mehr in Deutschland bezahlen."
Und weil die Versuche mit der Lebenslüge so erfolgreich waren, legte Jürgen Rüttgers bald nach: Auch sein Vorschlag, älteren Arbeitslosen länger Arbeitslosengeld auszuzahlen als jüngeren, beherrschte wochenlang die Schlagzeilen. Dass die Idee nicht neu war (sie entsprach schon lange der CDU-Programmatik), nach Stammtisch schmeckte und auch nicht durchgerechnet war, machte da kaum noch etwas aus. Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth:
"Zu sagen, wer länger gearbeitet hat, das muss sich auch entsprechend lohnen, niederschlagen: Dieser Satz ist ja eigentlich richtig und kann von fast jedem unterschrieben werden. Aber in dieser Materie hat er die Sozialdemokraten auf dem falschen Fuß erwischt. Denn er erschien auf einmal als der Sozialere."
Diesmal aber strafte die eigene Partei Jürgen Rüttgers ab. Sein Vorschlag wurde beim CDU-Parteitag im November in Dresden zwar mit einer Selbstverständlichkeit bestätigt, die an Missachtung grenzte. Aber die Wiederwahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden schafft Rüttgers mit 58 Prozent der Delegierten-Stimmen nur beschämend schwach:
"Liebe Freunde, dass mir das Ergebnis nicht so toll gefällt, werden Sie verstehen. Aber ich kämpfe ja auf diesem Parteitag für eine bestimmte inhaltliche Position. Ich nehme die Wahl trotzdem an. Ich habe noch nicht alle überzeugt, aber ich will weiter für diese Position kämpfen, nämlich für eine CDU: sicher, sozial und frei."
Da wirkte er angeschlagen, aber aufrecht, der Führer der größten Arbeiterpartei in Nordhrein-Westfalen. Im Land kam das gut an: Ein Signal für Rüttgers' sozialpolitische Glaubwürdigkeit, das nicht nur CDA-Frau Elke Hannack in dankbarer Erinnerung hat:
"Da hat er sich durchgesetzt, und das war eine ganz tolle Sache. Für die ist er abgestraft worden in der CDU. Da, finde ich, hat sich dieser Status "Arbeiterführer" wirklich manifestiert. Da war er da, und da war er gut. Aber dabei ist es geblieben."
Und so haben die Sozialpolitiker in der Union - trotz der oftmals liberalen Regierungspolitik in Nordhrein-Westfalen - ihre Hoffnung auf Jürgen Rüttgers noch nicht ganz aufgegeben. Die nächsten Landtagswahlen sind schließlich erst 2010. Es wäre Zeit genug, das Steuer herumzureißen für den Ministerpräsidenten - wenn er es denn wollte:
Hannack: " Ich wünsche dem Jürgen Rüttgers ganz, ganz viel Mut, umzudenken und auch auf Gewerkschaften zuzugehen. Also wirklich den Mut, noch mal umzudrehen und zu sagen: Komm, Neuanfang, zweite Halbzeit beginnt, das Spiel ist noch nicht verloren, jetzt geh' ich auf die zu, und jetzt will ich mal gemeinsam mit denen Politik gestalten. Das wünsch ich mir."
Jürgen Rüttgers am 23. Mai 2005. Gerade eben hat der Christ- die Sozialdemokraten bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vernichtend geschlagen. Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen. Die sozialpolitische Bilanz der CDU in der schwarz-gelben Koalition fällt jedoch gemischt aus. Auf der Habenseite des selbsternannten Arbeiterführers Jürgen Rüttgers: Seine Auftritte bei Firmen-Pleiten und Unternehmen, die Stellen abbauen.
Als der taiwanesische High-Tech-Produzent BenQ seine von Siemens übernommene Handy-Sparte abwickelt und damit auch das Werk im nordrhein-westfälischen Kamp-Lintfort, eilt der Ministerpräsident an den Niederrhein. Das Megaphon in der Hand übt Rüttgers Solidarität mit den Betroffenen:
"Sie haben damals zusammen mit der IG Metall Verzicht geübt bei den Löhnen, weil man Ihnen gesagt hat: Wenn ihr das macht, dann sind eure Arbeitsplätze wieder sicher. Und wenn heute - und das ist ja gar nicht lange her - diejenigen, die Ihnen damals gesagt haben, sie wollten noch fünf Jahre lang hier in Deutschland Handys produzieren, den Laden einfach zumachen wollen, dann ist das eine große Sauerei, damit das klar gesagt worden ist, meine Damen und Herren!"
Die da applaudieren, hoffen im Spätsommer 2006 noch, "Robin Rüttgers" - wie er sich gern nennen lässt - könne und werde sie vor der Arbeitslosigkeit bewahren. Der Sozialdemokrat Christoph Landscheidt, Bürgermeister in Kamp-Lintfort, einem Steinkohle-Standort, warnt schon im September 2006 davor, Hoffnungen in die CDU-geführte Landesregierung zu setzen:
"Ich sehe eine gewisse Chance. Wenn nicht, dann reden wir in Kamp-Lintfort, wenn ich nur über BenQ spreche, über vielleicht 15 Prozent Arbeitslose. Und wenn ich dann noch lese, dass der Ministerpräsident dabei bleibt, so schnell wie möglich das Ende des Bergbaus einzuläuten, dann heißt das, dann reden wir über 18 oder gar 20 Prozent Arbeitslose."
Inzwischen steht fest: Mit der Steinkohle ist 2018 Schluss. Dafür hat nicht zuletzt Jürgen Rüttgers gekämpft. Und was die Strukturhilfe angeht, hat seine Wirtschaftsministerin Christa Thoben jüngst verlauten lassen, dass die Landesregierung sehr genau prüfen werde, wohin sie Geld gibt und wohin nicht.
Thoben, der Finanzminister Helmut Linssen und die FDP regieren Nordrhein-Westfalen, sagt Elke Hannack. Und es ist ihr ins Gesicht geschrieben, wie sehr ihr das missfällt. Elke Hannack ist in der CDU, sie ist im Bundesvorstand der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, und sie ist Vize-Chefin des DGB in Nordhrein-Westfalen. Robin Rüttgers? - da kann Elke Hannack nur lachen:
"Ich weiß, dass unsere Verdi-Kollegen den Vergleich ziehen und sagen: Er ist nicht Robin Hood, sondern er ist in Wahrheit der Sheriff von Nottingham. Und wenn man das jetzt wirklich auch mal runterbricht zwischen dem, was er gesagt hat und was er versprochen hat und dem, was er jetzt wirklich durchsetzt, finde ich, ist der zweite Vergleich meiner Verdi-Kollegen auch der richtige."
Am schlimmsten findet Elke Hannack das neue Landespersonalvertretungsgesetz. Die Regierung von CDU und FDP möchte damit die Verwaltung verschlanken. In Wahrheit, empört sich die Gewerkschafterin, verberge sich dahinter ein Ausverkauf der Mitbestimmung:
"Das ist ein Schleifen der Mitbestimmung, er macht hier die Mitbestimmung kaputt. Und das geht nicht, einerseits zu sagen "ich bin der Arbeitführer, ich tu was für die Beschäftigten in unserem Land", und andererseits macht er ja genau das kaputt, was Mitbestimmung ausmacht."
Wortbruch wirft Hannack dem Ministerpräsidenten vor. Trotzdem ist ihr Vertrauen in den Christdemokraten noch nicht ganz aufgebraucht. Dass sozialpolitisch so vieles so schlecht laufe in Nordrhein-Westfalen, liege am Einfluss der FDP. Tatsächlich ist Jürgen Rüttgers kein liberaler oder gar neoliberaler Geist, sondern ein konservativer. In Nordhrein-Westfalen heißt das für einen CDU-Mann immer: Anbindung an die CDA, in der Tradition der christlichen Soziallehre stehend.
Sich von dieser Tradition abzukoppeln, wäre politischer Selbstmord. Und Rüttgers ist in diesem Sinn nicht suizidgefährdet.
25. Januar, 18 Uhr. 30 Genossinnen und Genossen sind ins "Haus Witten”, in die gleichnamige Stadt im südlichen Ruhrgebiet gekommen. Draußen staut sich der Feierabendverkehr, mitten drin steckt der Referent der Veranstaltung. Der Ablauf der Diskussionsveranstaltung stockt gleich zu Beginn, die Parteimitglieder übernehmen die Regie. Die meisten haben kurz vorher die 67 Seiten des Programmentwurfs gelesen. "Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert” steht darauf. Ein Rentner macht den Anfang. Ihm geht einiges in dem SPD-Grundsatzprogramm mächtig gegen den Strich:
"So, wenn wir jetzt das Thema Alleinstellungsmerkmal mal nehmen - ich krieg so einen Hals, wenn da nicht mehr Sozialdemokratie steht. Ich krieg so einen Hals wenn da nichts mehr von sozialistischer Internationale drin steht. Nichts steht davon drin. Aber Wischi-Waschi. Über so was will ich lieber diskutieren."
Die Mehrzahl der SPD-Mitglieder des Kreisverbandes Ennepe-Ruhr sind Jahrgang 1950 und älter, einige Mittzwanziger sind auch gekommen. Männer sind deutlich in der Überzahl. Mit dem Entwurf des neuen Parteiprogramms ist kaum einer zufrieden. Aber Proteste in den eigenen Reihen sind nichts ungewöhnliches in der SPD.
Mühlhofer: "Programmdebatten in der SPD sind immer emotional. Und wenn wir das nicht hätten, wären wir tot. Gott sei Dank haben wir das."
Für die Genossen an der Basis ist die Konfrontation mit dem so genannten "Bremer Entwurf”, der im Oktober beim Hamburger Bundesparteitag das "Grundgesetz” der SPD für das 21. Jahrhundert werden soll, noch neu. Dennoch diskutiert die Partei schon seit sechs Jahren über neue Leitlinien. Christel Humme, die Bundestagsabgeordnete aus Witten, ist extra für den Diskussionsabend aus Berlin angereist. Für sie ist mit Händen greifbar, dass die Basis noch nicht mit in den Diskussionsprozess mitgenommen wurde:
"Zu einem wirklichen Thema der Partei ist die Grundsatzdebatte bisher noch nicht geworden bisher. Das ist höchste Zeit."
Vor allem weil in den roten Reihen die "soziale Frage” wieder neu entfacht worden ist. Gerhard Schröders Agenda-Politik hat Wunden hinterlassen im traditionellen "Wohnzimmer der SPD”, im Ruhrgebiet. Das wärmende Feuer des Gemeinschaftsgefühls hat gelitten. Lieb gewordene Besitzstände wurden in den letzten Jahren gestrichen, vieles steht auf dem Prüfstand.
Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit bekommt neue Nahrung. Christel Humme, die Bundestagsabgeordnete, gleichzeitig auch Sprecherin ihrer Fraktion in der Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik, hat eine interessante Entdeckung gemacht in ihrer Partei. Jüngere Genossen bewerten soziale Gerechtigkeit anders als ältere Parteimitglieder. Was heute an Leistungen gestrichen oder gekürzt wird - beispielsweise bei den Sozialversicherungen - empfinden Rentner als ungerecht, die 30-Jährigen sehen das anders. Sie haben deutlich weniger Probleme mit dem Zurückfahren des Sozialstaates, weil sie es sind, die die Lasten der Vergangenheit und Gegenwart demnächst tragen müssen. Die unterschiedlichen Deutungen, was sozial gerecht ist und was nicht, erschweren die parteiinternen Diskussionen.
Und noch etwas erzeugt Druck auf die Sozialdemokratie: Jahrzehntelang glaubte sich die SPD im Besitz eines Abonnements für Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit, jetzt wird es plötzlich eng in der Mitte. Alle Parteien entdecken derzeit das Soziale in der Politik. Vor allem die CDU-NRW hat einen Angriff auf die Kernkompetenz der Genossen gestartet.
Ortstermin im Münsterland. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann besucht die kirchliche Beschäftigungsinitiative "Horizonte e.V." für Langzeitarbeitslose. Hier lernen sie, sich wieder an einen Arbeitsalltag zu gewöhnen. 175 Mitarbeiter sind bei dem eingetragenen Verein beschäftigt, die meisten sind Hartz-IV-Empfänger und arbeiten auf der Basis von Ein-Euro-Jobs. Sie verkaufen gebrauchte Möbel, reparieren Fahrräder oder sägen Fensterschmuck aus Holz zurecht. Der Christdemokrat Laumann nimmt sich Zeit für einen Rundgang. An der Laubsäge bleibt er stehen und spricht die junge Frau mit Kopftuch an, die die Maschine bedient:
"Das ist eine Laubsäge, ne? Fein. Und macht Ihnen das Spaß?
Ja, klar.
Haben Sie schon mal richtig gearbeitet, ich meine vorher?
Nein, habe ich noch nicht.
Sie sprechen aber gut Deutsch.
Ein bisschen, es geht schon.
Es wird schon klappen. ... ."
Laumann ist der bodenständige Gegenpart zum manchmal unnahbar und hölzern wirkenden Jürgen Rüttgers. Der Arbeitsminister ist bei Betriebsbesichtigungen in seinem Element: Arbeitern Mut machen, Unternehmer überreden, doch noch einen Arbeitsplatz mehr zu schaffen - das ist die Welt des CDA-Chefs. Der gelernte Maschinenschlosser kommt gut an, wenn er in der Provinz unterwegs ist, so auch bei den Angestellten von "Horizonte e.V.":
"Ich finde das gut, dass so ein Politiker auch mal vor Ort gucken kommen kommt.
Und dass er sich für die Arbeitslosen einsetzt. Das finde ich gut. Ich finde den Besuch auch sehr gut heute hier, damit er auch mal sieht, was so los ist, ne?"
Die SPD in Nordrhein-Westfalen befindet sich in einer paradoxen Situation. Lange hatte sie gebraucht, ihren Machtverlust im Mai 2005 nach über 39 Jahren in Regierungsverantwortung zu verkraften. Mittlerweile scheint sie sich aber am neuen Dasein als Oppositionspartei zu erfreuen. Der Spagat, einerseits Schröders schmerzhafte Agenda-Politik zu verkaufen und andererseits Sozial-Anwalt für die eigene Wählerklientel zu sein, muss nun nicht mehr gemacht werden.
Mit Hannelore Kraft hat die SPD in Nordrhein-Westfalen seit einigen Wochen eine neue Partei-Vorsitzende, die das Soziale in der politischen Arbeit als Kernkompetenz wieder zu neuer Bedeutung erwecken will. Das ist auch nötig, denn der SPD sind sozialpolitisch Konkurrenten erwachsen. Das neue Bemühen der NRW-Genossen um Gerechtigkeitskompetenz hat etwas von Wiedergutmachung gegenüber der Basis und den Wählern nach den Reform-Zumutungen der Schröder-Ära.
"Wir müssen die Kümmerer sein. Vor Ort, in den Gemeinden. Da zeigt sich soziale Politik der SPD. Das Programm ist wichtig - von oben sozusagen - aber von unten, in der Praxis, muss man sich wirklich sozial verhalten, sich zu kümmern, das ist der Schlüssel dazu zu zeigen, das Soziale ganz oben auf der Agenda zu haben."
Das klingt gut, bleibt aber unkonkret. Die blonde Mülheimerin hat längst die Angriffe der politischen Konkurrenz auf das emotionale Feld Sozialpolitik als Gefahr für die SPD im Westen ausgemacht. Eine Anbiederung an die Wähler um jeden Preis will die Neue an der Spitze des größten SPD-Landesverbandes jedoch nicht mitmachen. Sozial ja, aber Reformen, auch schmerzhafte, müssen sein, sagt sie.
"Da gab es die Linken, die WASG, die sagten, es könnte alles so bleiben wie es ist. Wir mussten aber Reformen angehen. Manchmal muss man dann verkraften, dass Leute uns dann verlassen, die einfach populistisch sagen, es könnte alles so bleiben wie es ist."
Das soziale Profil der SPD ist kaum noch erkennbar oder ist nahezu deckungsgleich mit dem der CDU, haben Politologen herausgefunden. Der Markenkern geht verloren.
"Die Zeiten, in denen sich die SPD als die Sozialstaatspartei positionieren konnte und im Ruhrgebiet 50 Prozent und mehr Wähler erreichen konnte, die sind vorbei,” glaubt Frank Decker, Professor für Politologie an der Bonner Universität. Auch deshalb, so der Parteienexperte, weil die NRW-SPD durch Ministerpräsident Jürgen Rüttgers soziale Vorstöße zunehmend unter Druck gerät. So sehr, dass die Genossen sogar Gefahr laufen, links überholt zu werden:
"Die SPD, ihre Führung, hat sich nicht programmatisch auf die Notwendigkeiten eingestellt. Ganz im Gegenteil: Sie hat sogar im Wahlkampf 98 sozialstaatliche Sicherheitsversprechen abgegeben, die sie dann in der Regierung wieder zurücknehmen musste. Das produziert natürlich enorme Glaubwürdigkeitsverluste. Nicht nur bei den eigenen Mitgliedern, sondern auch bei der Wahlklientel."
Dennoch sieht Decker Chancen für die SPD konstruktiv aus dem doppelten Dilemma des inneren und äußeren Drucks auf ihre Sozial-Programmatik herauszukommen. Zum Beispiel in einer Antwort zum Thema Mindestlohn.
"Diese Antwort würde sie sogar programmatisch in einen Vorteil bringen gegenüber der Union - und auch im Parteienwettbewerb. Die SPD kann nämlich sagen, dass die notwendige Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt begleitet werden kann, werden muss, durch eine Absicherung im Mindestlohn. Es muss auch eine Grenze nach unten geben. Beides sind zwei Seiten einer Medaille."
In Nordhrein-Westfalen ist Jürgen Rüttgers' Erfolgsrezept fürs erste aufgegangen. Die Wahlen hat er gewonnen mit seinem Spagat zwischen sozialpolitischer Verantwortung und notwendiger Erneuerung. Aber Jürgen Rüttgers ist nicht nur Ministerpräsident in Nordhrein-Westfalen. Er ist auch Vizevorsitzender der CDU im Bund. Und auch hier spielt er die sozialpolitische Karte aus. - Eine Strategie, die nicht nur Rüttgers hilft, sondern auch der CDU insgesamt nützlich sein kann, meint der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth:
"Das Problem der Union besteht ja darin, dass ja eigentlich diese Partei eben immer weniger aus solchen gestandenen Einzelpersönlichkeiten besteht, die mit ihrer wirklichen Prägekraft die Unverwechselbarkeit des Images einer Volkspartei herbeiführen. Und da versucht aber in diesem Zusammenhang Rüttgers dem linken Spektrum der Union sich zu nähern und eher als linker Flügelmann zu erscheinen. Er nutzt das auch, weil das von ihm als ehesten als eine Chance zur Wiederwahl in Nordrhein-Westfalen angesehen wird."
Das hilft ihm auch im Wettbewerb mit den anderen Ministerpräsidenten von der CDU:
"Er will ja nicht nur immer lesen, dass die Wulffs und die Kochs schon den Braten unter sich ausmachen. Sondern er will auch in Erinnerung führen, dass er der Vorsitzende des größten Landesverbandes ist und natürlich der Ministerpräsident ebenfalls des größten Bezirks einer Landesregierung."
Die Sozialpolitik ist Rüttgers nicht nur Zweck, sondern auch Mittel. Ein Alleinstellungsmerkmal in der CDU, das er nutzen möchte. Dass seine Vorstöße vom linken Flügel nicht immer gut ankommen, kann ihm deshalb nur recht sein. Nicht umsonst hat er seinen Vorwurf, die CDU müsse sich von Lebenslügen trennen, im letzten Sommerloch platziert. Denn da war sicher, dass er besonders viel Aufmerksamkeit ernten würde:
"Man kann nicht behaupten, dass die Senkung von Steuern automatisch zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Investitionen führt. Allein schon deshalb, weil viele Großunternehmen ja gar keine Steuern mehr in Deutschland bezahlen."
Und weil die Versuche mit der Lebenslüge so erfolgreich waren, legte Jürgen Rüttgers bald nach: Auch sein Vorschlag, älteren Arbeitslosen länger Arbeitslosengeld auszuzahlen als jüngeren, beherrschte wochenlang die Schlagzeilen. Dass die Idee nicht neu war (sie entsprach schon lange der CDU-Programmatik), nach Stammtisch schmeckte und auch nicht durchgerechnet war, machte da kaum noch etwas aus. Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth:
"Zu sagen, wer länger gearbeitet hat, das muss sich auch entsprechend lohnen, niederschlagen: Dieser Satz ist ja eigentlich richtig und kann von fast jedem unterschrieben werden. Aber in dieser Materie hat er die Sozialdemokraten auf dem falschen Fuß erwischt. Denn er erschien auf einmal als der Sozialere."
Diesmal aber strafte die eigene Partei Jürgen Rüttgers ab. Sein Vorschlag wurde beim CDU-Parteitag im November in Dresden zwar mit einer Selbstverständlichkeit bestätigt, die an Missachtung grenzte. Aber die Wiederwahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden schafft Rüttgers mit 58 Prozent der Delegierten-Stimmen nur beschämend schwach:
"Liebe Freunde, dass mir das Ergebnis nicht so toll gefällt, werden Sie verstehen. Aber ich kämpfe ja auf diesem Parteitag für eine bestimmte inhaltliche Position. Ich nehme die Wahl trotzdem an. Ich habe noch nicht alle überzeugt, aber ich will weiter für diese Position kämpfen, nämlich für eine CDU: sicher, sozial und frei."
Da wirkte er angeschlagen, aber aufrecht, der Führer der größten Arbeiterpartei in Nordhrein-Westfalen. Im Land kam das gut an: Ein Signal für Rüttgers' sozialpolitische Glaubwürdigkeit, das nicht nur CDA-Frau Elke Hannack in dankbarer Erinnerung hat:
"Da hat er sich durchgesetzt, und das war eine ganz tolle Sache. Für die ist er abgestraft worden in der CDU. Da, finde ich, hat sich dieser Status "Arbeiterführer" wirklich manifestiert. Da war er da, und da war er gut. Aber dabei ist es geblieben."
Und so haben die Sozialpolitiker in der Union - trotz der oftmals liberalen Regierungspolitik in Nordhrein-Westfalen - ihre Hoffnung auf Jürgen Rüttgers noch nicht ganz aufgegeben. Die nächsten Landtagswahlen sind schließlich erst 2010. Es wäre Zeit genug, das Steuer herumzureißen für den Ministerpräsidenten - wenn er es denn wollte:
Hannack: " Ich wünsche dem Jürgen Rüttgers ganz, ganz viel Mut, umzudenken und auch auf Gewerkschaften zuzugehen. Also wirklich den Mut, noch mal umzudrehen und zu sagen: Komm, Neuanfang, zweite Halbzeit beginnt, das Spiel ist noch nicht verloren, jetzt geh' ich auf die zu, und jetzt will ich mal gemeinsam mit denen Politik gestalten. Das wünsch ich mir."