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Sucht
Mit Gott in die Abstinenz

In den USA werden gezielt Suchtkranke und ihre Angehörigen zum Gottesdienst eingeladen. Beten als Therapie, Spiritualität gegen den Rausch - das kann funktionieren. Agnostiker kämpfen mit dem Konzept.

Von Katja Ridderbusch | 28.02.2017
    Ein Punkt des 12-Schritte-Programms der "Anonymen Alkoholiker": die spirituelle Erfahrung
    Ein Punkt des 12-Schritte-Programms der "Anonymen Alkoholiker": die spirituelle Erfahrung (picture-alliance / dpa / Markus Scholz )
    Eine kleine, karge Kapelle, drei lange Holzbänke und ein Altar aus Stein. Durch die schmalen Fenster scheint die kalte Februarsonne. Der Eingang liegt unauffällig in einem Seitenflügel der katholischen Kirche "Our Lady of the Assumption" - Maria Himmelfahrt - in Atlanta.
    Etwa 20 Gläubige sind hier versammelt, ältere und jüngere, Weiße, Schwarze, Latinos. Ein Mann mit grauer Haut und strähnigem Haar steht am Eingang, unsicher. Der Priester lädt ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen.
    Dies ist keine gewöhnliche Messe. Hier, in einer der größten katholischen Kirchengemeinden in Atlanta, versammeln sich am ersten Samstag im Monat Menschen, die von Sucht betroffen sind: Suchtkranke selbst, Angehörige und Freunde.
    Sucht durch spirituelle Erfahrung überwinden
    Sucht und Spiritualität: Die meisten Selbsthilfeorganisationen orientieren sich am 12-Schritte-Programm, das in den 30er Jahren in den USA von den "Anonymen Alkoholikern" entwickelt wurde. Danach ist Sucht eine Krankheit, die der einzelne nur mithilfe einer spirituellen Erfahrung zu überwinden vermag. Das kann "Gott" sein - oder, wie es in dem Programm heißt, "eine Macht, größer als wir selbst".
    Unter Wissenschaftlern ist die Wirkung des Programms umstritten. Dennoch ist es fester Teil der Therapie in vielen Suchtkliniken.
    Mark Dannenfelser ist Psychotherapeut und Gemeindereferent bei "Our Lady of the Assumption":
    "Die Grundidee ist: Es geht nicht allein darum, das akute Problem, also die Sucht, in den Griff zu bekommen. Sondern auch darum, sein Leben neu auszurichten, Glück zu finden, soziale Beziehungen zu pflegen."
    In den USA, noch stärker als in Deutschland, öffnen Kirchen fast aller Konfessionen ihre Gemeinderäume für Treffen der Selbsthilfegruppen.
    "But for a church to offer other services: not as common ..."
    Dass Kirchengemeinden allerdings spezielle Gottesdienste oder Sozialprogramme für Suchtkranke anbieten: Das sei eher selten, sagt Dannenfelser.
    Scham und Schuldgefühl
    Dabei ist der Bedarf groß: Jeder zehnte Amerikaner, so eine aktuelle Statistik, ist abhängig von Alkohol oder Drogen. Doch Scham und Schuldgefühle halten viele Menschen davon ab, Hilfe zu suchen, selbst in der eigenen Kirchengemeinde:
    "Tatsächlich kommen die wenigsten Besucher der Suchtmesse aus unserer eigenen Gemeinde. Weil Alkohol- und Drogenabhängigkeit mit einem Stigma belegt ist. Die Leute wollen nicht gesehen werden. Wir haben Besucher, die von weit her kommen und auch solche, die anderen Konfessionen angehören."
    Scham, Stigma, Schweigen: Jimmy Heath hat es geschafft, den Kreislauf zu durchbrechen.
    "I'm Jimmy Heath, and I'm an addict."
    So stellt sich der 55-jährige Baumpfleger heute vor, lässig und gutgelaunt, als er nach der Messe bei Kaffee und Donuts mit anderen Besuchern spricht. Aber es habe gedauert, bis er soweit war, sagt er.
    "It was about one year after being sober that I made that decision ..."
    Als er etwa ein Jahr trocken gewesen sein, habe er entschieden: Das bin ich, das habe ich getan, das tue ich heute. Nur wenn er seine Geschichte erzähle, könne er sich selbst und auch anderen helfen, sagt er.
    Heath ist ein wuchtiger Mann mit rundem Kopf, grauen Locken und glucksendem Lachen. Er war schwer alkohol- und drogenabhängig, fast 30 Jahre lang. Bis er, nach vielen vergeblichen Anläufen, vor 10 Jahren einen Entzug machte.
    Heath beteiligt sich an der Suchtmesse, wann immer er kann. Sein Glaube habe ihm bei seinem Entzug geholfen, sagt er:
    "Always being a man of faith and participating in faith ..."
    Er sei schon immer ein tiefgläubiger Mensch gewesen, aber der Entzug habe ihn noch näher an Gott geführt, sagt er. Gott habe für ihn getan, was er nicht für nicht für sich selbst habe tun können.
    Viele Wege zur Abstinenz
    Andere Suchtkranke, vor allem jüngere, tun sich dagegen schwer, wenn sie hören, dass ihnen Spiritualität beim Kampf gegen die Abhängigkeit helfen soll. Michael Fishman ist Suchtmediziner in Atlanta und spezialisiert auf die Behandlung junger Erwachsener.
    "Agnostiker oder Menschen, die organisierter Religion skeptisch gegenüberstehen, kämpfen mit diesem Konzept. Einige freunden sich irgendwann mit der Idee an, andere sind durch und durch anti-spirituell. Sie können diese Hürde nicht überwinden."
    Er versuche dann, mit diesen Patienten andere Verhaltensmechanismen und Strategien zu entwickeln, sagt Fishman.
    "Es gibt ja nicht nur den einen Weg aus der Abhängigkeit. Viele Verfechter des 12-Schritte-Programms sind sehr dogmatisch, meinen, dass nur ihre Methode allein funktioniert. Ich sehe das nicht so, ich bin da offen. Es gibt viele Wege zur Abstinenz."
    Fishman, 56 Jahre alt, ist ein großer Mann mit behutsamen Bewegungen. Er war selbst viele Jahre opiatabhängig. Er stand am Ende seiner Facharztausbildung, als ihm klar wurde: Er brauchte Hilfe.
    "Ich bin im jüdischen Glauben erzogen worden, aber ich praktiziere meine Religion heute kaum noch. Dennoch: Als ich 1989 mit dem Entzug begann, habe ich meinen Rabbiner kontaktiert. Ich war völlig haltlos, mein Leben war auseinandergefallen. Diese Erfahrung hat mich zwar nicht religiös werden lassen. Aber Spiritualität im weiteren Sinne hat mir geholfen."
    Wenn seine jungen Patienten Zweifel haben, erzählt er ihnen seine eigene Geschichte. Oder er bringt sie zusammen mit ehemaligen Kranken, die von ihren Erfahrungen mit dem 12-Schritte-Programm berichten, positiv oder negativ.
    "Das ist nur ein Angebot. Wir drängen die Leute ja nicht, an Gott zu glauben. Ich schlage ihnen nur vor, es einfach mal mit dem spirituellen Ansatz zu versuchen. Was haben sie denn zu verlieren?"
    Das mögen auch die Besucher denken, die an diesem Samstag zum ersten Mal an der Suchtmesse in Atlanta teilgenommen haben. Einige sagen, sie wollen vielleicht wiederkommen.