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Südkorea
Rebellion gegen Konfuzius

Das konfuzianische System regelt die Beziehungen zwischen den Generationen, so auch in Südkorea. Die Eltern und Großeltern zu ehren, ist ein Gebot. Die Jugend vergesse ihre Pflicht, wird geklagt. Doch junge Leute stehen unter enormem Leistungsdruck und stellen alte Weisheiten in Frage.

Von Horst Blümel |
Eine aus Bronze gefertigte Konfuzius-Statue steht vor einer Halle in Pekings historischem Konfuzius-Tempel, aufgenommen am 15.09.2008. Der zentrale Wert seiner Lehren war die Ordnung, die seiner Meinung nach durch Achtung vor anderen Menschen und Ahnenverehrung erreichbar sei. Im Mittelpunkt seines Denkens stand der "Edle", ein moralisch einwandfreier Mensch.
Die Lehren des Konfuzius finden in Südkorea immer weniger Beachtung (Picture Alliance / dpa / Arne Büttner)
Der Jongmyo-Park in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. An diesem sonnigen Tag sitzen sich einige ältere Männer an kleinen Tischen gegenüber, sie sind in das Brettspiel Go vertieft. Mit in Falten gezogener Stirn grübeln manche über ihren nächsten Zug nach. Unweit der Spieler sitzen ein paar sehr alte Leute auf den Parkbänken. Sie schauen, in Gedanken versunken, vor sich hin.
"Früher war es selbstverständlich, dass sich jeder Koreaner um seine Eltern kümmerte. Diese Tradition entstammt dem Konfuzianismus und war eine moralische Pflicht. Wer dieser Aufgabe damals nicht nachkam, wurde vom Staat dafür bestraft."
Sagt Professor David A. Mason von der Sejong University in Seoul.
"Als ich in den frühen 80er-Jahren hierher kam, übernahmen noch viele Leute Verantwortung für ihre Eltern. Und diese hatten dafür gesorgt, dass ihre Kinder eine exzellente Bildung erhielten. Und wenn sie heirateten, bekamen die Kinder von den Eltern ein Haus oder eine Wohnung gestellt. Im Gegenzug erwarteten die Eltern, dass sie im Alter von ihren Nachkommen nicht alleingelassen wurden und sie bis zu ihrem Tod versorgt waren. Dies war so eine Art soziales Geschäft. Aber das hat sich total verändert."
"Die Beziehungen funktionieren nicht mehr"
Das Sich-Kümmern um die Eltern fußt auf der Lehre des chinesischen Philosophen Konfuzius, der im 6. Jahrhundert vor Christus geboren wurde. Seine Grundsätze bestimmten in der Vergangenheit in Korea die Beziehungen der Menschen untereinander. Konfuzius nannte in seiner Lehre drei soziale Pflichten, denen jeder nachkommen sollte: die Verehrung der Eltern und Ahnen, die Aufrechterhaltung von Anstand und Sitte und Loyalität. Diese Regeln sollten in den hierarchischen Beziehungen innerhalb der Familie, der Gemeinschaft und im Staatswesen befolgt werden. Ein harmonisches Miteinander sollte in jeder Beziehung angestrebt werden, angefangen mit einem harmonischen Verhältnis zwischen Ehepartnern und innerhalb der Familie. Professor Mason sagt:
"Die Beziehungen zwischen jungen Frauen und Männern funktionieren nicht mehr. Und es wird kaum noch geheiratet. Viele rebellieren gegen das konfuzianische System, welches die Beziehungen zwischen Ehefrau und Ehemann und alten und jungen Leuten klar definiert. Die alten Menschen sind oft wütend, dass die jungen Leute sagen: Nein – wir machen das nicht mehr!"
Seit Anfang der 1960er-Jahre erlebte Südkorea einen rasanten Wirtschaftswandel – das Land entwickelte sich von einem Agrarstaat zu einer der führenden Industrienationen. Gut bezahlte Arbeitsplätze gab es nun in den großen Städten. Die jungen Leute wanderten vom Land ab in die Städte und ihre Eltern blieben allein zurück. Und die Besuche ihrer Kinder bleiben aus. Ihr Augenmerk gilt der eigenen Familie.
"Ich verwende alle meine Ressourcen für meine Kinder. Damit sie an der besten Uni studieren und danach ein gutes Leben führen können. Aber dies kann man seinen Eltern in Korea nicht sagen. Deshalb kümmert man sich einfach nicht mehr um sie. Irgendwann verstehen die Eltern dann die Botschaft und wenden sich betreten ab. Es ist mit sehr großer Scham behaftet, zu bekennen, dass die eigenen Kinder sich nicht um einen kümmern. Und wenn ein Vertreter der Regierung vorbeikommt und nachfragt, wird gesagt: Aber klar doch, meine Kinder sorgen für mich!"
Die Hälfte der koreanischen Rentner ist arm
Nur etwa ein Drittel der Senioren in Korea haben Anspruch auf Unterstützung vom Staat, sie bekommen etwa 200 Euro pro Monat Rente. Dieser Betrag deckt aber nur ein Viertel der Kosten, die eine Person in einer kleinen Wohnung zum Leben braucht. Um überhaupt ein wenig Geld zur Verfügung zu haben, durchwühlen einige alte Menschen Abfallhaufen nach Papier und Metall. An bestimmten Sammelstellen bekommen sie dafür dann etwas Geld. Gemäß einer Studie gilt die Hälfte der alten Menschen in Korea als arm.
Die Bewohner eines privaten Altenheims außerhalb von Seoul haben keine finanziellen Sorgen. Und außerdem leiden sie nicht unter Einsamkeit, wie viele andere alte Menschen in Korea. Eine Bewohnerin erzählt:
"Meine Tochter wohnt in Seoul und hat mir dieses Heim empfohlen. Ich hatte eine Operation und konnte danach nur liegen. Als es besser wurde, hat meine Tochter gesagt: Ich kenne dieses gute Heim! Ich konnte ja nicht laufen und zurück in meine Wohnung. Da wäre ich ja ganz allein gewesen - unmöglich! Deshalb hat meine Tochter darauf bestanden, dass ich in dieses Heim gehe."
"Unser Bildungssystem ist die Hölle"
Aber nicht nur die alten Leute leiden unter den Lebensumständen in Korea, auch Kinder und Jugendliche sind betroffen. Viele der Heranwachsenden sind dem enormen Leistungsdruck in der Schule nicht gewachsen: Sie sehen oft nur noch eine Lösung und nehmen sich das Leben. Sung Ae, Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, hat am eigenen Leib erfahren, welcher Belastung man ausgesetzt ist, um später einen der begehrten Studienplätze an den besten Universitäten im Land zu bekommen:
"Wir haben das nur durch unseren guten Zusammenhalt untereinander geschafft. Man geht morgens um 8 Uhr zur Schule und kommt von dort erst um 23 Uhr zurück. Manche sind sogar erst nach Mitternacht zu Hause. Das ist wirklich unmenschlich. Wo sind da die Menschenrechte unserer Kinder?"
Eine Schulklasse in Südkorea, im Vordergrund beugt sich ein ca. zehnjähriges Mädchen über ein Papier und schreibt voller Ernst.
Das Schulsystem Südkoreas ist mitverantwortlich für die hohe Selbstmordrate im Land (imago / Xinhua)
Auch Professor Jae Yong Kim von der Wonkwang University kritisiert das Bildungssystem in Südkorea:
"Unser Bildungssystem ist die Hölle. Vor 40 Jahren habe ich genau das Gleiche erlebt. Ich habe das damals gehasst. Nichts hat sich seitdem verändert. Keine Freizeit und keinen Spaß am Leben, nur Lernen! Und die Schüler haben immer noch großen Respekt vor ihren Lehrern und stellen keine unangenehmen Fragen. Heute unterrichte ich selbst und möchte zu meinen Studenten ein Verhältnis auf Augenhöhe haben. Aber dies ist sehr schwer: Die Kinder lernen schon von klein an, sich ehrfürchtig zu verhalten."
Die Selbstmordrate ist hoch
"Hier in Korea bringt man gebildeten Menschen große Achtung entgegen und ihre Meinung ist sehr gefragt. Regierungsvertreter und auch Leute mit viel Geld sollen sich vor Professoren und Akademikern verneigen. Menschen mit der besten Bildung sollen die Gesellschaft führen. Bildung ist in Korea enorm wichtig und jeder soll sich darauf konzentrieren."
Sagt Professor Mason. Trotz der vielen Selbstmorde unter den Kindern stellen nur wenige Eltern das Bildungssystem in Frage und denken an die Gesundheit ihrer Kinder, wie Sung Ae vor Kurzem erfahren musste:
"Ich habe gerade erst von einem Grundschüler gehört, der seinen Lehrer gefragt hat: Wozu lebe ich eigentlich? Ich mache ja nichts außer zu lernen! Und als der Tutor das den Eltern erzählt hat, sagten diese: Das können wir nicht nachvollziehen. Schließlich geht es doch hier allen so."
In Südkorea nehmen sich jeden Tag 50 Menschen das Leben, doppelt so viele wie in Deutschland oder Frankreich. Und wenn sich nicht grundlegend etwas am koreanischen Bildungssystem ändert und Politiker weiterhin nur vor den Wahlen versprechen, die Lebenssituation der alten Leute verbessern zu wollen und dieser Aussage keine Taten folgen, wird Südkorea die hohe Selbstmordrate unter alten Menschen und Kindern beibehalten. Verzweifelte springen dann weiterhin in Seoul von Brücken in den Han-Fluss, trotz der Sensoren am Geländer und Überwachungskameras. Und auf dem Land öffnen auch in Zukunft alte und einsame Bauern ihren Giftschrank, holen Pestizide heraus und schlucken sie, um ihrer misslichen Lage ein Ende zu bereiten.