Als "weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt" charakterisierte sich der alte Carl Schmitt einmal, und neben seiner Lust an Paradoxien klingt hier auch die ganze Verstocktheit eines Selbstbilds an, in dem sich Schmitt nach 1945 als Besiegter, Sündenbock und Unschuldslamm inszenierte. Im sauerländischen Plettenberg beginnt und endet seine dramatische Vita: Hier wird Carl Schmitt 1888 in kleinen katholischen Verhältnissen geboren, hier stirbt er 1985 als weltweit einflussreicher Intellektueller, an dem sich die Geister scheiden.
Dazwischen liegt ein Leben der Extreme. Es ist eine fulminante Karriere, die den ehrgeizigen Schmitt binnen weniger Jahre an die Spitze der deutschen Staatsrechtslehre bringt. Von 1933 bis 1936 dient sich der Kritiker des liberalen Rechtsstaats den neuen Machthabern an, wird zum beflissenen juristischen Sekundanten der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik.
Nach dem Krieg seines Lehramtes enthoben, bleibt Schmitt von der Universität ausgeschlossen. Schnell findet er aber wieder Anschluss an den wissenschaftlichen und politischen Diskurs, sammelt neue Schüler um sich, darunter der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und der Historiker Reinhart Koselleck. Zur Wirkung Schmitts in der Bundesrepublik tritt eine internationale Rezeption, die sich in den vergangenen Jahren intensiviert hat. Die Fülle der Literatur ist nicht mehr zu überblicken. An einer grundlegenden, zum Standardwerk tauglichen Biografie fehlte es bislang jedoch.
Jetzt hat der Politikwissenschaftler Reinhard Mehring ein umfangreiches Buch vorgelegt, das die Lücke füllen soll. Mehring dürfte gegenwärtig der Einzige sein, der mit dem immensen Material des Nachlasses vollständig vertraut ist, in vielen kenntnisreichen Einzelstudien hat er sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Schmitt befasst. Nun unternimmt er den Versuch einer Historisierung von Leben und Werk – und das Ergebnis ist so enttäuschend wie bedauerlich. Mehring verliert sich in den Fiktionen und Selbstinszenierungen seines Protagonisten, die er beschreibt, ohne sie doch interpretatorisch zu durchdringen:
Schmitt bot viele Interpretamente und "Mythen" zum Verständnis seines ereignisreichen und seltsamen Lebens an. Dabei griff er nicht in die deutsche Mythenkammer. Er spiegelte sich in Don Quijote, Othello und Don Juan, im katholischen Gegenrevolutionär Donoso Cortés, in Machiavelli, Thomas Hobbes oder auch der Novellenfigur Benito Cereno, sah sich nach 1945 in der Rolle des gescheiterten Intellektuellen als Hamlet oder als Hoftheologe Eusebius. Solche Chiffren muss der Biograf vorsichtig aufnehmen und als Selbstverständnis rekonstruieren.
Der Autor verschwindet hinter dem Kaleidoskop eines Lebens, das er zugleich als Spiegel überindividueller Erfahrung, als repräsentativ für die Zeitläufe verstanden sehen will. Mehrings Buch bietet dem Leser ...
... grob gesagt, die alte Geschichte vom Aufstieg und Fall: Die Biografie eines sozialen Aufsteigers und Außenseiters, der politische Bedingungen und Gründe von Verfassungen thematisierte und eine neue Verfassungstheorie entwickelte. Es ist – Macht und Geist – auch ein Fallbeispiel von den Risiken persönlicher Verstrickung eines praktisch engagierten Verfassungslehrers: vom schrittweisen Absturz eines hochbegabten und leicht verstiegenen Intellektuellen in den nazistischen und antisemitischen Wahn, von dem Schmitt sich auch nach 1945 nie ganz erholte. In der Bundesrepublik fand er dennoch bedeutende Schüler, die sein Werk für ein zweites Leben in liberaler Rezeption retteten.
Dieses Werk selbst, das politische und juristische Denken Carl Schmitts, ist für Mehring aber offenbar ein alter Hut, der längst in die ideengeschichtliche Klamottenkiste gehört.
Die heutige Bundesrepublik ist nicht mehr nach dem Drehbuch des Nationalstaats verfasst, dem Schmitt mit seiner Verfassungslehre folgte. Seine direkte Wirkung ist heute vorbei.
Sieht man einmal von den mitunter beachtlichen Folgen auch mittelbarer Wirkungen und von der Präsenz Schmittscher Kategorien in aktuellen Debatten um Konstitutionalisierung, Ausnahmezustand, Souveränität und humanitäre Intervention ab, so erstaunt es vor allem, eine solche Begründung aus der Feder eines Politikwissenschaftlers zu lesen. Denn warum sollte man sich, folgt man Mehrings Logik, dann heute noch mit Hobbes oder Machiavelli befassen?
An seinem Protagonisten Carl Schmitt interessiert den Autor vor allem dessen "seltsames Leben", eine brodelnde Mischung aus Sex, Lügen und Alkohol, Politik und Verrat, Heiratsschwindel und Staatsrechtslehrertagung. Dazu seine lebenslangen antisemitischen Affekte, die ab 1933 offen hervortreten, nicht nur in Publikationen: Jäh bricht Schmitt im Moment des Machtwechsels den Kontakt mit jüdischen Freunden ab, darunter sein Verleger Ludwig Feuchtwanger.
Schmitts "erotische Ausnahmezustände" faszinieren Mehring so sehr wie die atemberaubende Produktivität des Gelehrten, der 1927 in nur vier Monaten seine "Verfassungslehre" schreibt und bis in die letzten Lebensjahre täglich viele Seiten Text zu Papier bringt. 1928 wechselt Schmitt von Bonn in die Hauptstadt, und ...
... nun beginnt das Berliner Abenteuer eigentlich erst. Schmitt greift am Tiergarten und Kurfürstendamm, Unter den Linden und am Potsdamer Platz ständig Prostituierte auf. Regelmäßig hält er, in Verbindung mit der Hochschule für Politik, juristische Schulungsvorträge im Auswärtigen Amt ab. ( ... ) Mit Alice Berend spaziert er durch den Tiergarten ... Mit Karl Eschweiler besucht er einen Stummfilm-Klassiker über die Passion der Johanna von Orleans.
Und so geht es fort und fort. Daten, Namen, Orte. Eine rastlose tour de force durch das wilde Leben des Carl Schmitt, in dem er seiner Nachwelt immer neue Fährten legt.
Er bewahrte ( ... ) nahezu unsortiert jede Art von Notizen, sammelte nicht nur Entwürfe, Manuskripte und Typoskripte, sondern auch Druckfahnen, Verlagsprospekte und Rezensionen, Zeitungsartikel, Exzerpte, Hotelreservierungen, Getränkerechnungen, einfach alles. Kreuz und quer verzettelte er diverse Gedanken, Schriftarten und Sprachen. Ständig wechselte er zwischen Kurz- und Langschrift in den gängigen Wissenschaftssprachen. ( ... ) All das steckt im Labyrinth des Nachlasses.
Die kleinteilige Gliederung des Buches in 32 Kapitel mit manchmal originellen, mitunter nur banalen Titeln und Zwischenüberschriften suggeriert Ordnung, wo der Autor den Überblick verloren hat und nur noch am Kalender entlang erzählt. Und dies in einer oft unglückliche Sprache, die sich dem Leser in rheinischem Altmännerton anbiedert. Dabei wünschte man sich, wenn es um den dadaistisch geprägten Sprachkünstler Schmitt geht, ein wenig subtile Skepsis und Ironie anstelle überzogener Wertungsaskese. Bei Mehring findet diese einen skurrilen Höhepunkt, wenn er eine Liste mit 42 "Entscheidungsgründen für den Nationalsozialismus" präsentiert. Die müssten Schmitt nicht alle "handlungsleitend bewusst" gewesen sein. Aber manchmal weiß der Biograf eben mehr als sein Protagonist:
Zweifellos betrachtet Schmitt Völkermord und Holocaust als Verbrechen. Lebenslang wird er aber darüber schweigen.
Reinhard Mehring hat ein opulentes Buch geschrieben, eine monumentale, unübersichtliche Chronik des Lebens und Werkes des wirkmächtigen Rechtswissenschaftlers, an der künftig niemand vorbeikommen wird, der sich mit Carl Schmitt beschäftigt. Doch der Autor ist sich und seinen Lesern die Stimme des Biografen schuldig geblieben. Er hat sich im Labyrinth des Nachlasses, im Spiegelkabinett der schillernden Selbstmythisierungen seines Protagonisten verloren. Auf Carl Schmitts biografische Entzauberung bleibt weiter zu warten.
Alexandra Kemmerer war das über: Carl Schmitt: "Aufstieg und Fall. Eine Biografie". Verlag C.H. Beck, München. Rund 700 Seiten für Euro 29,90 und ab morgen im Buchhandel.
Dazwischen liegt ein Leben der Extreme. Es ist eine fulminante Karriere, die den ehrgeizigen Schmitt binnen weniger Jahre an die Spitze der deutschen Staatsrechtslehre bringt. Von 1933 bis 1936 dient sich der Kritiker des liberalen Rechtsstaats den neuen Machthabern an, wird zum beflissenen juristischen Sekundanten der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik.
Nach dem Krieg seines Lehramtes enthoben, bleibt Schmitt von der Universität ausgeschlossen. Schnell findet er aber wieder Anschluss an den wissenschaftlichen und politischen Diskurs, sammelt neue Schüler um sich, darunter der spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und der Historiker Reinhart Koselleck. Zur Wirkung Schmitts in der Bundesrepublik tritt eine internationale Rezeption, die sich in den vergangenen Jahren intensiviert hat. Die Fülle der Literatur ist nicht mehr zu überblicken. An einer grundlegenden, zum Standardwerk tauglichen Biografie fehlte es bislang jedoch.
Jetzt hat der Politikwissenschaftler Reinhard Mehring ein umfangreiches Buch vorgelegt, das die Lücke füllen soll. Mehring dürfte gegenwärtig der Einzige sein, der mit dem immensen Material des Nachlasses vollständig vertraut ist, in vielen kenntnisreichen Einzelstudien hat er sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Schmitt befasst. Nun unternimmt er den Versuch einer Historisierung von Leben und Werk – und das Ergebnis ist so enttäuschend wie bedauerlich. Mehring verliert sich in den Fiktionen und Selbstinszenierungen seines Protagonisten, die er beschreibt, ohne sie doch interpretatorisch zu durchdringen:
Schmitt bot viele Interpretamente und "Mythen" zum Verständnis seines ereignisreichen und seltsamen Lebens an. Dabei griff er nicht in die deutsche Mythenkammer. Er spiegelte sich in Don Quijote, Othello und Don Juan, im katholischen Gegenrevolutionär Donoso Cortés, in Machiavelli, Thomas Hobbes oder auch der Novellenfigur Benito Cereno, sah sich nach 1945 in der Rolle des gescheiterten Intellektuellen als Hamlet oder als Hoftheologe Eusebius. Solche Chiffren muss der Biograf vorsichtig aufnehmen und als Selbstverständnis rekonstruieren.
Der Autor verschwindet hinter dem Kaleidoskop eines Lebens, das er zugleich als Spiegel überindividueller Erfahrung, als repräsentativ für die Zeitläufe verstanden sehen will. Mehrings Buch bietet dem Leser ...
... grob gesagt, die alte Geschichte vom Aufstieg und Fall: Die Biografie eines sozialen Aufsteigers und Außenseiters, der politische Bedingungen und Gründe von Verfassungen thematisierte und eine neue Verfassungstheorie entwickelte. Es ist – Macht und Geist – auch ein Fallbeispiel von den Risiken persönlicher Verstrickung eines praktisch engagierten Verfassungslehrers: vom schrittweisen Absturz eines hochbegabten und leicht verstiegenen Intellektuellen in den nazistischen und antisemitischen Wahn, von dem Schmitt sich auch nach 1945 nie ganz erholte. In der Bundesrepublik fand er dennoch bedeutende Schüler, die sein Werk für ein zweites Leben in liberaler Rezeption retteten.
Dieses Werk selbst, das politische und juristische Denken Carl Schmitts, ist für Mehring aber offenbar ein alter Hut, der längst in die ideengeschichtliche Klamottenkiste gehört.
Die heutige Bundesrepublik ist nicht mehr nach dem Drehbuch des Nationalstaats verfasst, dem Schmitt mit seiner Verfassungslehre folgte. Seine direkte Wirkung ist heute vorbei.
Sieht man einmal von den mitunter beachtlichen Folgen auch mittelbarer Wirkungen und von der Präsenz Schmittscher Kategorien in aktuellen Debatten um Konstitutionalisierung, Ausnahmezustand, Souveränität und humanitäre Intervention ab, so erstaunt es vor allem, eine solche Begründung aus der Feder eines Politikwissenschaftlers zu lesen. Denn warum sollte man sich, folgt man Mehrings Logik, dann heute noch mit Hobbes oder Machiavelli befassen?
An seinem Protagonisten Carl Schmitt interessiert den Autor vor allem dessen "seltsames Leben", eine brodelnde Mischung aus Sex, Lügen und Alkohol, Politik und Verrat, Heiratsschwindel und Staatsrechtslehrertagung. Dazu seine lebenslangen antisemitischen Affekte, die ab 1933 offen hervortreten, nicht nur in Publikationen: Jäh bricht Schmitt im Moment des Machtwechsels den Kontakt mit jüdischen Freunden ab, darunter sein Verleger Ludwig Feuchtwanger.
Schmitts "erotische Ausnahmezustände" faszinieren Mehring so sehr wie die atemberaubende Produktivität des Gelehrten, der 1927 in nur vier Monaten seine "Verfassungslehre" schreibt und bis in die letzten Lebensjahre täglich viele Seiten Text zu Papier bringt. 1928 wechselt Schmitt von Bonn in die Hauptstadt, und ...
... nun beginnt das Berliner Abenteuer eigentlich erst. Schmitt greift am Tiergarten und Kurfürstendamm, Unter den Linden und am Potsdamer Platz ständig Prostituierte auf. Regelmäßig hält er, in Verbindung mit der Hochschule für Politik, juristische Schulungsvorträge im Auswärtigen Amt ab. ( ... ) Mit Alice Berend spaziert er durch den Tiergarten ... Mit Karl Eschweiler besucht er einen Stummfilm-Klassiker über die Passion der Johanna von Orleans.
Und so geht es fort und fort. Daten, Namen, Orte. Eine rastlose tour de force durch das wilde Leben des Carl Schmitt, in dem er seiner Nachwelt immer neue Fährten legt.
Er bewahrte ( ... ) nahezu unsortiert jede Art von Notizen, sammelte nicht nur Entwürfe, Manuskripte und Typoskripte, sondern auch Druckfahnen, Verlagsprospekte und Rezensionen, Zeitungsartikel, Exzerpte, Hotelreservierungen, Getränkerechnungen, einfach alles. Kreuz und quer verzettelte er diverse Gedanken, Schriftarten und Sprachen. Ständig wechselte er zwischen Kurz- und Langschrift in den gängigen Wissenschaftssprachen. ( ... ) All das steckt im Labyrinth des Nachlasses.
Die kleinteilige Gliederung des Buches in 32 Kapitel mit manchmal originellen, mitunter nur banalen Titeln und Zwischenüberschriften suggeriert Ordnung, wo der Autor den Überblick verloren hat und nur noch am Kalender entlang erzählt. Und dies in einer oft unglückliche Sprache, die sich dem Leser in rheinischem Altmännerton anbiedert. Dabei wünschte man sich, wenn es um den dadaistisch geprägten Sprachkünstler Schmitt geht, ein wenig subtile Skepsis und Ironie anstelle überzogener Wertungsaskese. Bei Mehring findet diese einen skurrilen Höhepunkt, wenn er eine Liste mit 42 "Entscheidungsgründen für den Nationalsozialismus" präsentiert. Die müssten Schmitt nicht alle "handlungsleitend bewusst" gewesen sein. Aber manchmal weiß der Biograf eben mehr als sein Protagonist:
Zweifellos betrachtet Schmitt Völkermord und Holocaust als Verbrechen. Lebenslang wird er aber darüber schweigen.
Reinhard Mehring hat ein opulentes Buch geschrieben, eine monumentale, unübersichtliche Chronik des Lebens und Werkes des wirkmächtigen Rechtswissenschaftlers, an der künftig niemand vorbeikommen wird, der sich mit Carl Schmitt beschäftigt. Doch der Autor ist sich und seinen Lesern die Stimme des Biografen schuldig geblieben. Er hat sich im Labyrinth des Nachlasses, im Spiegelkabinett der schillernden Selbstmythisierungen seines Protagonisten verloren. Auf Carl Schmitts biografische Entzauberung bleibt weiter zu warten.
Alexandra Kemmerer war das über: Carl Schmitt: "Aufstieg und Fall. Eine Biografie". Verlag C.H. Beck, München. Rund 700 Seiten für Euro 29,90 und ab morgen im Buchhandel.