Stefan Koldehoff: Hubert Winkels, Literaturredakteur hier im Deutschlandfunk: Ist das, was wir heute erleben, das Ende des Suhrkamp-Verlages, wie wir ihn bisher kannten?
Hubert Winkels: Ich glaube, um so eine entscheidende Aussage zu machen, reicht kein Einzelereignis, aber es ist die Summe der Ereignisse, auf die Sie schon hingewiesen haben, die so etwas wie eine kritische Masse erreichen können, wo etwas Neues irgendwann entsteht. Das ist ja die letzte, verlagsintern gesehen, kleine Katastrophe, die sich ereignet hat in einer Folge von kleineren Katastrophen, dass dieser Stiftungsbeirat zurückgetreten ist. Man muss sagen, es war absehbar, und jeder kluge Kommentator hat es eigentlich vorhergesehen, weil dieses fünfköpfige Gremium ohne Gesichtsverlust nicht mehr aus dieser Situation kam. In einer absolut entscheidenden Frage den Verlag betreffend wurde er nicht gefragt. Wäre er gefragt worden, hätten wir es sicherlich gehört, vernommen, hätte er zugestimmt, hätte Ulla Berkéwicz-Unseld bei der Entscheidung, Günther Berg von der Geschäftsführung ins zweite Glied zu drängen, es ja auch öffentlich gemacht, das heißt, wenn Figuren wie Habermas, Muschg und Kluge in solchen Fragen nicht gehört werden, können sie eigentlich nur zurücktreten. Nun sind diese fünf ja gerade von Siegfried Unseld ausgewählt worden, weil sie das Gesicht von Suhrkamp in gewisser Weise nach außen hin prägen. Es ist ja fast eine symbolische Geste. Wirkliche Entscheidungsmacht haben sie nicht. Deshalb muss man auch den Rücktritt als symbolische Geste sehr ernst nehmen, und er ist von daher vielleicht ein wichtigeres Signal als das Ausscheiden von Günter Berg aus dem Suhrkamp-Verlag überhaupt. Man kann jetzt nach hinten und nach vorne diese Frage verlängern. Was kommt als Nächstes? Es wird einen nächsten Schritt geben, und wann ist ein Zustand erreicht, in dem etwas ganz Neues entsteht. Dieses ganz Neue ist natürlich sehr schwer zu fassen, weil verlagsinterne Umwälzungen sich dem Publikum eigentlich gar nicht mitteilen, sondern nur über eine sehr lange Zeitdauer. Dann würde nämlich am Verlagsprogramm sichtbar, in welche Richtung es geht. Das ist sehr schwer auszumachen, aber dass es für die Institution Suhrkamp heute ein besonderer Tag ist in dieser Form der symbolischen Katastrophe, wenn man das so sagen darf, glaube ich, das darf man festhalten.
Koldehoff: Gehen Sie denn davon aus, dass das bewusst in Kauf genommen wurde von der neuen Verlagsleitung dadurch, dass sie sich so verhalten hat, wie sie sich verhielt, nämlich den Beirat nicht gefragt hat, oder hat man gehofft, dass es irgendwie auch mit dieser illustren Runde weitergehen könnte?
Winkels: Das ist schwer. Es ist klar, dass meine Antwort nur spekulativ sein kann, aber wenn ich davon ausgehe, dass Ulla Berkéwicz-Unseld eine sehr rationale, vernünftige und kluge Person ist – und das tue ich -, dann muss ich eigentlich unterstellen, dass es eine Folge sinnvoller, konsequenter Schritte zur völligen Machtübernahme in diesem Haus sind. Alles andere würde sie quasi der Naivität zeihen, was mir noch ferner läge. Man muss sagen, es war geplant. Man muss ja sehen, Siegfried Unseld hat eine relativ komplizierte Konstruktion geschaffen mit verschiedenen Wertigkeiten. Ich will jetzt nicht die ganze Verlagskonstruktion auseinanderfieseln, aber es war klar, es gibt im Hintergrund eine Art Aufsichtsratfunktion, wo Ulla Berkéwicz eine wichtige, aber keine operative Funktion hatte. Es gibt den operativen geschäftsführenden Vorstand, wo Günter Berg, eher ein Macher, untypisch für Suhrkamp-Verhältnisse das Sagen hatte, und es gab sozusagen als Ausgleich dieses gesichtsprägende Gremium, das heute zurückgetreten ist. Zwei dieser drei Instanzen sind mittlerweile nicht mehr so wie gedacht. Dafür ist Ulla Berkéwicz jetzt in jedem Punkt am Zug, nämlich auch in der Neubesetzung dieses Gremiums, das heute zurückgetreten ist, wird sie auch die Auswahl treffen. Natürlich kann sie nur Menschen aus dem Verlagsumfeld, aus den Verlagsautoren nehmen, die mit ihr in der ganzen Angelegenheit sympathisieren. Sie hat quasi komplett das Feld abgeräumt, das Feld besetzt. Ich meine, so muss man das strategisch klar auf den Punkt bringen.
Koldehoff: Suhrkamp ist immer ein sehr besonderer Verlag gewesen. Welcher andere Verlag würde einem einfallen, der so lange die Diskurshoheit in der Bundesrepublik innehatte? Es gab die so genannte viel gerühmte Suhrkamp-Kultur. Ist Suhrkamp heute immer noch ein besonderer Verlag?
Winkels: Ja. Übrigens fällt einem gar kein Verlag ein. Es gibt, wenn man Einflussgrößen halbinstitutioneller Art suchen würde, vielleicht die Gruppe 47, das war aber kein Verlag, wie man weiß. Der nächstwichtigste Verlag für die kulturelle Entwicklung – das Ökonomische lassen wir weg – ist der Hanser Verlag. Er hat aber nicht diese prägende Kraft gehabt wie Suhrkamp. Im Übrigen zeichnet sich bei Hanser auch ein Problem ab, wenn Michael Krüger, der Leiter, einen Nachfolger bestimmen muss, weil ihm das sehr schwer fällt und fallen wird, und das ist übrigens auch das Kernproblem bei Suhrkamp, dass Siegfried Unseld nicht in der Lage war, über viele Jahre, noch zu seinen Lebzeiten die Nachfolge wirklich verbindlich zu regeln.
Koldehoff: Am Telefon ist jetzt Thomas Meinecke, Suhrkamp-Autor der jüngeren Generation. Herr Meinecke, Sie haben das Gespräch gerade mitgehört. Aus der Sicht des Autors jetzt die Frage, was erleben wir da gerade beim Suhrkamp Verlag?
Thomas Meinecke: Wir erleben eine kleine Konvulsion sozusagen, die natürlich nach wie vor mit dem Tod des Verlegers Siegfried Unseld vor einem Jahr zusammenhängt, dass nämlich auch zu seinen Lebzeiten länger überlegt worden war, wie wird es weitergehen mit dem Verlag, wenn er einmal nicht mehr leben würde. Ich finde diese Konstruktion gut, dass diese ehrwürdigen alten Herren, die nun, was ich übrigens auch bedaure, zurückgetreten sind, dass es das gibt, finde ich von der symbolischen Ebene sehr wichtig. Von daher finde ich eigentlich auch diese ganze Anlage gut. Dass jetzt einiges im ersten Anlauf sozusagen so nicht funktioniert hat wie gedacht, muss man vielleicht jetzt einfach hinnehmen. Ich finde es bedauerlich, wie gesagt, dass sie weggehen. Ich fand es auch bedauerlich, dass Günter Berg nicht mehr da ist. Ich finde aber vor allem eins auch ziemlich gut – und das darf man auch nicht unterschätzen in seiner symbolischen Ebene -, dass Ulla Berkéwicz sichtbar sozusagen als nicht nur Witwe des Verlegers wird.
Koldehoff: Die Einrichtung dieses Autorenbeirates seinerzeit noch durch Unseld selbst war ja vielleicht auch der Versucht, das Charisma, das Unseld zweifelsohne hatte, auf ein Gremium zu übertragen und damit zu konservieren. Kann es denn sein, dass das gescheitert ist?
Meinecke: Das weiß ich nicht. Das ist auch so eine schwierige Sache mit dem Charisma dieses Gremiums, zumal es für mich funktioniert hat, weil es für mich Namen sind, die wir etwas bedeuten. Habermas, Kluge, Enzensberger usw. sind Namen, die man auch mit dem, was immer wieder als Suhrkamp-Kultur, einen Begriff, der natürlich schon ein paar Jahrzehnte auf den Buckel hat, zusammenbringt. Nur wenn es dann so ist, dass sie sich selber gar nicht mehr in dieser Funktion sehen, auch nicht in dieser repräsentativen und auch jetzt da ins Schleudern geraten sind durch Dinge, die jetzt dort einfach entschieden wurden, vielleicht auch an ihnen ein bisschen vorbei entschieden wurden, aber auch vielleicht zurecht an ihnen vorbei, wenn sie im Grunde genommen vielleicht gar nicht mehr das repräsentieren, wofür sie stehen als klassische Suhrkamp-Kulturköpfe, dann ist es vielleicht auch so, dass sie dieses Charisma vielleicht nicht mehr in dem Sinne transportiert haben. Natürlich ist es eine komplizierte Konstruktion, das ist mir klar. Ich hätte auch nicht gewusst, wer Siegfried Unseld ablösen soll, und dass Günter Berg ihn wirklich in der Funktion hätte ablösen sollen, war ja auch nie so gesagt worden. Ich erinnere mich auch, wie er selber öfter davon sprach, dass er am liebsten gewollt hätte, dass seine Frau ihn ablöst, die sich das zu der Zeit aber auch nicht zutraute. Das sind auch Dinge, die sich dann entwickeln und wachsen im Laufe einer Zeit dieses einen Jahres, wo er tot ist. Also ich denke, dass das eine gute Konstruktion ist und dass es dann vielleicht einfach andere geben wird, die an die Stelle dieser treten, die das als Gremium vertreten. Ich finde aber auch, dass Ulla Berkéwicz dieses Charisma hat.
Koldehoff: Sie haben gerade ehrfurchtsvoll von den älteren Herren gesprochen, deren Weggang sie bedauern. Heißt es vielleicht auch, dass wir ein Generationenproblem bei Suhrkamp haben?
Meinecke: Ich würde nicht von einem Generationenproblem reden, weil ich immer gut fand, dass eben sozusagen so eine Art Ältestenrat da saß, der wirklich aus den Ältesten bestand. Ich fand immer gut, gerade in Zeiten, wo alles andere vielleicht Bertelsmann ist, jemanden zu haben oder mehrere zu haben, die das symbolisieren, wofür dieser Verlag steht, nämlich für eine Unabhängigkeit, für eine kritische Intelligenz. Ich fand das gut, dass das alte Herren waren. Ich würde sozusagen auch dafür plädieren, möglichst alte nächste zu finden, wenn es darum geht. Es gibt junge Autoren. Ich wäre aber nicht dafür, dass diese junge Autoren in diese Position gelangten.
Koldehoff: Das heißt also, Sie haben gerade gesagt, der erste Versuch mit diesem Gremium hat nicht so recht funktioniert, es sollte dieses Gremium aber weiter geben, möglicherweise mit Ihnen?
Meinecke: Das sehe ich überhaupt nicht. Also ich bin, wie gesagt, zwar biologisch nicht mehr so jung, wie Sie mich am Anfang angesprochen haben, aber ich sehe mich da echt nicht so als repräsentativen. Ich bin Autor des Verlages, aber ich sehe mich da nicht so ganz.