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Suizid auf dem Land

In China ist es ein Tabuthema: Selbstmord. Doch Jahr für Jahr bringen sich im Reich der Mitte fast 300.000 Menschen um: Im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr als doppelt so viele wie in den westlichen Industrienationen. Ein Leben in Armut und Abhängigkeit treibt vor allem Bäuerinnen in den Tod.

Von Sybille Rothe | 16.02.2008
    Schon seit Stunden ist sie unterwegs - Xu Rong, pensionierte Ärztin aus Peking, fährt in die Provinz Hebei, um Selbstmord gefährdeten Frauen zu helfen.

    "Auf dem Land wissen viele Frauen nicht, wie sie mit Problemen umgehen sollen, vor allem, wenn es Schwierigkeiten in der Familie gibt. Selbstmord ist hier weit verbreitet. Ich versuche, die Frauen davon abzuhalten."

    Rückständigkeit und Armut lassen viele Frauen auf dem Land verzweifeln. Mehr als 150.000 Bäuerinnen bringen sich Jahr für Jahr in China um. Obwohl viele Familien betroffen sind, herrscht in den Dörfern Schweigen

    "Diese schreckliche Katastrophe ist immer noch ein Tabuthema. Traditionell gilt Selbstmord als unmoralisch. Umso hilfloser sind die Angehörigen. Ja, ganze Familie zerbrechen daran."

    Sun Tjau verbrennt gelbes Papiergeld am Grab seiner Mutter. Es liegt einsam auf einer kleinen Anhöhe direkt über dem Dorf. Sun hat sogar einen Gedenkstein gesetzt. Dreimal hat seine Mutter versucht, sich zu vergiften, berichtet der junge Mann mit Tränen in den Augen. Gestorben ist sie mit Mitte 50 an den gesundheitlichen Spätfolgen.

    "Meine Mutter musste zuhause viel leiden. Mein Vater hat sie sehr oft geschlagen. Sie hatte wirklich kein schönes Leben."

    Als Kind war er Zeuge dieser Familiengewalt, erlebte auch die Selbstmordversuche seiner Mutter mit. Sun hat ihr nun den letzten Wunsch erfüllt.

    "Das ist das Vermächtnis meiner Mutter, sie wollte auf keinen Fall im Familiengrab beerdigt werden, sondern hier auf dem Hügel. Sie hatte die Hoffnung, vom Grab aus unser Haus zu sehen."

    Noch immer haben Frauen auf dem Land traditionell wenig zu sagen. In der Familienhierarchie stehen sie ganz am Ende, berichtet die Ärztin Xu Rong.

    "Diese Situation hat einen typisch chinesischen Hintergrund. Die Mädchen heiraten in die Familien der Männer ein. Sie sind weit weg von Eltern und Geschwistern, verlieren ihr Netzwerk und sind abhängig, haben keine Arbeit, keine Hoffnung. Im Affekt bringen sich dann viele um - das ist wie eine ansteckende Krankheit. Der Druck ist wirklich groß."

    Jede zweite Frau, die sich umbringen will, trinkt Pflanzenschutzmittel. Fünf Yuan kostet die Flasche, umgerechnet 50 Cent. Bei den Bauern steht das Gift überall herum.

    "Wenn Sie bei den Bauern in die Häuser schauen, dann werden sie überall die leeren Flaschen finden; hinter der Tür, auf der Toilette, im Schweinestall. Manche sind noch nicht ganz leer, und die Bauern füllen die Reste sogar in Colaflaschen um. Früher haben die Volkskommunen das Gift aufbewahrt, da kam man nicht so einfach ran. Heute kann man die Pestizide überall kaufen, ohne Kontrolle. Das Gift ist leicht zu haben."

    Wang Ming hat es versucht. In ruhigen Momenten, wie jetzt beim Kochen, denkt sie oft über die Vergangenheit nach. Wang Ming sollte unbedingt einen Sohn bekommen, das verlangten die Schwiegereltern von ihr. Doch sie hatte schon eine Tochter und wollte wegen der Einkindpolitik kein weiteres Baby. Wang Ming fürchtete, dass ihr Mann seinen Job als Lehrer verlieren würde. Immer wieder wurde sie von den Schwiegereltern beschimpft und gedemütigt.

    "Die Alten haben Macht. Ich habe unter großem Druck gelebt, als ich den nicht mehr ertragen konnte, beging ich diese Dummheit."

    Im Affekt griff Wang Ming zu einer Flasche mit Pflanzenschutzmittel.

    "Als ich das Gift trank, da war es, als ob ich innerlich verbrenne. Ich hatte plötzlich weißen Schaum vor dem Mund, mein Gesicht wurde ganz gelb, ich konnte nicht mehr sprechen. Dann dachte ich an meine Tochter und hörte auf."

    Eine Verwandte hat sie gerettet. Außer der Familie weiß nur Frau Xu von dem Vorfall. Die Ärztin hat Wang Ming heute eine Aufklärungsbroschüre mitgebracht.

    "Schau mal, die Zeichnung erzählt eine kleine Geschichte: Der Mann hat bei Geschäften viel Geld verloren und betrinkt sich. Seine Frau ist wütend und greift zu den Pestiziden, bereut es aber gleich. Dann ist es aber zu spät. So werden keine Probleme gelöst, wenn sie tot ist, dann ist die ganze Familie kaputt."

    Die pensionierte Ärztin weiß, dass sie nicht nur mit den suizidgefährdeten Frauen sprechen muss. Deshalb veranstaltet sie regelmäßig Familienseminare. Sun Tjau hat dazu alle Nachbarn in sein Haus eingeladen. Das sei er seiner verstorbenen Mutter schuldig, sagt er. Noch trauen sich nur wenige in Suns Haus, einige Bauern bleiben schüchtern vor der Tür stehen und lauschen von draußen, was die Ärztin aus Peking zu sagen hat:

    "Wo liegt der Weg zur Harmonie? Hier im Buch stehen Strategien gegen Familiengewalt und es geht auch um die Gleichberechtigung von Mann und Frau."

    Was, Gleichberechtigung? - fragt eine Bäuerin. Ja, selbstbewusster sollten die Frauen werden, meint Xu Rong. Und fragt auch gleich den Mann der Bäuerin, ob sich seine Frau durch die Seminare verändert habe. Ja schon, ein bisschen, so seine Antwort. Noch nie in ihrem Leben haben die Bauern offen über Privates gesprochen: ein langer Weg für Frau Xu. Seit vier Jahren kommt die Ärztin nun schon ins Dorf, um mit den Menschen zu sprechen.
    Ihr größter Erfolg:

    "Seit wir mit dem Programm begonnen haben, hat sich niemand mehr im Dorf umgebracht. Darüber freue ich mich. Wenn die Frauen lernen, ihre Probleme selbst zu lösen, dann bringen sie sich auch nicht um."