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Summen wider Willen

Neurowissenschaft.- Jeder kennt es: beim Frühstück ein Lied im Radio gehört und es den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Ein Musikwissenschaftler aus Kassel wollte nun herausfinden, wie Ohrwürmer genau entstehen.

Von Remo Kragt | 14.09.2010
    Ob das ein Ohrwurm ist? Oder vielleicht das hier:

    Eingängige Titel, die fast jeder kennt, schon weil sie dauernd zu hören sind. Kann man so Ohrwürmer erzeugen?

    "Also die schlichte Idee, er muss nur oft genug vorkommen, die scheint als Erklärung nicht hin zu reichen",

    sagt Jan Hemming, Leiter des Instituts für Musik der Universitär Kassel. Auch dieses, meint er, könnte ein Ohrwurm sein:

    Ob ein Musikstück oder ein Lied zum Ohrwurm wird, hängt weder vom Genre, noch von der Häufigkeit seiner Wiederholungen ab. Das hat Jan Hemming mit einer Gruppe von Studierenden herausgefunden. Ein Ohrwurm ist ein Alltagsphänomen, das völlig unberechenbar kommt und geht und sich deswegen Objektiv nicht beobachten lässt. Die Studie stützt sich deshalb auf Erlebnisse der Teilnehmer und Teilnehmerinnen.

    "Wir haben 20 Titel zusammengestellt aus 20 unterschiedlichen Genres, die nach übereinstimmender Meinung der Studierenden das Potenzial haben, zum Ohrwurm zu werden. Und die kamen auf eine CD, die an etwa 60 Versuchspersonen verteilt wurde. Und nach 1-2 Wochen haben wir uns bei diesen Versuchspersonen wieder gemeldet und haben gefragt: "So, sind denn Ohrwürmer aufgetreten?" und haben dann eine Interview geführt, das qualitativ ausgewertet wurde."

    Daraus ergab sich als Erstes eine Hitliste der Ohrwürmer.

    "Da steht oben der Titel, der auch Ohrwurm heißt von den Wise Guys, an zweiter Stelle der Nippel von Mike Krüger und an dritter Stelle dann "Sun of a preacherman" von Dusty Springfield. Überhaupt wird die Ohrwurmhitliste von Titeln mit Text angeführt."

    Im zweiten Schritt wurden die Stücke analysiert und verglichen, um damit besonders ohrwurmträchtige Strukturen zu entdecken. Aber die Ergebnisse ließen kaum Rückschlüsse auf die Musik selbst zu.

    "Wir können im Prinzip nur sagen, dass Ohrwürmer eine bestimmte Länge nicht überschreiten, die also die Länge einer gesprochenen Phrase oder eben dessen, was sie singen können, wenn Sie ein Mal tief eingeatmet haben, übersteigt."

    Ergebnislos blieb die Studie aber nicht. Allerdings haben die Erkenntnisse mehr mit den Teilnehmern, als mit der Musik zu tun. Jan Hemming:

    "Wo wir aber viel zu sagen können, ist zur subjektiven Seite. Also wir haben grundsätzlich herausgefunden, dass Ohrwürmer häufig auftreten in Situationen, wo Ihre geistige Aufnahmefähigkeit, Ihr kognitiver Apparat möglicherweise nicht voll ausgelastet ist, sagen wir mal: Geschirrspülen, auf den Bus warten oder in der Uni hat die Vorlesung noch nicht angefangen."

    Ohrwürmer befallen Frauen wie Männer, Musiker wie musikalische Laien. Welche Stücke sich dabei in den Köpfen einnisten, das hat scheinbar vor Allem mit der Beziehung der Betroffenen zur Musik zu tun. Stücke, die uns kalt lassen, werden kaum zum Ohrwurm.

    "Sobald Sie die Musik mit Emotionen verknüpfen, positiver oder negativer Art, bleiben sie auch gut in Erinnerung und haben damit das Potenzial, wieder als Ohrwurm in Erscheinung zu treten."

    Das heißt also auch: ein Ohrwurm muss seinem Hörer nicht gefallen. Aber auch ein Ohrwurm, der den Betroffenen zunächst freut, kann zur Last werden.

    "Ja, das zeigen die Befunde: dass die Ohrwürmer zunächst als überwiegend angenehm empfunden werden, also das hängt dann auch so'n bisschen von der Dauer des Anhaltens ab, das hat auch eine Eigendynamik. Ein Anfangs angenehmer Ohrwurm kann dann nach einer Zeit unangenehm werden."

    Es wurde immerhin von Ohrwürmern berichtet, die bis zu zweieinhalb Wochen anhielten. Das ist dann schon fast ein Fall für den Psychiater, meint Jan Hemming.

    Fazit: Ohrwürmer kann man weder komponieren noch erzeugen. Denn es liegt weder am Komponisten noch an der Rundfunkstation, ob aus einem Lied ein Ohrwurm wird, sondern allein am Hörer.