Dienstag, 16. April 2024

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Superdiverse Stadt
Zusammenhalt in der Vielfalt

Arm, reich, jung, alt, religiös oder atheistisch, vor Ort geboren oder neu zugezogen: Maximale Vielfalt der Lebensmodelle und -situationen macht das Leben in den Städten aus. Neue Projekte in Toronto, Malmö oder Mannheim zeigen auf, wie trotz aller Unterschiede Zusammenhalt entstehen kann - und was ihn gefährdet.

Von Peter Helling | 17.11.2017
    Unter dem Motto "Shakespeare in Love" veranstaltet die Oper Stuttgart am 28.02.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) eine Gegenaktion gegen die "Demo für alle".
    Nicht immer leicht: Ein "Wir" trotz aller Unterschiede (dpa / Christoph Schmidt)
    Dass Stadtluft frei mache ist eine alte Binsenweisheit. Sie geht noch auf das Mittelalter zurück, als Menschen nur in der Stadt Arbeit finden, frei denken konnten und später auch lieben, wen und wie sie wollten Die Stadt war schon immer eines: DER Ort der Modernisierung. Das Merkmal einer Stadt ist: Diversität.
    "Gesunde Diversität entsteht meiner Meinung nach da, wo sich Individuen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund engagieren, vielleicht nicht einer Meinung sind, aber neugierig aufeinander und bereit, eine Gemeinschaft aufzubauen."
    Maximal bunt
    Chris Brillinger ist Leiter für Soziale Entwicklung und Finanzen der kanadischen Megacity Toronto. Hier kommen nicht nur verschiedene Ethnien und Religionen, sondern Lebensstile zusammen. Hier leben Arm und Reich direkt nebeneinander, der schwule Arzt, die ultraorthodox-jüdische Lehrerin, der muslimische Sozialarbeiter. Superdivers, das heißt vor allem: maximal bunt. Aber:
    "Wir feiern nicht einfach Unterschiede, sondern stellen die Unterschiede fest und sagen: Lasst uns reden!
    "Ihm geht es darum, den Dialog, das Engagement der Bürger zu fördern. Und - das ist für Chris Brillinger das größte Problem - die Schere zwischen Arm und Reich irgendwie zu schließen, sonst funktioniere es nicht. Die moderne Stadt ist immer in Bewegung. Aber Heimat? Der Soziologe Heinz Bude beschäftigt sich schon lange mit dem Begriff.
    "Heimat hat etwas mit dem Riechen und Schmecken zu tun! Sie sagen: 'Das ist kein richtiger Aal Grün, das sind nachgemachte!' Das einzige, was die Berliner Küche hervorgebracht hat."
    Heimat und das "Wir"
    Auch Heimat geht durch den Magen. Heinz Bude beobachtet einen neuen Wir-Begriff in den Städten.
    "Ein experimentelles Wir in der Haltung des Respekts voreinander, wie heißt das bei Ihnen? Diversität, aber auch mit der Bereitschaft zur Verpflichtung."
    Die Gefahr des großen Geldes
    Das Wort bedeutet also mehr als idyllisches Urban Gardening und Honig vom Hochhausdach. Dennoch sieht Bude große Risiken. Er befürchtet, dass das große Geld, Immobilienfonds, mehr und mehr Städte aufkaufen, wie aktuell in London oder in München - dann wird die Stadt zur homogenen Wüste der Superreichen. Städte sind mächtig. Man konnte das bei der Bonner Weltklimakonferenz sehen, wo sich Bürgermeister aus den USA offen gegen die Klimapolitik ihres Präsidenten auflehnten. Und gerade in Mittelstädten wie Freiburg oder Mannheim, einer Stadt von 320.000 Einwohnern, passiert viel. Peter Myrczik aus der Stadtverwaltung von Mannheim ist stolz auf
    "... die Mannheimer Erklärung für Vielfalt und Toleranz - und das haben unterschrieben 235 Organisationen."
    Eine lokale Revolution, denn hier kamen Gruppen zusammen, die fast nie miteinander sprechen, Moscheen und Frauenhäuser etwa. Die tägliche städtische Praxis wird dann richtig interessant. Hier geht es um Sozialtickets, um Bürgerbeteiligung - um Bauprojekte für Familien aller Art. Dass Superdiversität nur ein hippes Wort ohne Effekt auf den Arbeitsmarkt sei, bestreitet Kent Andersson, der Stadtpräsident von Malmö.
    "Ein Beispiel war, dass IBM nach einer neuen Niederlassung in Skandinavien suchte und sich für Malmö entschied, wegen der jungen Bevölkerung, der multikulturellen Bevölkerung: Dahin wollen wir wegen der Diversität in Malmö!"
    Notwendig: Diskurse zwischen allen Gruppen
    So bleiben von diesem vielseitigen Symposium zwei Dinge hängen: Die Notwendigkeit des Diskurses zwischen den verschiedenen Bürgergruppen - und: dass die Suche nach Heimat ein instabiles Gefühl sei, so Kübra Gümüsay. Die Journalistin sprach von ihrer "Heimatstadt" Hamburg, aber in Anführungszeichen. Sie erzählte, wie sie diskriminiert wurde - wegen ihres Kopftuches. Und kam dann zum Punkt: Heimat gibt es für sie nicht in der Zukunft, sobald endlich Jeder und Jede integriert sei - Heimat gebe es schon in der Vergangenheit. Einmal spazierte sie
    " ... zu den Landungsbrücken, und von diesem Hügel aus schaute ich auf die Werften, dort wo mein Großvater gearbeitet hatte, dort wurde er auch erniedrigt, aber er hat dort Freunde fürs Leben gefunden. Und dort hat er einem Menschen das Leben gerettet.
    Geschichten wie die von Kübra Gümüsay machen eine Stadt aus: So kann die superdiverse Stadt zu einer Heimat werden. So könnte die Zukunft riechen. Stadtluft macht eben frei.
    "Im Türkischen sagen wir 'es riecht hier stark nach Geschichte', und so wanderte ich durch diese Stadt und roch die Geschichte, meine Geschichten, und die Geschichte der Menschen, die ich liebte und liebe."