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Sure 14 Vers 4
Wenn Gott den Menschen lenkt, lenkt er nicht auch dessen Sünden?

Gott ist allmächtig. Er bestimmt alles. Er weiß alles. So glauben es auch Muslime. Wie aber kann Gott einen Sünder dann bestrafen? Wenn Gott alles lenkt, lenkt er doch auch dessen Sünde? Die Frage nach dem freien Willen des Menschen ist eine der zentralen theologischen Probleme.

Von Prof. em. Dr. Kees Versteegh, Universität Nijmegen | 26.08.2016
    "Und wir haben keinen Gesandten (zu irgendeinem Volk) geschickt, außer (mit einer Verkündigung) in der Sprache seines Volkes, damit er ihnen Klarheit gibt. Gott führt nun irre, wen er will, und leitet recht, wen er will. Er ist der Mächtige und Weise."
    Der Vers legt dar, dass sich niemand auf Wissenslücken in Bezug auf die Gebote Gottes berufen kann: Jeder Gesandte brachte die Botschaft Gottes in der Sprache seines eigenen Volks. Somit hatten alle die Chance, die Worte zu hören und zu verstehen. Moses unterwies die Juden in Hebräisch, der Prophet Saleh, der lange vor dem Aufkommen des Islams zu den Thamud auf der arabischen Halbinsel gesandt worden war, sprach Thamudisch, und Mohammed sprach Arabisch, um den Mekkanern die Botschaft Gottes zu erklären.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Üblicherweise reagierten die Völker mit Skepsis und Gespött auf die Gesandten. Die Mekkaner bildeten dabei keine Ausnahme. Auch sie machten sich über Mohammed lustig und wiesen seine Botschaften zunächst zurück.
    Darüber hinaus geht der Vers auf eine der kompliziertesten Aspekte im Koran ein: das Verhältnis zwischen Gottes Allmacht und dem freien Willen des Menschen. Einer der zentralen Motive im Koran besagt, dass Gott gerecht sei, angemessene Urteile bei der Bestrafung von Missetätern vollziehe und Gläubige belohne. Seine Urteile können aber nur dann als gerecht bezeichnet werden, wenn ein Mensch für seine Taten voll verantwortlich ist.
    Kees Versteegh
    Cornelis H.M. Versteegh, genannt Kees, ist einer der international bedeutendsten Arabisten. (priv. )
    Nun betont der Koran aber zugleich Gottes Allmacht und erklärt, dass Gott entscheide, wer ihm gehorchen und wer ihm nicht gehorchen werde. Zudem unterstreichen viele Koranverse, dass das Schicksal eines Menschen vorherbestimmt sei: Gott kenne jeden Gedanken eines Menschen, bevor er entstehe, und jede Tat, bevor sie ausgeführt werde. Er bestimme, wer ins Paradies eingehe und wer in der Hölle bestraft werde.
    Es ist nicht einfach, beide Botschaften zusammenzuführen. Durch die Geschichte des Islams hindurch bemühten sich Theologen, diese vermeintlichen Widersprüche aufzulösen.
    Rationalistische Theologen nahmen Gottes Gerechtigkeit zum Ausgangspunkt für ihre Argumentation. Sie verfochten die Meinung, Menschen müssten einen freien Willen haben, andernfalls könne Gottes Urteil niemals als gerecht bezeichnet werden. Gott befähige die Menschen zwar zum Handeln, aber sie selbst müssten zwischen Gut und Böse auswählen. Da Gott gerecht sei, sei es undenkbar, dass er sie für etwas bestrafe, dass sie nicht selbst gewählt hätten.
    Eher traditionalistische Theologen stellten Gottes Macht ins Zentrum ihres Glaubens. Sie legten dar, Gott sei der Schöpfer aller Dinge, inklusive jedes individuellen menschlichen Handelns, egal ob gut oder böse. Trotzdem behaupteten die Menschen, all ihr Handeln entspringe ihrem eigenen Tun. Durch diese Behauptung eigneten sie sich das Handeln an. Und deshalb seien die Menschen auch verantwortlich für ihr Verhalten und verdienten es, entsprechend belohnt oder bestraft zu werden.
    Einfache Gläubige haben sich damals wenig um solche theologischen Feinheiten gekümmert und tun es heute ebenso wenig. Sie glauben, dass Gott barmherzig, gerecht und allmächtig zugleich ist, und dass all ihre Taten und Gedanken auf Gottes Gnade beruhten. Zudem wissen sie um ihre Pflicht, die Regeln des göttlichen Rechts zu befolgen, und um ihre Verantwortlichkeit für ihr Tun.
    Wenn Muslime über die Zukunft sprechen, gebrauchen viele von ihnen im Alltag den Ausspruch: "in scha’a llah" (zu Deutsch: "so Gott will"). Das verdeutlicht, wie sehr sie spüren, dass ihr Leben in Gottes Hand ist. Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte ist es der rationalen Theologie gelungen, diesen tiefverwurzelten Glauben zu erschüttern
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.