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Sure 2 Vers 1
Die geheimnisvollen Buchstaben

Mehrere Suren beginnen einfach mit ein paar einzelnen Buchstaben. Sie gehören zu den großen Geheimnissen des Korans. Viele klassische Gelehrte und viele moderne Wissenschaftler haben versucht, ihnen ihre Botschaften zu entlocken. Einzelne kamen dabei mitunter zu erstaunlichen Deutungen.

Von Prof. em. Dr. Stefan Wild, Universität Bonn | 02.12.2016
    "Alif Lâm Mîm."
    Die zweite Sure des Korans beginnt mit drei arabischen Buchstaben, die als Vers 1 dieser Sure gezählt werden. Der erste Buchstabe "Alif" ist der erste Buchstabe des arabischen Alphabets und entspricht etwa dem deutschen "a", ihm folgen das "Lâm", deutsch "l". und das "Mîm, deutsch "m". Also: "a", "l", "m".
    Die Sendereihe "Koran erklärt" als Multimediapräsentation
    Heilige Texte sind oft geheimnisvolle Texte. Das gilt auch für den Koran. Nicht nur am Anfang von Sure 2, sondern am Anfang von 29 der insgesamt 114 Suren des Korans stehen arabische Buchstaben. Es handelt sich um 14 einzelne Buchstaben und 15 Kombinationen aus diesen Buchstaben. Einige Buchstaben-Kombinationen erscheinen mehrfach. Das "Alif Lâm Mîm" etwa steht am Anfang von vier weiteren Suren.
    Stefan Wild sitzt in einem Sessel vor Bücherregalen. 
    Stefan Wild, inzwischen emeretiert, war lange Jahre Professor für Semitische Sprachen und Islamwissenschaft an der Uni Bonn und machte sich international einen Namen als Koranexperte. (Deutschlandradio / Thorsten Gerald Schneiders)
    Die Bedeutung dieser Buchstaben liegt im Dunkeln. Schon die ältesten muslimischen Exegeten boten widerspruchsvolle und grundverschiedene Deutungen für diese "verstreuten Buchstaben" oder "Suren-Eröffnungen" an, wie die arabischen Exegeten sie nennen.
    Der österreichische Orientalist Aloys Sprenger kam im 19. Jahrhundert auf den aberwitzigen Gedanken, in eine dieser "Suren-Eröffnungen" die christliche Kreuzesinschrift INRI hineinzulesen, also die lateinischen Anfangsbuchstaben von "Jesus von Nazareth König der Juden".
    Klar ist am Ende nur, dass diese Buchstaben fest zum koranischen Text gehören. Dass die Einzelbuchstaben oder Buchstabenkombinationen immer als eigener Vers gezählt werden. Dass die "verstreuten Buchstaben" immer am Surenanfang stehen, dass sie im kultischen Vortrag mit-rezitiert werden, dass sie nicht übersetzbar sind und dass sie sich schon in den ältesten Koranhandschriften finden.
    Aus manchen dieser Buchstabenkombinationen wurden später Namen. Aus den arabischen Buchstaben "Yâ" und "Sîn" wurde zum Beispiel der Name von Sure 36 und der Männername "Yâsîn".
    Islamwissenschaftler weisen bei der Frage nach der Bedeutung dieser Verse mit Buchstabenkombinationen darauf hin, dass der Koran danach oft über sich selbst spricht – wie in unserer Sure 2. Nach dem ersten Vers "‘Alif Lâm Mîm" folgt als Vers 2 diese Aussage: "Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist, es ist Geleit für die Frommen."
    Manche muslimische Exegeten meinten, jeder dieser "verstreuten Buchstaben" sei der Schlüssel zu einem der 99 Namen Gottes. Andere vermuteten, "‘Alif Lâm Mîm" sei einer der Namen des Korans. Nicht-muslimische Wissenschaftler versuchten auch, diese Buchstaben mit bestimmten Wörtern in den betreffenden Suren in Verbindung zu bringen. All dies führte nicht weiter.
    Schließlich kam eine Reihe muslimischer Gelehrter zu dem Schluss, dass diese Buchstaben göttliche Geheimnisse bargen, die dem Menschen gar nicht zugänglich sein sollten. Denn in Sure 3 Vers 7 heißt es über manche Koranverse: "Doch nur Gott kennt ihre Deutung."
    Nicht wenige Muslime glauben heute, dass damit eben diese nicht weiter deutbaren Buchstaben gemeint seien. Der Koran sagt schließlich im gleichen Vers 7 aus Sure 3 über sich selbst: "Einige seiner Verse sind klar zu deuten, sie sind die Mutter des Buches, andere sind mehrfach deutbar".
    Sollten also diese geheimnisvollen "verstreuten Buchstaben" wirklich diese "mehrfach deutbaren" Koranverse sein? Der Koran bleibt uns die Antwort hierauf schuldig. Wahrscheinlich werden wir das Geheimnis dieser Buchstaben niemals lösen.