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Sure 2 Vers 30
Engel contra Mensch

Nach islamischem aber auch nach jüdischem Glauben hat Gott den Menschen den Engeln vorgezogen, als es darum ging, einen Statthalter auf Erden zu wählen. Warum? Eine Antwort gibt Nicolai Sinai, Koranexperte an einer der ältesten und renommiertesten Universitäten der Welt - der Oxford-University in England. Anhand seiner Ausführungen lässt sich einiges über das Menschenbild im Islam erfahren.

Von Dr. Nicolai Sinai, University of Oxford, England | 26.06.2015
    "Als dein Herr zu den Engeln sagte: 'Ich will auf der Erde einen Statthalter bestellen.' Sie sagten: 'Willst du auf ihr einen bestellen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt, wo wir doch dein Lob preisen und deine Heiligkeit rühmen?' Er sagte: 'Ich weiß, was ihr nicht wisst.'"
    Dieser Koranvers beschreibt eine Szene im Vorfeld der Erschaffung des ersten Menschen Adam: Gegen Gottes Absicht, auf der Erde einen "Statthalter" oder "Stellvertreter" einzusetzen, geben die Engel skeptisch das menschliche Potenzial zum Bösen zu bedenken.
    Man kann das als Verweis auf eine den Menschen auszeichnende Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse verstehen: Mit dem Rang eines "Stellvertreters" Gottes auf Erden werden gerade nicht die Engel gewürdigt, die mit unfehlbarer Zuverlässigkeit Gottes Lob singen; sondern als "Stellvertreter" Gottes wird ein Geschöpf bezeichnet, in dem die Möglichkeit angelegt ist, sich gegen den Willen seines Schöpfers aufzulehnen.
    Die Sendereihe "Koran erklärt" als Multimediapräsentation
    Eine ähnliche Auseinandersetzung zwischen Gott und den Engeln findet sich bereits in einer vorkoranischen jüdischen Erzählung. Sie setzt ein mit Gottes Schöpfungsankündigung aus Genesis 1 Vers 26: "Lasset uns einen Menschen machen, nach unserem Bilde und in unserer Gestalt; und er soll herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel".
    Nicolai Sinai mit einem aufgeschlagenen Buch.
    Nicolai Sinai lehrt Islamwissenschaft an der renommierten Oxford-University in England. (Foto: N.Sinai)
    Als Entgegnung hierauf wird den Engeln ein berühmtes Zitat aus Psalm 8 in den Mund gelegt: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?" Wie der eingangs zitierte Koranvers werden so Hoheit und Niedrigkeit des Menschen nebeneinander gestellt. Die jüdische Erzählung endet damit, dass die Engel in die Schranken gewiesen werden: Gott fordert sie auf, für die von ihm geschaffenen Dinge Namen zu finden. Die Engel sind dazu nicht imstande, doch Adam meistert die Aufgabe ohne Schwierigkeiten und findet sogar passende Namen für sich selbst und für Gott. Im Unterschied dazu ist es in der koranischen Erzählung Gott, der den frisch erschaffenen Adam die Namen aller geschaffenen Dinge lehrt und ihn so mit einem den Engeln überlegenen Wissen ausstattet.
    Es ist nicht unwahrscheinlich, dass zumindest manchen Hörern Mohammeds diese jüdische Erzählung vertraut war. Um so wichtiger ist es, die abweichende Kernaussage der koranischen Version zu beachten: Sie stellt ausdrücklich klar, dass Adam sein überlegenes Wissen einzig und allein Gott verdankt. Während es der jüdischen Fassung darum geht, die in der Natur des Menschen angelegte Klugheit herauszustellen, betont der Koran das umfassende und unüberbietbare Wissen Gottes.
    Daneben fällt eine weitere Differenz ins Auge. "Lasset uns einen Menschen machen, nach unserem Bilde und in unserer Gestalt", heißt es in der Bibel. Das lässt die theologisch problematische Folgerung offen, Gott sei als ein körperliches Wesen vorzustellen, das anatomische Ähnlichkeit zum Menschen aufweist. Der Koran vermeidet die Schwierigkeit, indem die Vorstellung einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen durch den Begriff des Statthalters ersetzt wird: "Ich will auf der Erde einen Statthalter bestellen".
    Hinter dem Wort "Statthalter" verbirgt sich übrigens der arabische Ausdruck khalîfa, der auch die Bedeutung "Nachfolger" haben kann. In diesem zweiten Sinne wurde das Wort zum uns vertrauten Herrschaftstitel "Kalif", womit im klassischen Islam die Nachfolger des Propheten Mohammed in seiner politischen Führungsrolle bezeichnet werden.