Mittwoch, 27. März 2024

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Sure 2 Vers 62
Christen und Juden - mal Brüder, mal Feinde im Koran

Der Koran enthält unterschiedliche Botschaften über Juden und Christen. Zum Teil sind die Verse ihnen freundlich und brüderlich zugewandt formuliert, zum anderen transportieren sie Botschaften der Abgrenzung und der Bekämpfung. Was gilt denn nun?

Von Prof. Dr. Fred M. Donner, University of Chicago, Illinois, USA | 21.10.2016
    "Siehe, diejenigen, die glauben, die sich zum Judentum bekennen, die Christen und die Sabier – wer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen auch nicht traurig sein!"
    Der Koran spricht in erster Linie Menschen an, die er "Gläubige" nennt - arabisch: "mu’minûn". Er definiert sie als diejenigen, die die Einzigkeit Gottes und die Unvermeidbarkeit des bevorstehenden Tags des Jüngsten Gerichts anerkennen und die rechtschaffen in Übereinstimmung mit Gottes offenbartem Wort leben. Gläubigen wird nach dem Tod ewiges Leben im Himmel versprochen, den der Koran gewöhnlich nur "den Garten" nennt - arabisch: al-dschanna.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Der Koran spricht in zahlreichen Passagen auch über die sogenannten "Leute der Schrift" oder "Schriftbesitzer" (ahl al-kitâb). Es handelt sich dabei um einen Sammelbegriff für Christen und Juden. Sie werden so genannt, weil man anerkennt, dass sie frühere Offenbarungen der Worte Gottes empfangen haben - und zwar über Propheten, die aus koranischer Sicht Mohammeds Vorgänger sind.
    Die Äußerungen im Koran über die Schriftbesitzer sind jedoch widersprüchlich: Manchmal werden sie scharf kritisiert und ihre Vorstellungen verworfen - vor allem die von der Gottessohnschaft Jesu. Dann wiederum werden positive Ansichten über die Schriftbesitzern geäußert.
    Fred Donner sitzt in einem roten Pulli in einem Sessel, im Hintergrund ist der Kopf einer Wasserpfeife zu sehen
    Fred Donner gehört zu den renommiertesten Islam-Forschern der Welt. (priv.)
    Der Vers, um den es heute geht, gehört zu den "positiven". Er gibt eindeutig an, dass Juden und Christen, die rechtschaffen sind und an Gott und den Jüngsten Tag glauben, dieselbe Belohnung im Jenseits erhalten wie die Gläubigen. In der Tat besagt der Vers mit Nachdruck, dass solche redlichen Schriftbesitzer wirklich Gläubige sind.
    Weitere Verse bekräftigen die Vorstellung, rechtschaffene Christen und Juden hätten als Teil der Gläubigen zu gelten - auch wenn das nicht auf alle zutreffe. Was vermutlich daran liegt, dass sich manche von ihnen nicht ausreichend fromm verhalten - dass sie keine guten Dinge verrichten, wie es an anderen Stellen im Koran heißt (z.B. Sure 3 Vers 199).
    Wie lassen sich die Widersprüche erklären zwischen jenen Versen, die Juden und Christen als Gläubige einschließen, und jenen, die sie pauschal verurteilen? Muslimische wie nicht-muslimische Koran-Kommentatoren treibt das seit Jahrhunderten um.
    Manche versuchten, Zusammenhänge mit den verschiedenen Phasen in Mohammeds Propheten-Laufbahn aufzuzeigen. Sie meinten, in der Zwiespältigkeit spiegele sich Mohammeds dynamisches Verhältnis zu den Juden und Christen seiner unmittelbaren Umgebung wider.
    Dieser Ansatz wird mitunter benutzt, um feindliche Haltungen zu Christen und Juden zu begründen. Die traditionelle Propheten-Biographie legt nämlich nahe, dass Mohammeds Verhältnis zu den Schriftbesitzern im Laufe der Zeit feindseliger geworden ist.
    Manche Koran-Kommentatoren argumentierten auch, gewisse Koranverse - zumeist die negativen - hätten nur bezogen auf ein spezifisches historisches Ereignis Relevanz. Andere Verse dagegen sollten universelle und ewige Gültigkeit haben. Dieser Ansatz wiederum wird mitunter benutzt, um eine eher tolerantere Vorstellung vom Islam zu begründen, in der Juden und Christen als monotheistische Partner eingebunden werden.
    Mit dem Koran ist es mithin wie mit allen Heiligen Schriften: die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Und die Diskussionen werden zweifelsohne noch lange anhalten.
    Die Audioversion musste aus Sendezeitgründen gekürzt werden.