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Sure 22 Vers 5
Abtreibung und künstliche Befruchtung

Der Koran wird von vielen Gläubigen als Leitfaden für das gesamte Leben angesehen. Schon lange gibt es daher die Bestrebung, ihn bei sämtlichen Angelegenheit auf mögliche Bewertungen hin abzuklopfen. Und selbst bei Fragen der modernen Medizin werden Islamgelehrte fündig.

Von Prof. Dr. Abdulaziz Sachedina, George Mason University, Fairfax, USA | 25.05.2018
    "Wir haben euch (ursprünglich) aus Erde geschaffen, hierauf aus einem Tropfen (Sperma), hierauf aus einem Embryo, hierauf aus einem Fötus, wohlgestaltet oder auch ungestaltet, um euch Klarheit zu geben."
    Die Möglichkeiten der modernen Medizin werfen für Muslime eine Reihe von Problemen auf. Dazu gehört die Abtreibung. Wenn Gott die Erschaffung eines Kindes und dessen Geschlecht bestimmt, bestimmt er dann auch einen Schwangerschaftsabbruch?
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Muslimische Gelehrte haben sorgsam die Stadien der embryonalen Entwicklung studiert, deren allgemeine Grundzüge im Koran niedergelegt sind, wie der eingangs zitierte Vers zeigt. Hintergrund ist, dass klinisch bedingte Schwangerschaftsabbrüche Strafen nach sich ziehen, deren Maß sich nach dem Alter des abgetriebenen Fötus richtet.
    Auch wenn es keine allgemein anerkannte Definition für "Embryo" gibt, die Mehrheit der sunnitischen Muslime gewährt dem Fötus einen moralisch-rechtlichen Status zu einem recht späten Stadium: ab dem ersten Schwangerschaftsdrittel. Unter Schiiten wird bereits die Einnistung des Embryos in die Gebärmutter - etwa elf Tage nach der Empfängnis - als zeitliche Grenze betrachtet. Danach dürfen Abtreibungen nicht mehr durchgeführt werden, sofern nicht das Leben der Mutter in Gefahr ist.
    Porträt von Abdulaziz Sachedina
    Abdulaziz Sachedina befasst sich viel mit islamischer Bioethik. (priv. )
    In religionsrechtlichen Entscheidungen neueren Datums wird Abtreibung auch erlaubt, wenn durch Pränataldiagnostik frühzeitig unheilbare Krankheiten wie das Downsyndrom erkennbar werden. Es scheint sich hierbei jedoch niemand die zentrale moralische Frage zu stellen, was die Erlaubnis zum Aussondern eines "defekten" Embryos eigentlich begründet. Und welche Botschaft sendet eine Rechtfertigung für den Tod dieser Embryos an jene Menschen, die mit solchen angeborenen Behinderungen leben? Reproduktionsentscheidungen untergraben massiv die natürlichen Beziehungen zu unseren Nachkommen, wenn sie auf Basis von Pränataldiagnostik bei Föten erfolgen oder auf Basis von Präimplantationsdiagnostik bei solchen Embryos, die durch In-vitro-Fertilisation - kurz IVF - erzeugt wurden - also künstlich.
    Das bringt uns zu einem weiteren Problem, das die moderne Medizin aufwirft. Es geht um Unfruchtbarkeit. Um sie zu überwinden, wird ebenfalls in den Lauf der Natur eingegriffen. IVF-Kliniken sind in der muslimischen Welt weit verbreitet. Die Fortpflanzung gehört zu den Anforderungen einer Ehe. Auch wenn Empfängnisverhütung legal ist, solange sie keinem der Verheirateten schadet, gilt eine Ehe gemeinhin erst mit einer Elternschaft als erfolgreich. Kinder sind alles in einer Familie. Eine Frau ohne Kinder trägt ein soziales Stigma. Von daher wird keine Anstrengung ausgelassen, um Unfruchtbarkeit zu überwinden. Das erklärt die heutige Beliebtheit von IVF-Kliniken.
    Solche Einrichtungen haben einen großen Bestand an überschüssigen Embryos produziert, die nicht straffrei zerstört werden dürfen - jedenfalls nicht nach religiösem Recht. Hier erlauben nun einige Gelehrte den Einsatz für die Stammzellgewinnung zu Forschungszwecken und therapeutischen Anwendungen. Neben den überschüssigen Embryos werden abgetriebene Föten, eine andere Quelle für die Gewinnung von Stammzellen, zu Forschungszwecken freigeben. Abgetriebene Föten gelten dabei als Organe, die zum Zweck des Fortschritts medizinischer Behandlung gespendet werden können.
    Gott greift in den Lauf der Natur ein. Es spielt keine Rolle, ob durch Wunder oder die göttlich gegebene Fähigkeit, das Wohlbefinden des Menschen mittels Reproduktionsmedizin zu verbessern. Bei solchen Eingriffen ist jedoch jegliche Form von Ehrfurcht und ethischer Hingabe angebracht. Sollten die beispiellosen neuen Herausforderungen für den Respekt vor menschlichem Leben und menschlicher Würde nicht durch die zentralen humanitären Werte, die die heiligen Schriften lehren, geregelt werden, drohen sie zum Missbrauch der schwächsten und verletzbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft zu führen: unserer Kinder.
    Die Audioversion musste aus Sendezeitgründen etwas gekürzt werden.