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Sure 29 Vers 46
"Schöne" Streitgespräche sind Pflicht

Die Selbstständigkeit des Islam als Weltreligion ist ohne den Bezug auf Christentum und Judentum kaum zu verstehen. Die jüdisch-christlich-islamische Tradition ist unter anderem auch dadurch in sich verflochten, dass sie insgesamt auf die hellenistisch-antike Tradition zurückgreift. Gerade deshalb ist Streit geboten.

Von Dr. Milad Karimi, Universität Münster | 24.04.2015
    Teaserbild Sure 29, Vers 46
    "Und streitet mit den Leuten der Schrift auf die schönste Weise nur, außer mit denen, die Übles tun!"
    Die Religion verspricht die Rückkehr des Menschen zu sich selbst aus dem schlechthin Unverfügbaren. Daraus ergibt sich die Frage, ob Religiosität im gegenwärtigen Leben überhaupt noch einen rechten Ort finden kann. Und daraus ergibt sich eine weitere Frage, nämlich in welchem Verhältnis die Religionen zueinander stehen. Öffentliche Religionsgespräche zwischen Muslimen, Christen und Juden haben eine lange und reiche Tradition.
    Ein Streitgespräch zu entfachen, welches das Prädikat "schön" trägt, ist – nimmt man den Imperativ "Streitet!" im zitierten Vers ernst – die Pflicht der Muslime. Aus dieser Tradition sind zahlreiche Schriften islamischer Autoren entstanden. So erklärt sich der Umstand, dass eine Reihe dieser Streitschriften in der islamischen Tradition das Prädikat „schön" ernst nehmen. So lautet beispielsweise der Titel einer dem Theologen Abu Hamid Muhammad Al-Ghazzali aus dem 12. Jahrhundert zugeschriebenen Streitschrift "Die schöne Widerlegung der Gottheit Jesu".
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Die Gegner in diesem Streitgespräch werden als Leute der Schrift angesprochen, also vornehmlich Juden und Christen. Sie sollen nicht ignoriert oder gar verachtet werden; das Verhältnis zu ihnen wird als strittig beschrieben. Wie und worüber soll gestritten werden? Ist überhaupt Streit die angemessene Methode? Der Islam versteht sich nicht als eine jüdische oder christliche Sekte. Vielmehr wird der Islam gleichsam mit der Offenbarung des Korans als eine selbstständige Weltreligion mit einem genuin eigenen Anspruch begriffen. So gilt der Koran als Instanz der Unterscheidung zwischen wahr und falsch und gut und schlecht, also in logischer und ethischer Hinsicht.
    Zugleich aber begreift sich der Islam wesentlich als eine Religion, die die überlieferte abrahamitische Tradition neu formuliert und sich zum Judentum und Christentum kritisch verortet. So überrascht es nicht, dass diese Adressaten im Koran direkt angesprochen, gewürdigt, gelobt und kritisiert werden. Dabei geht es an keiner Stelle um eine Pauschalverurteilung, sondern stets um eine konkrete Kritik.
    Der Koran ist eben kein Eigentum der Muslime und schon gar nicht die monotone Ansprache eines selbstgefälligen Gottes. Vielmehr entspringt der Islam aus einem interreligiös bestimmten Dialog. Denn der Islam ist, wie auch der Koran belegt, mit den Theologien der anderen monotheistischen Religionen eng verwoben. Die Selbstständigkeit des Islam als Weltreligion ist ohne den Bezug auf Christentum und Judentum kaum zu verstehen. Die jüdisch-christlich-islamische Tradition ist unter anderem auch dadurch in sich verflochten, dass sie insgesamt auf die hellenistisch-antike Tradition zurückgreift. Gerade deshalb ist Streit geboten. Denn allein im Angesicht des Anderen wird man seiner eigenen Religion gewahr.
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi
    Der Islamwissenschaftler und Philosoph Milad Karimi (Peter Grewer)
    Die Wahrheit scheint nicht einfach gegeben zu sein. Wer an der Wahrheit teilhaben will, muss um sie ringen. Die Streitkultur fordert nämlich das Miteinander. Das Miteinander-Streiten um die Wahrheit, um sich zu kennen, den anderen zu verstehen und miteinander zu lernen. Es ist jedoch notwendig zu erkennen, dass keine Religion Besitzer der absoluten Wahrheit ist, sondern – wenn überhaupt – dann an ihr teilhat, solange sie nicht triumphierend im Namen Gottes, sondern demütig in Verantwortung vor Gott handelt.
    So ist der Dialog nicht eine Plattform, auf der man den Anderen belehrt und bestenfalls auch das Andere kennenlernt; vielmehr ist der Dialog insofern bereichernd, als man in der Auseinandersetzung mit dem Anderen seine eigene Religion präziser begreift und kritisch hinterfragt. Denn – und darin liegt gerade die Stärke des Islam – das theologische Gespräch über die Grenzen der eigenen Religion hinaus zu wagen, fordert notwendig, auf die bloße und gemütliche Autorität der eigenen Offenbarung zu verzichten. Dieses Gespräch über die Grenzen hinaus gelingt allein, indem man sich auf das Argument des Anderen einlässt. Das kann zuweilen schmerzlich sein, aber es ist ohne Zweifel heilsam. Denn die Wahrhaftigkeit der Autorität zeigt sich nicht in der Voraussetzung, sondern im Resultat.
    Wozu dient die Religion heute überhaupt und wie ist der adäquate Ort der Religion und des Glaubens in unserer pluralen Mehrheitsgesellschaft zu bestimmen? Die Antworten auf diese Fragen können nur gemeinsam errungen werden, aus einer gemeinsamen und wahrhaftigen theologischen Streitkultur heraus. In dieser Streitkultur überragen – wie der Koran nahelegt – Ästhetik und Vernunft die Gewalt. Dann haben die Muslime, wie der Koran es formuliert, "an den Gesandten ein Vorbild, ein schönes" (Koran 33,21).
    Die Textfassung ist etwas länger als die Audiofassung. Sie musste aus sendetechnischen Gründen etwas gekürzt werden.