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Sure 6 Vers 38
Vom Umgang mit Tieren im Islam

Tierschutz und Islam stehen durchaus in einem Spannungsverhältnis. Da ist das Schächten ohne Betäubung und da ist das Opferfest, zu dem viele der 1,5 Milliarden Muslime weltweit traditionell ein Tier schlachten. Der Koran hat zum Umgang mit Tieren einige erstaunliche und auch umstrittene Erkenntnisse hervorgerufen.

Von Dr. Sarra Tlili, University of Florida, Gainesville, USA | 26.02.2016
    "Alle Lebewesen auf der Erde, die gehen oder sich mit Flügeln durch die Luft bewegen, sind Gemeinschaften wie ihr. Wir haben alles genau festgehalten im Buch. Vor ihrem Herrn sollen sie dann versammelt werden."
    Dieser Vers hat großen Einfluss auf die Stellung von nichtmenschlichen Tieren im Koran. Über die bemerkenswerte Gleichstellung mit Menschen hinaus unterstreicht er auf verschiedene Weise ihre Bedeutung.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Zum Beispiel wird die Aussage: "Wir haben alles genau festgehalten im Buch", oft dahingehend ausgelegt, dass Gott für andere Tiere dasselbe tun möchte, was er für Menschen tut - nämlich ihre Taten erschaffen und aufschreiben, ihr Leben organisieren und für sie sorgen.
    Das arabische Substantiv "dâbba" – hier mit Lebewesen übersetzt - ist von dem Verb "dabba" abgeleitet, was "kriechen"/"sich bewegen" bedeutet. Die Ausleger des Korans stimmen darin überein, dass sich das Substantiv auf alle Kreaturen bezieht, die sich freiwillig fortbewegen.
    Sarra Tlili sitzt auf einem Sessel vor eine Bücherregal.
    Dr. Sarra Tlili ist Assistant Professor an der University of Florida. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Koran und Tiere im Islam. (priv. )
    Der Vers grenzt aber anscheinend "kriechende" von "fliegenden" Kreaturen ab. Deshalb klammern manche Koranausleger Vögel und andere fliegende Lebewesen aus der Kategorie "dâbba" aus.
    Diese Haltung wurde jedoch angefochten und zwar unter der Annahme, dass "fliegende Kreaturen" in manchen Stadien sehr wohl "kriechen". Zudem wird an anderer Stelle im Koran (42:29) durchaus angezeigt, dass mit "dâbba" offenbar alle Tiere, inklusive Menschen, Engel und sonstigen metaphysischen Lebewesen gemeint sind.
    Vermutlich geht es bei der vermeintlichen Unterscheidung einfach nur darum, die Aufmerksamkeit der ersten Hörer der koranischen Botschaft auf jene Kreaturen zu lenken, die sie tatsächlich umgeben. Wahrscheinlich erwähnt der Vers deshalb keine Meerestiere, weil die Araber über die Tierwelt sinnieren sollten, die sie in ihrem Alltag in der Wüstenregion um Mekka und Medina umgibt.
    Die Analogie, die der Vers zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren zieht, hat interessante Kommentare hervorgerufen. Demnach besteht der Kern der Analogie darin, dass die Mitglieder einer jeden Spezies einander so verstehen, wie Menschen es untereinander tun.
    Einer weiteren Meinung zufolge verstehen es andere Tiere gleichsam, ihr Leben zu organisieren, weil auch sie wissen, was sie machen und was sie bleiben lassen müssen.
    Eine dritte Sichtweise behauptet, nichtmenschliche Tiere hätten ähnlich wie Menschen Kenntnis von diesseitigen und jenseitigen Dingen. Diese Koranausleger betonen auch, dass nichtmenschliche Tiere sich der Existenz und des Einsseins Gottes sowie seines exklusiven Rechts, angebetet zu werden, bewusst seien.
    Man sieht, dieser Vers inspirierte diverse Kommentare, die nichtmenschlichen Tieren komplexe und positive Eigenschaften zuschreiben. Das weicht deutlich von den traditionellen Ansichten ab.
    Ebenfalls bemerkenswert ist die Versaussage, dass nichtmenschliche Tiere vor ihrem Herrn "versammelt" würden. Im Arabischen steht hier das Verb "ḥashara". Nach Auffassung vieler Koranausleger bezieht es sich auf die Versammlung am Tag des Jüngsten Gerichts (yawm al-ḥashr). Demzufolge werden also auch nichtmenschliche Tiere nach dem Tod auferweckt und für ihre Taten im Diesseits zur Verantwortung gezogen.
    Der Vers spricht ferner von nichtmenschlichen Tiere als "Gemeinschaften" (arabisch: "umam"). An anderer Stelle des Korans in Vers 35:24 heißt es: "In jeder Gemeinschaft hat es einmal einen Warner gegeben."
    Manche Koranausleger gelangten somit zu der Schlussfolgerung, dass zu jeder Tierart Warner - sprich: Propheten - gesandt worden seien.
    Derartige Überzeugungen erlaubten es, nichtmenschliche Tiere als moralische und rechenschaftspflichtige Wesen zu sehen, mit reichen und vielschichtige Lebenserfahrungen und mit einem Reifegrad, der traditionellerweise auf die Menschheit beschränkt ist.
    Obgleich sich der Vers nicht mit der Frage des Tierschutzes befasst, inspirierte er viele Ansichten hierzu. Aus der Erkenntnis, dass sich Gott auch aus nichtmenschlichen Kreaturen etwas macht, schlussfolgerten Koranausleger vor allem, dass Menschen sie gut behandeln sollten.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Sendezeitgründen leicht gekürzte Version.