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Sure 80 Verse 1-2
War der Prophet Mohammed ungerecht zu einem Blinden?

Mohammed ist das Vorbild für Muslime. So will es der Koran. Sein Verhalten ist somit auch ein Maßstab für die Theologie. Was aber, wenn Gott den Propheten im Koran tadelt? Weil Mohammed sich moralisch falsch verhält? Und einen armen, blinden Mann schroff abweist, um lieber mit einem einflussreichen Mekkaner zu reden? Ändert sich deshalb die Theologie? Der Islamwissenschaftler Michael Cook von einer der angesehensten Universitäten der Welt, der Princeton University in den USA, gibt im DLF Antworten.

Von Prof. Dr. Michael Cook, Princeton University, USA | 12.06.2015
    "Er runzelte die Stirn und wandte sich ab, dass ein blinder Mann zu ihm kam."
    Diese Verse wurden nach Auffassung der Exegeten zu einer Zeit offenbart, als sich der Prophet Mohammed noch in Mekka aufgehalten hat. Das heißt also, vor seiner Auswanderung nach Medina, wo er schließlich auch zu einem Staatsgründer wurde.
    Der Überlieferung zufolge sprach Mohammed gerade mit einem wohlhabenden und einflussreichen Mekkaner, den er für den Islam zu gewinnen hoffte. Da wurde er von einem gewissen Ibn Umm Maktûm gestört. Der kam zum Propheten, weil er irgendetwas von ihm wollte. Der Mann war blind und weder von hohem sozialen noch politischen Rang. Mohammed, irritiert ob der Unterbrechung, wies den Mann schroff ab.
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    Gott missfiel dieses Verhalten, und so offenbarte er die beiden Verse, um seinen Propheten zu tadeln. Mohammed akzeptierte den Tadel und fortan grüßte er Ibn Umm Maktûm als "die Person, um derentwillen mein Herr mich getadelt hat".
    Das alles klingt einleuchtend. Doch die Verse bergen einige Probleme.
    Das erste Problem ist ein philologisches. Die Verse werden durch eine untypische Wortwahl miteinander verbunden: Im Arabischen steht die Konjunktion "an" - zu Deutsch: "dass" mit scharfem S. Viele Exegeten übersetzen "an" jedoch mit „weil". Also: "Er runzelte die Stirn und wandte sich ab, WEIL ein blinder Mann zu ihm kam." Aber wenn Gott „weil" gemeint hat, warum sagt er es dann nicht?
    Professor Michael Cook unterschreibt ein Dokument. 
    Der Islamwissenschaftler Michael Cook lehrt in Princeton in den USA. (M.Cook)
    Mindestens einer der frühen Koranrezitatoren las anstatt "an" - "a-an", was sich grammatikalisch zu dem ähnlichen Wort "ân" verkürzen ließe. Das zusätzliche "a" vor dem "an" hat die Funktion eines Fragezeichens. Das würde es ermöglichen, den Vers in etwa so zu lesen: "Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. [Aber warum tat er das?] War es, weil der blinde Mann zu ihm gekommen war?"
    Ein zweites Problem mit den beiden Versen betrifft die islamische Lehre. Wenn Mohammed etwas tut, was Gott tadelt, könnte man denken, der Prophet habe sich moralisch falsch verhalten. Mit dem Voranschreiten der Jahrhunderte aber setzte sich unter den Muslimen mehr und mehr die Doktrin durch, Gott habe die Propheten davor bewahrt, eine Sünde zu begehen.
    Wenn der Prophet somit nichts falsch machen konnte, wie konnte er den blinden Mann so schroff abweisen? Eine Antwort darauf lautete: Man akzeptiert, dass der Prophet die Stirn gerunzelt und sich abgewandt hat, lehnt es aber ab, dies als Sünde zu betrachten. Im Gegenteil. Die Irritation des Propheten war demnach gerechtfertigt: Die Blindheit des Mannes hinderte ihn nicht daran wahrzunehmen, dass der Prophet in ein Gespräch vertieft gewesen ist. Der Mann hätte also trotz seiner Behinderung wissen können, dass man den Propheten nicht unterbricht.
    In diesem Sinne hätte Mohammed nicht gesündigt. Der Kern des Tadels bestünde dann darin, dass sein Verhalten - obwohl an sich gerechtfertigt - zu einem falschen Eindruck geführt habe, nämlich dass Reiche den Armen vorzuziehen seien. Deshalb solle Mohammed künftig vorsichtiger sein, um Missinterpretationen solcher Vorfälle zu vermeiden.
    Eine noch radikalere Reaktion auf dieses dogmatische Problem findet sich unter schiitischen Exegeten. Hier wird der Umstand genutzt, dass der Koran nur selten Personen, die zur Zeit Mohammeds gelebt haben, bei ihrem Namen nennt.
    So beginnen die hier erläuterten Verse der Sure entsprechend abrupt mit den Worten: "ER runzelte die Stirn." Woher weiß man aber, dass mit dem Pronomen "er" der Prophet Mohammed gemeint ist? Besagten schiitischen Exegeten zufolge bezieht sich das "er" schlicht auf jemand anderes, womit der Eindruck umgangen wird, Gott habe seinen Propheten getadelt.