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Sure 91 Verse 1-10
Eine Schöpfung voller Gegensätze

Auch im Islam hat Gott Himmel und Erde erschaffen. Die Schöpfungsgeschichte im Koran erinnert an Erzählungen im Judentum und Christentum. Dennoch ist die islamische Variante ganz eigen. In Sure 91 Verse 1-10 wird die Schöpfung als Schwurgegenstand genutzt, was viel über den Charakter der Religion im Ganzen aussagt.

Von Dr. Nicolai Sinai, Oxford Universität, England | 14.08.2015
    "Bei der Sonne und beim hellen Morgen,
    und beim Mond, wenn er ihr folgt;
    beim Tag, wenn er sie erstrahlen lässt,
    und bei der Nacht, wenn sie sie bedeckt;
    beim Himmel und dem, was ihn erbaut hat,
    und bei der Erde und dem, was sie ausgebreitet hat;
    bei einer jeden Seele und dem, was sie geformt hat
    und ihr Sünde und Gottesfurcht eingegeben hat!
    Es gedeiht, wer sie läutert;
    zuschande wird, wer sie zugrunde richtet."
    Zahlreiche frühe Koransuren werden von Schwüren eingeleitet, die häufig grundlegende kosmische Abläufe wie Tag und Nacht nennen. Die vorgetragene Passage setzt mit drei komplementären Paaren von Schwurgegenständen ein: Sonne und Mond, Tag und Nacht, Himmel und Erde. Die ersten beiden dieser Paare sind mit natürlichen und scheinbar eigenständig ablaufenden Vorgängen wie dem Anbrechen von Tag und Nacht kombiniert.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    An die beiden Schwurgegenstände Himmel und Erde schließen sich hingegen indirekte Verweise auf ihren göttlichen Gestalter an: „beim Himmel und dem, was ihn erbaut hat, / und bei der Erde und dem, was sie ausgebreitet hat." Der zunächst außerhalb des Blickfeldes befindliche göttliche Schöpfer tritt so allmählich hinter seiner Schöpfung hervor.
    Danach verengt sich der Fokus der Passage auf das menschliche Subjekt und seine Fähigkeit zu „Sünde" und zu „Gottesfurcht". Der Koranabschnitt gipfelt in einer Ankündigung jenseitiger Belohnung und Bestrafung: „Es gedeiht, wer sie – damit ist die menschliche Seele gemeint – läutert; / zuschande wird, wer sie zugrunde richtet."
    Nicolai Sinai mit einem aufgeschlagenen Buch.
    Nicolai Sinai lehrt Islamwissenschaft an der renommierten Oxford-University in England. (Foto: N.Sinai)
    Das grundlegende Thema dieser Koranverse sind binäre Gegensätze. So wie die natürliche Welt vom Kontrast zwischen Tag und Nacht geprägt ist und sich in Himmel und Erde gliedert, so ist die moralische Wirklichkeit vom Gegensatz zwischen „Sünde" und „Gottesfurcht" geprägt; und dieser moralische Gegensatz wiederum findet seine Fortsetzung im Kontrast zwischen jenseitiger Seligkeit und jenseitiger Verdammnis.
    Islamischen Quellen zufolge fanden ähnliche Schwüre auch in den Aussprüchen altarabischer Wahrsager Verwendung. Auch wenn die historische Zuverlässigkeit solcher Berichte nicht unumstritten ist, ist es doch wahrscheinlich, dass sich koranische Schwurpassagen in der Tat einer bestehenden literarischen Gattung bedienen – einer Gattung, welche bereits die ersten Adressaten des Korans mit dem Anspruch auf übernatürliche Eingebung assoziiert haben dürften.
    Zugleich wird diese vorgegebene Redeform auf literarisch ausgefeilte Weise in den Dienst einer neuen religiösen Botschaft gestellt: Die Welt ist das Produkt eines göttlichen Schöpfers; und sie ist in allen Bereichen durch eine zweiwertige Grundstruktur gekennzeichnet.
    Der Koran erweist sich damit als ein Text, der sich Ausdrucksmittel aus seinem historischen Umfeld zu eigen macht, um diese zu Trägern seiner ureigenen theologischen Anliegen zu machen.