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Surrealismus
"Bewusste Halluzinationen" im Filmmuseum Frankfurt

Die Surrealisten waren begeisterte Kinogänger, sahen in Buñuels Film die ideale Umsetzung ihres ästhetischen Konzepts. Eine neue Ausstellung im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt widmet sich "Bewussten Halluzinationen" - mit zweieinhalb Stunden Filmsequenzen surrealistischer Klassiker, in denen man viel über sich selbst lernt.

Von Jochanan Shelliem | 24.06.2014
    Bilder der Ausstellung "Bewusste Halluzinationen. Der filmische Surrealismus"
    Bilder der Ausstellung "Bewusste Halluzinationen. Der filmische Surrealismus" (Uwe Dettmar / Deutsches Filminstitut)
    Ein stämmiger junger Mann wetzt das Rasiermesser, probiert die Schärfe an seinem Daumennagel aus, danach an einer schmalen Fensterstrebe. Er tritt auf den Balkon und sieht hinab auf den Verkehr. Eine Frau blickt in die Kamera, sanft weitet eine Hand ihr linkes Auge, in der anderen schwingt das
    Rasiermesser heran.
    "Natürlich schockiert das, weil es einfach so körperlich nahe geht und so an psychische Urängste rührt."
    Stephanie Plappert hat die Ausstellung rund um Le chien andalou, kuratiert. Vor 85 Jahren, am 6. Juni 1929 stand der 29jährige Louis Buñuel hinter der Leinwand im Cinema Studio des Ursulines in Paris und legte zu seinem Film abwechselnd Tangos und Richard Wagners Tristan und Isolde auf. Er hatte Steine in der Tasche, weil er einen Skandal erwartete. Das Gemeinschaftswerk des Malers Salvador Dali und des Filmemachers Luis Buñuel aber wurde ein Triumph.
    "Die Surrealisten waren begeisterte Kinogänger. Die haben alles gesehen, was in den reichhaltigen Pariser Kinos zu sehen war, und die haben sich ganz arg interessiert für die massenkulturellen Ausprägungen des Films oder des Kinos. Und sie haben diese anarchische Freude am bewegten Bild, die das frühe Kino prägt, die wurde von ihnen aufgesogen und umgesetzt in frühen eigenen Arbeiten, und wenn man diese Sachen dann eben sieht, dann sind die noch nicht angepasst an frühe Sehgewohnheiten, sondern sie fordern ein, sich komplett auf sie einzulassen. Und das ist eine Herausforderung, die mit dem schnellen Youtube-Bildwelten mehr als mithalten kann."
    Die Surrealisten um André Breton sahen in Buñuels Film die ideale Umsetzung ihres ästhetischen Konzepts. Gleich fünf Mal, auf fünf transparente Gazewände hintereinander wird "Der andalusische Hund "im Empfangsteil der Ausstellung projiziert und gewinnt so eine echoartige Raumdimension. Zweieinhalb Stunden Filmsequenzen surrealistischer Klassiker, verteilt auf viele Leinwände im Raum, bilden den Bildband dieser Ausstellung, die einer Reise durch das Europa der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts unternimmt.
    "Wir wollen eine Ahnung von der Atmosphäre von den Gedankenwelten, die die Surrealisten angetrieben haben, vermitteln. Deswegen ist es eine inszenierte Ausstellung, nicht im Übermaß, aber schon mit sehr vielen Gestaltungselementen, die leise Irritationen hervorrufen."
    Aus Säulen ragen Arme und Beine von Schaufensterpuppen in den Raum. Manche Vitrinen stehen auf Puppenbeinen, manche Exponate ragen aus der Wand. Die elf Bereiche zu elf Ländern, aus denen filmische Exponate zu sehen sind, werden in surrealistische Installationen gehüllt. Form follows function – was sich allerdings erst erschließt, wenn man beginnt, ziellos herum zu schlendern.
    Kehrt man den Filmschnitten von Salvador Dali und Luis Buñuel den Rücken, so steht man vor einer der wenigen konventionellen Vitrinen im Raum. Darin die Seiten eins und zehn und elf des handgeschriebenen Manifests der Surrealisten von André Breton. Harmonisch, fast naiv mit feinem Federstrich in beschwingter Mädchenschrift, ganz ohne Hinweis auf die Radikalität des Inhalts des Surrealistischen Manifests von 1924 mit Streichungen und den Namensnennungen, derer, die als zugehörig galten:
    Sade est surréaliste dans le sadisme. Chateaubriand est surréaliste dans l'exotisme. Poe est surréaliste dans l'aventure."
    Vom Film als Instrument der Wahrheitsfindung begeisterte Künstler
    Klare Ansagen derer, die mehr wollten als Nie wieder Krieg, den Dreck der Schützengraben für Kaiser, Königin und Vaterland hatten fast alle noch in Erinnerung. Die vom Film als Instrument der Wahrheitsfindung begeisterten Künstler in ihrem Kampf gegen die Normen von Kirche, Kapital und Staat stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Von der Decke hängen Hüte an Spiralkabeln, die herunter gezogen werden können, blickt man hinein, finden sich kurze Texte, Biografien von Grenzgängern wie Man Ray. Auf Weltkarten wird die Ausbreitung der Bewegung dokumentiert, dann dreht sich die Perspektive um 90 Grad. Eine Installation aus aus der Wand ragenden Kommoden mit Filmstills polnischer Surrealisten, ein erstarrtes Durcheinander des Zerfalls mit stürzenden Schubladen, angrenzend an Vitrinen, die auf Schaufensterfigurbeinen stehen, bestückt mit Original-Zeitschriften aus der Zeit. Und immer wieder Chaplin, den sie liebten. Manche aber liebten sie nicht, am Eingang gleich die Empfehlung, das Credo oder Dogma – wie man's nimmt:
    "Voyez: Méliès, Feuillard, Chaplin, Stroheim, Sternberg, John Huston und Visconti Ne voyez pas: Lumière, Disney, Griffith, Riefenstahl, Pagnol und Rossellini."
    Man lernt viel über sich beim Gang durch diese Inszenierungen. Beispielsweise beim Pendant zu dem Augapfelschnitt. Die britische Surrealistin Lee Miller fotografierte 1930 eine abgetrennte Frauenbrust nach der Amputation mit Messer und Gabel auf einem Gedeck. Seltsam, wie unberührt das Bild den männlichen Betrachter lässt. Eine Ausstellung, die dennoch keinen unberührt entlässt, der sich den inszenierten Bildern des Unbewussten aussetzt. Sie entfaltet jenen Sog und zugleich jenes Befremden, das die Surrealisten im Visier hatten.