Eine komplexe, undurchsichtige, für beide Teilnehmer nie gänzlich ergründliche Beziehung. Vierzig Jahre waren sie miteinander verheiratet, Ruth Rohner und Emil Gygax, den sie nach dem Besuch einer Ausstellung auf den Künstlernamen "Sutter" taufte - obschon er unter seinem richtigen Namen lokale Berühmtheit genoß, als kritischer Gerichtsreporter einer Züricher Tageszeitung. Seine Unbestechlichkeit resultierte nicht zuletzt aus dem Erbe seiner Frau, das die beiden wirtschaftlich unabhängig stellte und ihnen erlaubte, an diversen Reformaktivitäten teilzunehmen. Etwa am Bau der Siedlung, in der sie ihr halbes Leben verbrachten, einer verspätet wandervogelbewegten oder verfrüht grünen Wohngenossenschaft, freilich zugleich im Dunstkreis seltsamer freikirchlicher Sektiererei angesiedelt. Ein Milieu, in dem nicht jedermann alt werden will, und so wohnt das Ehepaar Rohner/Gygax als einzige von den Gründern bis zum Schluss in ihrem Häuschen, während die alten Freunde und Genossen längst außerhalb der Siedlung Karriere machen, als Künstler und Architekten Ruhm und Reichtum mehren. Kontakte hat der mürrisch wirkende, in sich verschlossene Sutter kaum noch, nur ein gleichaltriges Ehepaar - Fritz und Monika - läßt er nach Ruths Tod aus Höflichkeit zu sich vordringen. Wozu es einiger Hartnäckigkeit bedarf, denn Sutter nimmt nicht mal das Telefon ab:
"Ich will es igno-rieren. Es gehört zu meinen Errungenschaften, nicht hinzugehen. Ich lasse es läuten. Dafür muss es läuten können", erklärt er eben jenem Fritz, dessen Eigenart, jede Anrede mit einem pa-sto-ra-len "Oh!" anzureichern, ihm den Spitznamen "OFritz" eingetragen hat. Das Telefon ist prinzipiell ein feindliches Medium, und doch - oder gerade deswegen - hebt mit dem Telefon das ganze Unheil an. So nämlich lautet der Anfangssatz des neuen Romans von Adolf Muschg wirklich: "Der erste Anruf kam am 2. November, auf den Tag genau fünf Wochen nach dem Tod seiner Frau."
Pünktlich kommt er, jeden Tag um 23 Uhr 17, ein kurzes, zweimaliges Läuten, das darum weiß, am anderen Ende keinen übereifrigen Menschen sitzen zu haben, der schon beim ersten Signal abnimmt. Sutter nimmt gar nicht ab, aber er nimmt wahr: die Regelmäßigkeit und die Uhrzeit. Wie kann ein solches Zeichen derart exakt ausfallen?
"Wer anruft, hat es nicht in der Hand, wie oft er beim Empfänger läuten läßt; das Signal in seinem Ohr entspricht nicht demjenigen des Läutwerks auf der anderen Seite."
Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau, der er nächtelang aus Märchen vorlas, weil sie nicht einschlafen konnte, hat Sutter keine Antennen fürs Übersinnliche. Dass die Tote aus dem Jenseits mit ihm in Kontakt treten wolle, erscheint ihm absurd, auch wenn seine eigenen Gedanken mit fortdauernden Anrufen nicht eben klarer werden:
"Las er die Anrufsminute zweistellig, so bestand sie aus zwei Primzahlen, 23 und 17. Die Quersumme ergab wieder eine Primzahl, die 13, und wenn er sie, nach dem einfachen Zif-ferblatt, 11 Uhr 17 schrieb, so war 11 die erste Primzahl mit zwei Stellen, und die Quersumme ergab diesmal 10, die Grundlage des Dezimalsystems. Zählte er zwei Rufzeichen dazu, so kam er auf die Zwölf, die Zahl der Monate, Stern-zeichen und Apostel. Da das Zeichen auf Bedeutung zu verzichten schien, konnte er ihm ebenso gut jede beilegen. In einem Jahr 2117 konnte noch nichts geschehen sein; dann würde die Welt, wie wir sie zu kennen glauben - und ohne tiefergehende Kenntnisse unserer selbst verändern -, unter-gegangen sein. Aber was hatte sich 2317 vor unserer Zeit-rechnung ereignet? In China, Mesopotamien, Agypten? Oder rechnete hier jemand nach anderem Maß?"
Wer lange lebt, kann viele Beziehungen überschauen - Beziehungen zwischen Menschen und Beziehungen zwischen Dingen. Ersteres ist nicht Sutters Domäne, Kontakte machte wie in vielen Ehen seine Frau. Letzteres aber spiegelt seine Detailversessenheit, seinen kriminalistisch geschulten Spürsinn wider - und sein Alter. Siebenundsechzig Jahre ist er nun, von der Zeitung aufs Altenteil geschoben, der Zeitpunkt, in dem man in die Berge geht, um wie in Max Frischs "Der Mensch erscheint im Holozän" Scherbengericht über die eigene Existenz zu halten. Suter freilich wird dazu gezwungen. Die Telefonanrufe erweisen sich nur als Auftakt, ziehen sich über fünf Monate dahin, bis es am 12. April plötzlich zu lange läutet: dreimal statt der vertrauten zwei Klingeltöne. Diese Abwechslung irritiert den abgebrühten Einsiedler derart, daß er zum Telefon spricht, ohne den Hörer abzunehmen:
"Ist da jemand? fragte er halblaut. Er bekam keine Antwort. Doch am nächsten Tag wurde auf ihn geschossen."
Literatur als Ballistik. Schon einmal, vor 27 Jahren, stand ein Schuß am Beginn einer literarischen Selbstbefragung, ja Selbstzerfleischung aus der Feder Adolf Muschgs. Der Roman "Albissers Grund", erschienen im Jahre 1974, gehört neben den "Liebesgeschichten" zu den berühmtesten Prosawerken des Schweizer Autors, und so scheint die Vermutung gar nicht abwegig, dass jener Schuss, abgefeuert vom Gymnasiallehrer Albisser auf seinen seltsamen Privattherapeuten und Beichtvater Zerutt, nicht nur jenen traf, sondern auch das Raum/Zeitgefüge verletzte und 27 Jahre später Sutters Lungenflügel durchbohrt. Berechnenderweise lässt der Autor dies offen, auch nach 335 Seiten bleiben Motiv und Täter unklar:
"Hat man eine Ahnung, wer auf dich geschossen hat? fragte OFritz.
Ich weiß es, antwortete Sutter. Du.
Fritz hatte abwesend gefragt (...). Als ihn Sutters Antwort erreichte, erschrak er. Ich? sagte er.
Bist du verrückt?
Ich mache den Test nur mit guten Freunden, sagte Sutter. In unserem Alter sind Beziehungen schwer zu haben. Da wünscht man sich ein Beziehungsdelikt. Die Polizei hat kei-ne Spur, kein Motiv, keinen Verdacht, nichts. Auch kein Interesse.
Muss ein Racheakt sein, sagte OFritz. Du solltest einen Denkzettel kriegen.
Wüsste ich nur, woran ich denken soll, sagte Sutter. Es könnte noch etwas nachkommen.
Es kommt etwas nach, aber nicht im äußeren Lebensumfeld des pensionierten Gerichtsreporters. Kein zweiter Schuss, kein kriminalistisches Showdown. Der Weg des alten Mannes geht nach innen, zurück in die Vergangenheit, die Jahre mit Ruth nach gelebter Nähe abtastend - und von Distanz und Fremdheit befreiend. Kein leichtes Spiel, eine solche Frau zu haben, die ihn mit der Begründung heiratete, sie "halte ihn gut aus". Und die Liebe? Die Nähe, das Glück?
"Beide waren sie Einzelkinder gewesen und hatten lernen müssen, Dinge, die sie bewegten, vor den Kommentaren Erwachsener zu schützen."
Einzelkinder: Leibeigene herrschsüchtiger Mütter. Die von Emil Gygax alias Sutter ist - obschon auf wenige Nebensätze beschränkt - ein besonders abstoßendes Exemplar: Frömmelnd und streng, will sie ihn nicht an die fremde Frau abtreten, bezeichnet diese als "falsch" - im doppelten Wortsinn. Ihr letztes Urteil im Leben des Sohnes, denn in einem unnachahmlichen Muschg-Satz kippt seine Biographie an dieser Stelle um:
"Sutter ließ nicht mehr rütteln an seinem Entschluß, die von der Geburt erzwungene Nähe zu einer Frau mit einer selbstgewählten zu vertauschen, auch wenn diese für ahnungslose Augen distanziert wirken konnte."
Fast höhnisch, zumindest außerordentlich doppelbödig klingt angesichts des Unheils und der Katastrophen im Leben des Protagonisten der Romantitel: "Sutters Glück"? Ein Zyniker sähe den Ertrinkungstod als Erlösungs-, zumindest Erfüllungsmetapher, und Muschg beschreibt diesen Tod in einem langsamen, filmischen Fading-Out: Nicht zur Erde kehrt Sutter zurück, sondern ins Wasser, dem seine biologischen Ahnen einst entstiegen. Wer das Werk des großen Schweizer Autors freilich ein wenig besser kennt, sieht die Titelwahl von vertrauten thematischen Fäden umsponnen. Für ihn liest sich "Sutters Glück" in der Art von "Krankheit als Chance", auch wenn das nach einem billigen Ratgeber klingt. Das alte griechische Wort vom "Kairos" - dem günstigen, entscheidenden Augenblick - zählt nicht mehr zum täglichen Sprachgebrauch, allenfalls hat man die "Katharsis" noch im Angebot. Auf Sutter treffen all diese Phänomene zu, er ist alt genug geworden und hat genügend Kriminal-prozesse beschrieben, um zu wissen, daß es Schicksal gibt im Leben.
"Ich will dem Krebs doch einen eigenen Namen geben können, Sutter. Er ist keine Labormaus, sondern mein Haustier. Ich glaube auch nicht, daß ich ihn gemacht habe -kannst du dir vorstellen, daß ich mir habe einreden lassen, ich hätte meinen Krebs selbst gemacht? - Das war Ruths unvernarbte Wunde ihrer Salzburger »Selbsterfahrung«. Der Krebs ist ein Zufall, Sutter, er ist mir zugefallen, wie dem Hans sein Glück. Der musste nur erst den Goldklumpen und den Schleifstein loswerden, dann wurde ihm leicht. Der Krebs ist mein Zufall, wie du."
Die Gretchenfrage aller Leidenden: Zufall oder Notwendigkeit? Durch Adolf Muschgs Gesamtwerk zieht sie sich seit vielen Jahren als leuchtender, roter Faden: die Krankheitsfurcht. Muschg und der Krebs sind ein Themenkomplex, in dem nicht mehr klar erkennbar ist, wo die Fiktion aufhört und der Autor anfängt - so daß vor zwanzig Jahren ein todkranker Autor Adolf Muschg zum Geburtshelfer eines sensationellen Bucherfolgs erkor. Fritz Zorn nannte sich der an Kehlkopfkrebs erkrankte Züricher Lehrer damals, als er dem bewunderten Schriftsteller sein autobiographisches Manuskript "Mars" zusandte und instinktiv wußte, damit den richtigen Vermittler gewonnen zu haben. Ein Millionenerfolg stellte sich ein, der in seiner Verquickung von Krankheit und Schuld-gefühlen, von Psychoanalyse und Alice-Miller-Schrifttum dem Zeitgeist der späten siebziger, früher achtziger Jahre exakt entsprach. Heute sieht Muschg das offensichtlich kritischer, der Sündenknüppel, mit denen Aidspatienten als schuldhaft Erkrankte kleingehalten werden, hat die Bewertung von seelischen Ursachen bei der Krankheitsentstehung in ein ungünstiges Licht gerückt:
"Vielleicht hatte OFritz, der Christ, recht, manches wäre anders gekommen, wenn sie einan-der nicht so viel erspart hätten. Vielleicht war die stum-me Rücksicht nie so einvernehmlich gewesen, wie er sich eingeredet hatte. Er kannte die These, wonach Streiten gut sein soll gegen Krebs. Wenn Menschen im Streit wachsen, schwillt ihnen nichts Bösartiges im Leib."
So präsent, wie sich das Christliche in diesem Roman zeigt, so außerordentlich suspekt wirkt es inhaltlich: kleinbürgerlich miefig, nachtragend und verlogen. Eben eine Schuld-und-Buße-Lehre, keine Befreiungstheologie. OFritz etwa, der zusammen mit seiner Frau eine evangelische Akademie leitet, schliddert in eine Ehekrise hinein, die sich von der Heuchlerei unchristlicher Beziehungsdramen in nichts unterscheidet - außer dass die Beteiligten sich immer noch für bessere Menschen halten. Zugleich aber schimmert die Faszination der Religion durch die Bruchstellen des Textes immer wieder hindurch: Das Milieu ist abstoßend, die Lehre keineswegs. Auch wenn sie von einem suspek-ten Krankenhauspfarrer - ein schwuler Häretiker- kabarettistisch brillant denunziert wird:
"Die Theologie, Herr Sutter, ist ein Abwesenheitsverfahren. Da gilt nicht einmal mehr: in du-bio pro Deo. Alle Hintertüren sind zu, auch diejenige für Schlaumeier. Glauben als Fifty-fif-ty-Spe-kulation. Gibt es Gott, so hat sie sich ausgezahlt. Gibt es Ihn nicht, so hast du mit Glauben nicht viel verloren. Falsch, Sutter, alles verloren. Die Rest-Ehrlichkeit unserer Existenz. Existenz ist das, was einer aushalten muss, gefragt oder un-gefragt. Kommt von Herausstehen. Wir stehen ins Leere wie ein blutiger Daumen, und solange er steht, kriegt er immer noch mehr ab. Einziehen kannst du ihn nicht. Fehlt die Hand dazu."
Was ist dieser Roman: ein Lebensresümee? Ein Montaignesches Bekenntnisbuch? Ein resignativer Rechenschaftsberichts darüber, was eine Biographie alles nicht zu leisten vermag - etwa Erkenntnisse in Weisheit umzumünzen, Erlebnisse zu Gelassenheit zu veredeln? Zunächst einmal ist "Sutters Glück" ein Geschenk an all diejenigen, die von Literatur etwas anderes als eine gut erzählte Geschichte erwarten: Stilistische Könnerschaft auf höchstem Niveau - so sorgfältig wie Muschg schreibt heute kaum noch ein Autor. Seine Sprache ist eine Wohltat und birgt Formulierungen, für die es sich zu leben lohnt. Daß sich Form und Gehalt untereinander bedingen, man lebensweise Sätze nur in angemessener Sprachhöhe ausdrücken kann, gehört zu den verblassenden Erkenntnissen der spannungsorientierten Lesegesellschaft.
Aber leider, leider hat der Rezensent bislang etwas unterschlagen. Nichts Geringes, einen ganzen Seitenstrang des Buches. Darin rollt Sutter einen vergangenen Fall auf, ein Tötungsdelikt im Bekanntenkreis, dessen gerichtliche Bewertung durch seine Artikel maßgeblich beeinflusst wurde. Sutters Plädoyer auf mildernde Umstände für die Täterin, die aus einem anderen Kulturkreis stammte, überzeugte die Richter. Ob jene, inzwischen freigelassene Täterin auf Sutter schoß, bleibt offen - wie die ganze Spannungskonstruktion des Romans schief und krumm in den Angeln hängt. Nach zwei Dritteln des Buches findet sich der mysteriöse Anrufer ein: jene Nachbarin, in deren Schoß sich Sutters Kopf nach dem Attentat bettete. Sie wollte nur ein Zeichen geben. Die genaue Uhrzeit: reiner Zufall.
Mit diesem Zusammenbruch des formalen Rahmens verliert der Leser an Führung, und auch der Protagonist scheint ab diesem Zeitpunkt fahriger und unbestimmter in seiner Handlungsweise. Das könnte ein genialer literarischer Kunstgriff sein, zöge sich nicht zugleich die abenteuerliche Kriminalgeschichte dahin, mehr Ballast als Tiefgang. Was Adolf Muschg oft vorgehalten wurde - sich als Meister der kleinen Form in seinen Romanen zu verlaufen - spiegelt sich in diesem Alterswerk erneut wider. Es darum nicht zu lesen, wäre freilich eine schwere Unterlassungssünde. Unwichtige Bücher verärgern einen durch ihre unwichtigen Plots; wichtigen Büchern verzeiht man manche Abschweifung. Muschg ist kein Aphoristiker. Er braucht das weite Feld, um darin die Goldnuggets zu finden. Vielleicht schüttelt man bei der Lektüre manches Mal den Kopf - aus der Hand legt man das Buch dennoch nicht.