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Sven Papcke: Gesellschaft der Eliten. Zur Reproduktion und Problematik sozialer Distanz.

Über viele Jahrzehnte waren sie als reaktionär verpönt, heute werden sie wieder hofiert - die Eliten. Der Ruf nach qualifizierter Führung ist überall zu hören - nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft und im Bildungswesen. Doch die Avantgarde von Geist und Geld kann die in sie gesetzten Erwartungen nicht immer erfüllen. Im Verlag Westfälisches Dampfboot ist nun ein Buch des Münsteraner Soziologie-Professors Sven Papcke erschienen, das sich mit dem Versagen von Eliten auseinandersetzt.

Michael Kuhlmann |
    An einem Frühjahrstag des Jahres 1981 nimmt der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum an einer Diskussionsrunde in der Bochumer Ruhr-Universität teil. Ein Termin, an den sich der FDP-Politiker lange erinnern wird. Hunderte Studenten im Publikum decken ihn mit Fragen ein. Sie überschlagen sich mit Vorwürfen - Baum sitzt vor ihnen als ein Vertreter des Establishments, des Staates. Aber der Staat - so ruft der Minister zuletzt resigniert in den Saal - der Staat, das seien doch alle, auch die Studenten selbst. Die Antwort seiner Zuhörer besteht in einem einzigen, langgezogenen Aufschrei: Einspruch!

    Mit diesem Ereignis illustriert der Münsteraner Soziologe Sven Papcke in seiner neuesten Studie das Kernproblem: Von einer Opposition wie einst in Bochum ist zwar heute nichts mehr zu spüren - dem Rückzug des Staates aber wird aus immer mehr Ecken Beifall gezollt. Ein Zustand, der den Autor zutiefst alarmiert.

    "Wie soll es ordnungspolitisch weitergehen, wenn mit dem Staat zugleich der ideelle, da per se nicht konkurrenzabhängige Regulator als Wegbereiter einer gedeihlichen Zukunft in Natur, Gesellschaft und Kultur weiter ins Abseits gerät?"

    Eine rhetorische Frage. Denn dem Autor geht es darum, den ideellen Regulator Staat funktionstüchtig zu halten.

    Gesellschaft der Eliten - so der Titel des gut 400 Seiten starken Bandes, in dem sich Sven Papcke mit den Funktionsträgern der heutigen Gesellschaft auseinandersetzt. Sein Vorgehen nennt der Autor...

    "... eine Art von soziologischem Roman als beschreibend-evaluierendes patch-work."

    Papckes Studie ist also weder ein Lehrbuch für den Nachwuchs, noch erhebt sie den Anspruch einer allumfassenden Bestandsaufnahme. Sie hält sich auch nicht damit auf, die Diskussion des Begriffs Elite um eine weitere Version zu bereichern.

    Begrifflichkeiten sind nur ein Nebenthema. Das Verhalten der Weichensteller in Politik und Wirtschaft steht im Blickpunkt:

    "Fragen nach einer adäquaten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überschneiden sich also vielfach mit dem Elitethema. Insofern steht mit auf der Agenda, dass sich 'gelingendes' Gesellschaftsgeschehen keineswegs als irgendwie autonomer oder gar selbstläufiger Prozeß auffassen lässt."

    Ein Frontalangriff auf die Lehre vom Markt, der schon alles regeln werde. Offene Kritik auch an den wissenschaftlichen Verfechtern dieser Lehre: Statt nach Wegen zu suchen, die (so wörtlich) "chaotischen Marktverläufe" zu lindern, stellen sie Diagnosen auf, denen nicht mehr Weisheit als Bauernregeln innewohnt. Keine Rede von Verantwortung für das Gemeinwohl.

    Doch darum geht es Papcke vor allem: um den Dienst an diesem Gemeinwohl. Alle gesellschaftlichen Akteure nimmt der Autor dafür in die Pflicht. Eliten obliegt es, den Kurs vorzugeben. Allerdings nur solchen Eliten, die erstens qualifiziert für ihre Aufgabe sind und zweitens effektiv kontrolliert werden. Das wiederum kann niemand besser als die Basis. Die Basis, das ist keine amorphe Masse, sondern jeder einzelne Bürger. Der Autor unterfüttert seine Sicht mit der historischen Erfahrung.

    "Ohne die Fähigkeiten des Delegierens, des Einhaltens von Vereinbarungen und des Vertrauenkönnens, denen sich die kulturelle Evolution neben anderen Bedürfnislagen und Befähigungen verdankt, wären komplexe Zivilisationen kaum auszubilden gewesen."

    In der Praxis allerdings stellt Papcke Unfähigkeit auf beiden Seiten fest: bei den Eliten und bei den Staatsbürgern.

    Den Eliten fehlt es an der Qualifikation, genauer: an der Kombination aus Sinn fürs Gemeinwohl und Fühlung zur Basis. An den Schalthebeln sitzen keine Visionäre, sondern Verwalter. Auch beim Nachwuchs sieht es nicht besser aus - trotz der vielzitierten Eliteschulen und -universitäten.

    Ähnlich pessimistisch der Blick auf die Staatsbürger: Wenn die schon ihrer Aufgabe nachkommen, die Elite zu kontrollieren, so verrutschen vielfach die Maßstäbe. Dann stehen nicht politische Inhalte zur Debatte, sondern Personen. Und überdies wird an das Handeln dieser Personen die moralische Messlatte angelegt. Der Autor hält dagegen.

    "Im politischen Raum geht es wochentäglich nicht primär um Moral. Hier spult die Abwägung von Interessen ab, wobei Gründe pro und contra abgewogen werden. Gesucht sind vor allem Absprachen, welche die Machtreserven der Akteure realistisch in Rechnung stellen."

    Und doch feiert der moralische Zeigefinger in der politischen Meinungslandschaft der Bundesrepublik bis heute fröhliche Urständ. Das nächste Problem folgt auf dem Fuß: Stürzt nämlich ein Mitglied der Elite über einen Skandal, so antwortet die Bevölkerung abermals falsch: Sie zieht sich enttäuscht zurück. Dabei hält Papcke Skandale im Grunde für einen gesunden Abwehrreflex der Demokratie.

    Die Kontrollmechanismen will der Autor im System verankert sehen, in einem Netzwerk aus Verhandlungen zwischen oben und unten. Papcke spricht von einer "wohlfahrtsstaatlich moderierten Zivilmoderne" und lässt die pointierte These folgen:

    "Die postmodernen Gegebenheiten einer funktional-notwendigen Pluralität benötigen mehr Glauben an den starken, wenngleich geschröpften Staat."

    Ein Punkt freilich, an dem sich die Studie mit der Realität konfrontiert sieht. Sie kann bestensfalls warnen: Der Rückzug des Staates hat Konsequenzen:

    "Entsprechend schrumpft der Zuständigkeitsbereich demokratisch abgestimmter Politik, ohne dass der Lösungsdruck abnimmt, der auf der Mitwelt lastet. Hier kommen andere Kräfte ans Ruder, Macht kennt kein Vakuum."

    Ein (so wörtlich) "kompensatorischer Autoritarismus" könnte diesen Freiraum im 21. Jahrhundert füllen, wie der Autor befürchtet - ohne diesen Autoritarismus indessen genauer zu umreißen. Der Gefahr muss sich aus Papckes Sicht nicht zuletzt die eigene Disziplin entgegenstemmen.

    "Möglich und nötig sind, wenn schon nicht gegen-, so doch alternativ-elitäre Analysen, um im Namen einer Politik der festen und vor allem solidarisch gestimmten Staatshand die multiplen Herausforderungen human-rational zu bewältigen."

    Ein Appell, bei dem allerdings fraglich sein dürfte, wie weit er auf Gehör stößt - und wenn ja, ob kluge Analysen außerhalb von Insiderkreisen auf nennenswertes Interesse stießen. Dieser Gefahr setzt sich auch das vorliegende Buch aus. Denn über weite Strecken verarbeitet es die Materie in einer Weise, die es dem Leser nicht leicht macht. Zwar hebt sich die Darstellung von den meisten anderen einschlägigen Publikationen durch eine farbige und facettenreiche Sprache ab. Doch sie verläuft zum einen meist auf einem hochabstrakten Niveau; und sie ist zum anderen so dicht und materialreich geraten, dass der Leser mitunter Gefahr läuft, vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen zu verlieren.

    Inhaltlich ist Sven Papcke zu bescheinigen, dass er mit Gesellschaft der Eliten den Finger in die richtigen Wunden gelegt hat. Resonanz ist dem Buch zu wünschen. Auf eine messbare Reaktion der angesprochenen Eliten und Staatsbürger freilich wird man nur begrenzt hoffen dürfen.

    Sven Papcke: Gesellschaft der Eliten. Zur Reproduktion und Problematik sozialer Distanz ist erschienen im Verlag Westfälisches Dampfboot Münster, umfasst 409 Seiten und kostet DM 68,45.