Montag, 29. April 2024

Archiv

Symposium in Berlin
Kampf um Europas Identität

Welches Europa wollen wir? Für welche Ideale sollten wir kämpfen? Das fragten sich Politikwissenschaftler und Publizisten auf einem Symposium in Berlin. Ihre Antworten fielen ernüchternd aus. An den EU-Außengrenzen werde um Zugehörigkeit gekämpft, im vereinten Europa jedoch nach Identitätsangeboten jenseits des gemeinsamen Marktes gesucht.

Von Cornelius Wüllenkemper | 29.03.2014
    Es sei ein historischer Wendepunkt, der in seiner Grundkonstellation durchaus mit den Jahren 1914 und 1938 zu vergleichen sei. Timothy Snyder, Historiker an der Yale University, gab gleich zu Beginn der Konferenz die Standards vor, an denen das explosive Potenzial der Vorgänge in der Ukraine untersucht werden sollte. Snyder ging noch weiter: Wenn die ukrainische Nation zerfalle, zerfalle damit auch die europäische Idee, oder vielmehr das, was von ihr übrig sei. Denn die Revolte, die zum Sturz von Viktor Janukowitsch und wenig später zur russischen Invasion auf der Krim führte, habe sich ursprünglich gegen ein ukrainisch-europäisches Phänomen gerichtet.
    "Die Oligarchen profitieren sowohl von der Korruption in der Ukraine, als auch vom österreichischen Bankengeheimnis und von der Möglichkeit, sich die britische Staatsbürgerschaft erkaufen zu können. Insofern ist die Revolution in der Ukraine für die EU eine Gelegenheit: Wenn sie sich bewusst werden, wie viel Einfluss die Oligarchen aus Russland und aus der Ukraine durch ihr Geld und ihr Lobbysystem real in der EU haben, können die Europäer sich überlegen, wie sie ihre Innen- und Außenpolitik neu gestalten."
    Primat der Politik der Wirtschaft unterlegen
    Während für den Yale-Professor Europas rechtsstaatliche Demokratie allein durch post-sowjetische Autokratien bedroht wird, wurden auf der Berliner Konferenz auch differenziertere Lösungen angeboten. Längst habe sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch bei den Europäern die Überzeugung durchgesetzt, dass das Primat der Politik dem der Wirtschaft endgültig unterlegen sei, sagte Ivan Krastev, Vorsitzender des Zentrums für Liberalismusstudien in Sofia. Politische Entscheidungen, egal wie demokratisch sie getroffen und egal ob sie das linke oder das rechte Lager bedienen, änderten daran nichts. Denn die Eliten bräuchten den Wähler im globalisierten Liberalismus zwar zur Aufrechterhaltung des demokratischen Status quo. Aber weder als Konsumenten, noch als Produzenten, noch zu ihrem eigenen Schutz.
    "Heute basiert der Schutz unserer Gesellschaften weniger auf dem Einsatz von Bürgersoldaten als auf Drohnen und modernster Militärtechnik. Auch der Wähler als Konsument hat an Bedeutung verloren: Deutsche Produkte werden heute eher in China verkauft als in Deutschland. Und die Arbeitskräfte zur Herstellung von Waren befinden sich heute vorwiegend außerhalb der mächtigen Industriestaaten. Das heißt, dass der Wähler enorm an sozialer Macht verliert."
    Ivan Krastev diagnostiziert einen fundamentalen Vertrauensverlust in die politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die EU werde von den Bürgern als Sachverwalter globaler Wirtschaftsinteressen wahrgenommen und nicht als Gemeinschaft europäischer Identitäten. Wenn Regierungschefs milliardenschwere EU-Rettungsfonds durchwinken, sei das wirtschaftlich zwar sinnvoll, stelle die EU aber vor ein grundlegendes Zukunftsproblem, so Krastev.
    "Wenn die Menschen Politik nicht mehr als Wettbewerb verschiedener Wirtschaftsinteressen verstehen, wird Politik für sie zusehends eine Frage von Identität. Wenn man also in Europa wirtschaftliche Entscheidungen zusehends zwischenstaatlich regelt, ist das zwar gut für die Wirtschaft, aber gleichzeitig ein großes Risiko für die EU. Denn es ist sehr viel einfacher, über Gehälter zu verhandeln, als über Identitäten."
    Ernüchternde Antworten
    Die Krise in Kiew trifft die EU in einem Augenblick, in dem der Staatenverbund zwischen Jugendarbeitslosigkeit, Vertrauenskrise, Rechtspopulismus, europakritischen Bürgerbewegungen und einem allgemeinen Identifikationsmangeln mit "denen in Brüssel" aufgerieben werde. Die deutsche Journalistin Ulrike Winkelmann bedauerte auf der Berliner Konferenz,
    "...dass die Debatte über die demokratische Identität der EU auf diese Weise unterbrochen wird. Sie begann erst, und es ist zu befürchten, dass die europäischen Institutionen die Gelegenheit nutzen werden, sie wieder abzuwürgen."
    Wer angesichts der Ukraine-Krise nach den Idealen des heutigen Europas fragt, fand auf der Berliner Tagung ziemlich ernüchternde Antworten. Während an den EU-Außengrenzen um nationale Identität und Zugehörigkeit gekämpft wird, scheint man im vereinten Europa weiterhin nach Identitätsangeboten jenseits des gemeinsamen Marktes zu suchen.