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Symposium
Menschenmassen und Emotionen

Ob Fußball-WM, Rock-Konzert oder Weltjugendtag, in der Masse erlebt man Gemeinschaft. Dabei entfällt der Zwang, sich als Individuum abzuheben. Auf einem Symposium des Einsteinforums in Potsdam haben sich Wissenschaftler mit den Emotionen bei Massenveranstaltungen befasst.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Wo fängt die kollektive Begeisterung an, und wo schlägt sie um in eine gefährliche Massenhysterie, und vor allem wieso? Und was passiert mit dem Individuum in der Masse, mit seinem zivilisatorischen Anstand und seinem persönlichen Gefühlshaushalt? Der französische Psychologe Gustave Le Bon vertrat 1895 in seinem Standardwerk zur "Psychologie der Massen" die Auffassung, dass der Einzelne, egal wie kultiviert er sei, in der Menge in einen primitiv-barbarischen Zustand zurückfalle. Steven David Reicher, Professor für Psychologie im schottischen St. Andrews, trat auf der Potsdamer Tagung gegen dieses pessimistische Menschbild Le Bons an.
    "Der traditionellen Massenpsychologie zufolge verlieren Menschen in emotionalisierten Massen die Fähigkeit, vernünftig zu handeln und für ihr eigenes Schicksal einzustehen. Ich denke, das Gegenteil ist richtig. Denn oft werden wir nur in Massen zu sozialen Akteuren, die ihre eigene Geschichte in die Hand nehmen. Und deswegen erinnern sich Menschen so stark an Massenaufläufe, deswegen ist eine Masse für sie etwas so Leidenschaftliches."
    Dynamik innerhalb von Massen
    Auch die Dynamik innerhalb von Massen spielte auf der Potsdamer Tagung eine wichtige Rolle: So ist zu unterscheiden zwischen einer bloßen Ansammlung vieler Menschen auf begrenztem Raum und einer psychologischen Menge. Die Dynamik zwischen Reisenden, die zufällig im gleichen Zug sitzen etwa, ändert sich schlagartig, wenn dieser Zug wegen einer Störung liegenbleibt. Der Wiener Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn untersucht die innere Dynamik von Gruppen mit bis zu 500 Probanden. Das Gefühl des Einzelnen in der Gruppe sei bestimmt durch zwei Ur-Empfindungen: das Begehren und die Furcht. Das Begehren, in der Masse geborgen zu sein und über sich selbst hinauszuwachsen. Und die Furcht, entweder ausgeschlossen zu werden oder aber den gefährlichen Eigenmechanismen der Masse zu erliegen. Gruppen, so de Mendelssohn, sind dabei nie als homogene Einheiten zu verstehen:
    "Man sieht auch die Geburt des Politischen in gewissem Sinn. Denn in einer unstrukturierten Masse fangen Strukturen an, mit Bewegungen, Gegenbewegungen, Subgruppen, die Leute ziehen sich zurück. Aber es gibt kein Gruppenhirn. Ich glaube nicht, dass man die Masse als Subjekt betrachten kann, wenn man das tut, ist das sehr gefährlich und verwischt die Unterschiede, die ganz wichtig sind. Wenn man in eine Masse von mehreren Hundert gehen würde, und jeden einzeln befragen würden werden sie ganz unterschiedliche Antworten erhalten, warum sie hier sind und wie sie sich fühlen."
    Risiko der Eskalation
    Wer die vielfältigen Motivationen und Gefühle innerhalb von Massen nicht beachtet, so lautet eine der wichtigsten Erkenntnisse moderner Massenpsychologie, riskiert die Eskalation. Der ehemalige Berliner Innensenator Ehrhart Körting etwa betonte in Potsdam, dass die Isolierung kleiner gewaltbereiter Gruppen innerhalb ansonsten friedlichen Menschenmassen heute zum Standardrepertoire der Deeskalations-Strategie der Polizei gehört. Was passiert, wenn Ordnungskräfte undifferenziert auf einzelne Gewalttaten innerhalb einer Versammlung reagieren, sei derzeit anschaulich in der Ukraine zu beobachten, betonte Mischa Gabowitsch, Wissenschaftler am Einsteinforum. Der radikale Polizeieinsatz gegen größtenteils friedliche Bürger-Demonstranten habe die ukrainische Protest-Bewegung zusätzlich emotional geeint und damit ihren politischen Einfluss noch verstärkt.
    "In der Ukraine kann man sehr leicht Menschen mit der Angst vor Russland mobilisieren. Und dadurch kann sich der ukrainische Nationalismus eben sehr leicht mit einer pro-westlichen Ausrichtung verbinden. Und gerade wenn man sich die Symbolik ansieht, ist dieser Nationalismus in ganz unterschiedlicher Ausprägung zu so einer Art emotionaler Gemeinsamkeit geworden. Aber das ist nicht das Einzige. Eine andere Gemeinsamkeit ist die absolute Ablehnung dessen, was als Korruption und Polizeibrutalität des Systems Janukowitsch angesehen wird."
    Das Individuum in der Masse
    Das Individuum in der Masse verliert weder seine Identität noch seine Vernunft, wie es Gustave Le Bon im 19. Jahrhundert behauptete. Vielmehr gestaltet die Masse einen neuen, zusätzlichen Identitätsaspekt des Einzelnen. Ob diese Identifikationseben mit der Masse dann Euphorie oder Aggression erzeugt, liegt nicht zuletzt in der Außenwahrnehmung: Wer Menschenmassen undifferenziert und radikal entgegentritt, provoziert eine ebenso radikale und emotionalisierte Gegenreaktion. Der Mensch, so könnte ein Fazit der Potsdamer Tagung lauten, will Teil einer Identifikationsgruppe sein und dennoch als Individuum respektiert werden.