Mit ihren bloßen Händen wühlen Männer in einem Berg aus Schutt und Steinen. Sie scheinen nach Überlebenden eines Raketenangriffs auf ein Gebäude zu graben. Videos wie dieses werden jeden Tag zu Tausenden im Internet hochgeladen, sagt Jeff Deutch.
"Der Krieg in Syrien dauert schon sieben Jahre, doch das gesamte Videomaterial über den Krieg ist viel länger. Es gibt unzählige Facebook-Posts und Twitter-Posts und dann noch eine gewaltige Masse an Material auf Youtube."
"Der Krieg in Syrien dauert schon sieben Jahre, doch das gesamte Videomaterial über den Krieg ist viel länger. Es gibt unzählige Facebook-Posts und Twitter-Posts und dann noch eine gewaltige Masse an Material auf Youtube."
Deutch arbeitet für die Organisation Syrian Archive – also Syrisches Archiv. Das kleine internationale Team sammelt und dokumentiert Videos über den Syrienkrieg, finanziell unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die meisten Videos werden mit einem Smartphone aufgenommen, erzählt Hadi Al-Khatib. Der 33 Jahre alte Syrer hat das Projekt 2014 in Berlin gegründet.
Der größte Teil der Videos wird bei Youtube hochgeladen
"Derzeit sammeln wir Material von rund 2700 Quellen. Es sind vor allem Journalisten, Medienhäuser, humanitäre Gruppen, aber auch ganz normale Bürger in Syrien, die plötzlich Zeuge eines Angriffs werden, diesen mit ihrem Smartphone filmen und dann ins Internet stellen."
Das meiste Material wird bei Youtube hochgeladen. Über Jahre hinweg war die Plattform die wichtigste Anlaufstelle für Journalisten oder Aktivisten, wenn sie nach Videos zu bestimmten Ereignissen suchten. Doch weil auch Extremisten Youtube immer öfter für ihre Propaganda nutzten, etwa die Anhänger des sogenannten Islamischen Staates, begann das Unternehmen im vergangenen Jahr mit einer riesigen Löschaktion. Nur, so Jeff Deutch:
"Die selbstlernenden Maschinen von Youtube konnten nicht zwischen extremistischen Videos und jenen unterscheiden, die Journalisten und Hilfsgruppen ins Netz gestellt hatten. Und so sind im vergangenen August hunderttausende Videos bei Youtube verschwunden, zum Teil wurden komplette Youtube-Kanäle gelöscht, die 200.000 bis 300.000 Videos hatten."
"Die selbstlernenden Maschinen von Youtube konnten nicht zwischen extremistischen Videos und jenen unterscheiden, die Journalisten und Hilfsgruppen ins Netz gestellt hatten. Und so sind im vergangenen August hunderttausende Videos bei Youtube verschwunden, zum Teil wurden komplette Youtube-Kanäle gelöscht, die 200.000 bis 300.000 Videos hatten."
Videos werden verifiziert
Unter den eine Million Videos, die das Syrian Archive auf seinen Servern gespeichert hat, sind einige zehntausend von jenen, die vergangenes Jahr gelöscht wurden. Doch die Mitarbeiter wollen mehr als nur Videos aufbewahren. Sie suchen auch nach Hinweisen auf mögliche Kriegsverbrechen. Dafür müssen sie die Videos zuerst verifizieren, also ihre Echtheit überprüfen.
"Wir haben viele technische Informationen darüber, wer wann ein Video hochgeladen hat. Und wir vergleichen unterschiedliche Videos über ein und dasselbe Ereignis."
"Wir haben viele technische Informationen darüber, wer wann ein Video hochgeladen hat. Und wir vergleichen unterschiedliche Videos über ein und dasselbe Ereignis."
Anhand von Details können die Aktivisten erkennen, ob Ort und Zeit der Aufnahmen übereinstimmen, zum Beispiel, wenn sich auf allen Videos ein weißes Auto, Trümmer einer Rakete oder eine Telefonzelle an der gleichen Stelle befinden.
"Flugdaten helfen auch zu sehen, ob zum Zeitpunkt eines Angriffs ein Flugzeug in der Luft war, das die Raketen abgefeuert haben könnte."
"Flugdaten helfen auch zu sehen, ob zum Zeitpunkt eines Angriffs ein Flugzeug in der Luft war, das die Raketen abgefeuert haben könnte."
Über die Videos können Terroranschläge rekonstruiert werden
Ein verwackeltes, mit einem Smartphone aufgenommenes Video zeigt, wie mehrere Männer hektisch eine Trage für Verwundete über eine Art Markt schieben. Auf dem Boden liegen kaputte Säcke, aus denen Kartoffeln gekullert sind. Nach Angaben des Syrian Archive zeigt die Aufnahme den Angriff auf den Gemüsemarkt in der Stadt Saraqib in der Provinz Idlib am 29. Januar dieses Jahres. Das Video ist ein Mosaikstein eines umfassenden Berichts zu mutmaßlich gezielten Angriffen auf medizinische Einrichtungen, sagt Hadi Al-Khatib.
"Verschiedene Videos zeigen uns unter anderem, dass zuerst der Markt bombardiert wurde. Und kurz darauf das Krankenhaus, in das die Verwundeten gebracht worden waren. Man kann erkennen, dass die Angreifer herausfinden wollten, wo das Krankenhaus ist. Und das konnten sie sehen, weil ja die Krankenwagen dahin gefahren sind."
Medizinische Einrichtungen genießen laut Genfer Konvention eigentlich besonderen Schutz. Gezielte Angriffe auf sie sind ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Videos liefern oft die einzigen Hinweise, um Angriffe wie diesen untersuchen zu können. Für die Arbeit von Menschenrechtsgruppen werden die Aufnahmen deswegen immer wichtiger, sagt Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch in Deutschland:
Das Videomaterial steht dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verfügung
"Wir stützen uns oft auf die Erkenntnisse, die wir aus diesen Videos bekommen, um Geschichten zu beweisen, wie einen Giftgasangriff. Verschiedene Videos, Sicherheitskameras ziehen wir heran, Satellitenbilder, wir gucken aus welchen Richtungen die Raketen gekommen sind oder die Bomben geschmissen worden sind, wir können das auch anhand der Verletzungen sehen und das alles liefert ein unglaubliches tolles Gesamtbild, das von Gerichten mit gutem Gewissen anerkannt werden kann."
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat vergangenes Jahr erstmals einen Haftbefehl erlassen, der vollständig auf Informationen aus sozialen Netzwerken basierte. Sollten nach dem Syrienkonflikt Videos bei Kriegsverbrecherprozessen zugelassen werden, stehen die Server des Syrian Archives als wichtiger Fundus bereit.