Donnerstag, 25. April 2024

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Syrien
"Wir Christen sind die ersten Opfer"

Der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Josef III. Younan kritisiert das Schweigen zahlreicher Staaten und geistlicher Führer vor der Unterdrückung der Christen in Syrien. Als größtes Problem bezeichnet er die fehlende Trennung von Politik und Religion im Islam. Den Vorwurf, die Christen stünden an der Seite des Assad-Regimes, weist er zurück.

Patriarch Ignatius Josef III. Younan im Gespräch mit Fouad EL-Auwad | 29.01.2014
    Fouad EL-Auwad: Im syrischen Bürgerkrieg sind bisher 130.000 Menschen umgekommen, über sieben Millionen sind auf der Flucht, die Infrastruktur in vielen Regionen ist total zerstört. Wie sehen Sie die Zukunft Syriens?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Auf diese Frage habe ich leider keine Antwort, da ich keinen Einfluss auf politische Entscheidungen habe. Mein Wunsch ist jedoch, dass nach all dem Leid, welches das Land und die Menschen erfahren mussten, das Blutvergießen endlich aufhört. Das syrische Volk muss sich bewusst werden, dass es keinen besseren Weg für eine positive Entwicklung des Landes geben kann, als die Begegnung und den Dialog, um auf diese Weise ein politisches System aufzubauen, in dem die Rechte aller Menschen respektiert werden.
    EL-Auwad: Was denken Sie über das Thema Trennung von Staat und Religion?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Wir fordern die Trennung von Staat und Religion. Die Zeiten, als sich die christliche Kirche in die Politik einmischte, sind schon lange vorbei. Hoffentlich erleben wir keinen Rückschritt. Heute reflektieren wir Christen unseren Glauben kritisch. Wir bekennen uns zu unseren damaligen Fehlern, aus denen wir gelernt haben. Politik und Religion gehören strikt getrennt. Beide Bereiche haben ihre eigenen Aufgaben.
    EL-Auwad: Fühlen Sie sich durch ein politisches System besonders gut vertreten?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Wir Christen glauben an die Demokratie und wünschen uns ein politisches System, in dem alle Bürger die gleichen Rechte und Pflichten haben. Wir betrachten alle politischen Systeme aus gleicher Distanz. Leider tauchte vor etwa drei Jahrzehnten ein politisches Phänomen auf, der sogenannte politische Islam. Dieser wird durch religiöse Parteien und terroristische Gruppen vertreten, welche sich das Recht nehmen, jeden Menschen nicht-muslimischen Glaubens – sei es ein Andersgläubiger oder ein Atheist – als Ungläubigen zu verurteilen. Das Ziel dieser Gruppierungen besteht in der Vereinnahmung der Politik durch die islamische Religion. Der Islam soll sich als alleinige politische Macht in der Gesellschaft etablieren. Ich spreche dem Islam hier nicht das Existenzrecht ab. Er sollte sich lediglich aus politischen Entscheidungen heraushalten. In der Einmischung sehe ich eine große Gefahr für eine friedliche Koexistenz aller Religionen.
    EL-Auwad: Haben Sie das Gefühl, Opfer von Konflikten zwischen verschiedenen islamischen Konfessionen und Gruppierungen zu sein?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Das ist unsere Befürchtung. Der Alltag im Nahen Osten verdeutlicht immer mehr, dass wir Christen die ersten Opfer sind. Es stimmt schon, dass auch Muslime verschiedener Konfessionen Opfer dieser radikalen islamistischen Strömungen sind, aber sie sind Opfer aufgrund der Konflikte innerhalb ihrer eigenen Religion.
    Dass wir Christen einen hohen Preis zahlen müssen, nicht weil wir eine Partei in diesem Konflikt sind, sondern die schwächste Gruppe in der Gesellschaft, ist sehr traurig. Alle sollen wissen, dass wir nur nach Frieden rufen. Wir beabsichtigen nicht, das politische System zu stürzen und streben keine politische Machtübernahme an. Trotzdem bezahlen wir als erste den Preis für diesen Konflikt zwischen den islamischen Gesellschaften, in denen wir leben.
    EL-Auwad: Einige bezichtigen die syrischen Christen der Unterstützung des Assad-Regimes und unterstellen ihnen, Gegner der Revolution zu sein. Inwieweit sind diese Beschuldigungen aus ihrer Sicht gerechtfertigt?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Wenn wir unsere Ansichten äußern, heißt das nicht, dass wir irgendein Regime oder irgendeine Person oder irgendeine Familie oder irgendeine Konfession unterstützen. Wir machen uns vor allem Sorgen um das Land, das wir lieben. Wir wollen in Frieden und Sicherheit leben, wohl wissend, dass das politische System in Syrien Reformen braucht. Wir stehen nicht an der Seite des Regimes, wie es uns manche in Syrien und dem Libanon vorwerfen, insbesondere Vertreter der sogenannten Opposition. Natürlich ist es dringend notwendig, den politischen Kurs zu korrigieren, vor allem im Bereich Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit, also im Bereich der zivilen Rechte. Trotzdem war das politische System in Syrien nicht so schlimm, dass wir es mit solch einem hohen Grad an Gewalt stürzen sollten, um Reformen umzusetzen.
    EL-Auwad: Wenn Sie die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen im Nahen Osten in den Blick nehmen: Wie geht die muslimische Mehrheit mit den dort lebenden Christen um?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Für gläubige Muslime unterliegen alle Aspekte des menschlichen Lebens, sowohl die öffentlichen als auch die privaten, der islamischen Religion. Sie betrachten den im Koran niedergeschriebenen Text als Wort Gottes, welches sie wortwörtlich in allen Lebensbereichen umsetzen müssen. Bedauerlicherweise ist das größte Problem, unter dem wir leiden, ich kann es nicht oft genug wiederholen, die fehlende Trennung von Religion und Politik.
    Dieser sogenannte politische Islam ist doch nichts anderes als ein totalitäres System. Alles wird über den Islam geregelt und organisiert, er löst jedes Problem nach dem Religionsrecht.
    EL-Auwad: Welche Rolle spielen die Christen in den Gesellschaften, in denen sie als Minderheiten leben?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Es besteht kein Zweifel, dass wir unsere Rolle als christliche Minderheit in den Gesellschaften, die mehrheitlich aus muslimischen Bewohnern bestehen, so verstehen, dass wir uns für eine friedliche Koexistenz einsetzen, die auf der Grundlage des zivilen Rechts, der Gleichberechtigung und des Friedens für alle Bürger basiert. Wir rufen alle Bürger auf, sich gegenseitig zu respektieren, vor allem aber Andersgläubige zu akzeptieren und niemandem seine Glaubensfreiheit zu verweigern. Wir leben seit 1400 Jahren – mehr oder weniger friedlich –zusammen im Nahen Osten und versuchen stets, uns zu arrangieren.
    Im Aufbau der arabischen Kultur und insbesondere in der arabischen Renaissance haben wir in den letzten zwei Jahrhunderten einen großen Beitrag geleistet.
    EL-Auwad: Was erhoffen Sie sich von den muslimischen Gelehrten und Geistlichen im Nahen Osten?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Muslime – Sunniten oder Schiiten – haben kein gemeinsames geistliches Oberhaupt oder Gremium, das die Verhaltenslinie der verschiedenen Konfessionen bestimmt. Aber wir erinnern unsere muslimischen Brüder daran, dass wir Christen im Nahen Osten in Syrien, im Libanon, in Jordanien, in Ägypten und im Irak, ihre Unterstützung brauchen. Wir appellieren an ihr Gewissen, mit uns gemeinsam in Frieden zu leben. Schließlich sind wir – genau wie sie – Bürger dieser Länder.
    EL-Auwad: Viele Muslime lehnen die Haltung radikaler islamistischer Bewegungen, die Andersgläubige bekämpfen, ab.
    Patriarch Ignatius Josef III.: Es reicht nicht, grausame Taten zu verurteilen und zu behaupten, es handele sich um kriminelle Banden. Alle Geistlichen müssen klare, mutige Anweisungen geben. Schließlich ist die Unterdrückung Andersgläubiger im Islam verboten. Es sind genügend leere Parolen erklungen, der Nahe Osten sei ohne Christen nicht denkbar. Damit kommen wir nicht weiter. Wir brauchen klare Ansagen. Deshalb wenden wir Christen uns an die Länder mit Einfluss auf internationaler Ebene und erinnern sie an ihre Pflicht, das Schweigen zu brechen und der religiösen Intoleranz auf diese Weise ein Ende zu setzen.
    EL-Auwad: Viele Christen haben bereits ihre Länder verlassen. Es handelt sich um die größte Auswanderungswelle seit über 100 Jahren. Wird der Nahe Osten eines Tages ohne Christen sein?
    Patriarch Ignatius Josef III.: Wir wissen genau, dass alle christlichen Familien, die über Meere und Ozeane in den Westen ausgewandert sind, nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren werden. Wir wissen auch, dass jede Auswanderungswelle die Zurückbleibenden schwächt und somit einen großen Verlust bedeutet. Unsere Rolle im Nahen Osten ist sehr wichtig und mit sehr viel Verantwortung verbunden. Wir müssen dieser Verpflichtung nachkommen, denn sie ist uns von Gott auferlegt worden. Wir müssen in dieser Region bleiben, so wie die Hefe im Teig.
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