Hartwig Tegeler: Thomas Stammer, Production-Designer von "Die Pilgerin", was braucht man, um das 14. Jahrhundert darzustellen?
Thomas Stammer: Also, erst einmal braucht man Räume, in denen man überhaupt inszenieren kann. Es ist leider so, dass das 14. Jahrhundert fast vollständig nicht mehr vorhanden. Man kann sich vorstellen, damals waren die Häuser ja, die normalen Häuser, ja aus Lehm und Holz, und es gibt keinen Bauernhof, kein Haus, kein funktionsfähiges Gebäude, das heute noch steht. Es gibt natürlich Burgen, aber die Burgen sind natürlich in den letzten 600 Jahren hundert Mal umgebaut, zerstört, wieder aufgebaut worden. Das heißt also, erst einmal ist die Frage, wo findet man überhaupt Spielorte?
Tegeler: Da muss der Production-Designer oder Szenenbildner oder Szenograph oder Art Director eine ganze Menge machen. "Die Pilgerin", ein historisches Abenteuer aus dem 14. Jahrhundert. Das zweite Bild, das haben wir eine Burg, ...
Stammer: Ja.
Tegeler: Da haben wir acht Häuser, ich habe nachgezählt. Da ist ein Fluss, da sind vier Pferde, links ist ein Haus und - ich würde mal grob sagen - ein knappes Dutzend Statisten.
Stammer: Ja, das ist natürlich das Ziel des Ganzen, den Zuschauer in diese Welt hineinzuführen, ja. Und man macht oft ein bisschen größeres Bild, ja, um zu zeigen, wo sind wir jetzt eigentlich. Und wie wichtig ist zum Beispiel, nehmen wir ein anderes, ein Zeichen aus diesem Film. Also, die Hauptdarstellerin, die den Pilgerweg nach Santiago de Compostella geht, und die Schauspielerin Josefine Preuß hat ganz häufig ein Kreuz, also so ein Kreuz, wie wir das aus der biblischen Geschichte vorstellen, Jesus mit dem Kreuz, da hat sie das Kreuz auf den Schultern. Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, die arme Frau, muss die wirklich schweres Eichenholz tragen, oder hat der Production-Designer Thomas Stammer, mit Sicherheit in Abstimmung mit dem Regisseur sagen können, okay, du kriegst heute auch mal ein Plastikkreuz. Ja, das Kreuz gab es vier Mal. Also ein Mal real; allerdings haben wir auch das reale Kreuz innen ausgehöhlt, um das Gewicht etwas zu reduzieren.
Tegeler: Wie viel hatte das denn, wissen Sie das, wie viel Gewicht hatte das?
Stammer: Ich habe es getragen, also, es hatte sicherlich 40 Kilo, hatte das schon, ja. Also, es hat ungefähr so viel gewogen wie die Hauptdarstellerin. Und dann hatten wir noch drei Abgüsse, die glasfaserverstärktes Plastik waren. Das wurde dann so gemalt, dass es dann auf Distanz von zwei, drei Metern eigentlich sehr, sehr gut aussah. Also, wir haben das am Ende auch öfter verwandt, als wir eigentlich wollten, weil es super funktioniert hat, auch als Plastik-Variante.
Tegeler: Auf was greift man zurück, wenn man 14. Jahrhundert darstellen will. Gemälde vermute ich mal, Texte wahrscheinlich auch, aber was ist die Hauptquellen für Ihre Imagination, wenn Sie als Production-Designer sagen zum Regisseur Philipp Kadelbach, okay, das ist jetzt meine erste Szene in "Die Pilgerin"?
Stammer: Ja, ich fühle mich da erst mal als Filter. Also, ich aber natürlich mehr Zeit, und meine ganze Energie ist ja sozusagen auf dieses Thema gerichtet. Das bedeutet, ich lese, ich gucke mir historische Rekonstruktionen an, zum Beispiel Museumsdörfer, ich gehe in Bibliotheken, versuche archäologische Arbeiten mir anzugucken. Ich gucke mir Filme an. Am Ende filter‘ ich das und biete dem Regisseur also meine Quintessenz an, meine Interpretation. Im Grunde sind das Skizzen, oft sind das Fotografien von realen Orten kombiniert mit Zeichnungen. Es sind aber auch Modelle. Es sind Bilder. Also Text bringt uns da nicht weiter, sondern es geht ja um Farben, es geht um Oberflächen, es geht um Strukturen, es geht um die Frage, wie fühlt sich das an, wie ist die Atmosphäre. Atmosphäre ist ja etwas, was man am besten durch ein Bild darstellen kann.
Tegeler: Thomas Stammer, Sie haben das Production-Design von "Die Pilgerin" zusammen mit einer sogenannten "mud gang" gemacht. Das heißt mit anderen Worten, das 14. Jahrhundert braucht wahrscheinlich, wenn wir es im Film sehen, sehr viel Schmutz und sehr viel Schlamm, vermute ich?
Stammer: Also, genau, das hat uns sehr interessiert, diese Realität des Mittelalters abzubilden auf dieser Ebene, weil natürlich nur die ganz wichtigen Straßen waren mit Pflastersteinen befestigt, ansonsten sind die Leute natürlich über die Erde gegangen, und das wurde natürlich, wenn es geregnet hat, durch den Verkehr ziemlich tiefer Matsch. Und dazu kam, dass aus den Fenstern die Nachttöpfe runtergeworfen und der ganze Müll auf die Straßen kam ...
Tegeler: Das hat ziemlich gestunken, vermute ich.
Stammer: Ja, und also alle Sets, die wir hatten, mussten wir komplett mit Erde, mit Schmutz bedecken. Selbst Wege in der Landschaft sind heutzutage alle sehr, sehr gut erschlossen und befestigt. Und da mussten wir immens viel Aufwand treiben, um die Oberflächen einfach in diese Zeit zurückzuführen.
Tegeler: Wenn Sie von Bauen sprechen, meinen Sie wirklich Hammer, Nagel, Säge, Akkuschrauber? Oder meinen Sie auch das "Bauen" auf einer ziemlich großen Festplatte mit einem ziemlich schnellen Rechner?
Stammer: Digitale Mittel kamen nur dann zum Einsatz, wenn es nicht möglich war, das analog, also mit baulichen Mitteln zu lösen. Das bedeutet zum Beispiel, wir hatten ein Dorf, und wir hatten eigentlich nur zwei, drei Hütten. Und wir wollten im Hintergrund noch einmal zwanzig, dreißig Hütten mehr haben. Für diese eine Einstellung, wo man einmal das Dorf als Ganzes sieht, das wurde dann mit digitalen Mitteln hergestellt.
Tegeler: Thomas Stammer, Production-Designer des ZDF-Zweiteilers "Die Pilgerin": Es gibt ja auch so etwas wie Referenzen in den Erwartungen des Publikums, was wiederum erzeugt wird durch ganz bestimmte filmische Zäsuren. Sie haben nicht nur, wie jetzt im Mittelalter oder für das Mittelalter das Production-Design gemacht, sondern Sie sind auch schon in die Antike gereist. Und wenn man mal Referenzen für die Antike in der Filmgeschichte nimmt, dann hatten wir 1956 den Film "Die Zehn Gebote". Das war sicher für viele Filmemacher danach eine Referenz. Und dann 2000 kam der Film "Gladiator". Ich vermute mal, wenn man heute "Antike macht" oder andere Filme, wenn es ums Mittelalter geht, kann man hinter gewisse Filme nicht zurück. Sind das so Leitlinien? Auch für Ihre Arbeit?
Stammer: Ja, natürlich ist es so, dass jede Zeit versucht natürlich ihre Interpretation von Geschichte abzugeben. Und die schon vorhandenen Varianten sind immer Referenzen. Für uns war zum Beispiel bei der "Pilgerin" ... "Der Name der Rose" ist ein Film, der extrem gut gemacht ist, ja, auch ein Referenzprojekt ist. Und für Antike ist "Gladiator" immer noch das Highlight eigentlich ja. Ich persönlich würde gerne jetzt mal einen Film über das antike Griechenland machen, weil ich noch keinen gesehen habe, der meine Vorstellungen dieser Zeit wirklich beschreibt.
Tegeler: Sie haben das 14. Jahrhundert rekonstruiert, Sie haben die Zeit der Nazizeit - Zweiter Weltkrieg - in dem Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" rekonstruiert. Was ist aus Sicht des Production-Designers schwieriger? 20. Jahrhundert? Oder 14. Jahrhundert?
Stammmer: Also in dem Fall wirklich das 20. Jahrhundert, weil natürlich, wir haben ja schon darüber gesprochen, also, "Die Pilgerin" spielt am Ende in einem relativ fiktiven Kosmos. Niemand kann genau sagen, wie es damals aussah und welche Musik die Leute damals gespielt haben. 20. Jahrhundert ist natürlich so, dass da teilweise, ja, noch Zeitzeugen am Leben sind. Das war bei "Dresden" mir auch sehr wichtig, dass es bestehen kann, ja, gegenüber auch den Menschen, die damals dieses Leid erfahren haben. Und da ist natürlich eine ganz andere Seriosität auch gefordert, dem gerecht zu werden. Ja. Vor allem, es ist dann auch auch Unterhaltung, aber es geht natürlich auch um ein Thema, das gesellschaftlich immens wichtig ist.
Tegeler: Thomas Stammer, wenn man heutzutage einen Film über die Antike dreht, einen Film, der in der Antike spielt, wird man wahrscheinlich, wenn man einen römischen Legionär hat, nicht auf gewisse Unterarmbänder verzichten können. Die hat es historisch nie gegeben, aber seit "Gladiator" und vielleicht auch ein bisschen davor, ist "das" Antike. An den Production-Designer die Frage, auf was kann man partout nicht verzichten, wenn man 14. Jahrhundert heute "macht"?
Stammer: Oh, das ist eine schwierige Frage. Also, es kommt natürlich immer auf das Buch an. Also, man darf erst mal nicht auf Spannung verzichten. Und auch eine bestimmte Form von ... ein Schauwert, ja. Die Zuschauer wollen natürlich den Film natürlich auch gucken, um erst mal auch eine Geschichte erzählt zu bekommen, um mit den Schauspielern in dieser Welt zu sein. Diese Welt muss natürlich auch aufregend sein, ja. Wir versuchen natürlich auch die aufregenden und interessanten Aspekte des 14. Jahrhunderts raus zu arbeiten. Dann können zum Beispiel auch diese sehr schwierigen Lebensverhältnisse sein, ja. Man muss immer aufpassen bei Mittelalter, dass man nicht in so eine Tüddeligkeit, in so eine Beschaulichkeit, Romantik reinfällt.
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