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Szenerie der Ausgemusterten und Versehrten

Lessings Typenkomödie "Minna von Barnhelm" führt verwirrte Menschen vor, die mit der auch durch den gerade beendeten siebenjährigen Krieg verstörten Wirklichkeit nicht mehr klarkommen. Wenn Goethe in "Dichtung und Wahrheit" meint, dass der politische Frieden nicht sogleich den Frieden in den Gemütern herstellen konnte, den Lessing im Bilde der Komödie bewirken wollte, so verkleinert er das Problem. Zumal mit dem Satz "Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen", denn ob das Ehrenproblem des Majors Tellheim nur ein Anachronismus mit individueller Marottenhaftigkeit ist oder als ethisch-sittlicher Konflikt ernst genommen werden muss, ist das grundsätzliche, in der Rezeption des Werks immer strittig gebliebene Problem. Dabei geht es nicht um den alten bürgerlichen Tugendbegriff, mit dem man z.B. in Lessings "Miss Sara Sampson" noch "vor Gott und seinem Gewissen" rein erscheinen konnte, sondern Tellheim geht es darum, auch vor der Welt als rein da zu stehen. So bekommt das hinter der Ehre versteckte Geldthema die ihm gemäße grundsätzliche sozial-ethische Bedeutung, und hinter der Komödie steckt stets die Tragödie.

Von Hartmut Krug |
    Regisseurin Barbara Frey hat Lessings "Minna von Barnhelm" in eine nicht näher definierte Gegenwart geholt. Es ist eine kalte, graue, trübe Welt. Bühnenbildnerin Bettina Meyer baute ihr eine winklige halbhohe Mauer. Auf der einen Seite steht ein Müllcontainer, in dem ein Soldat in grau-grüner Tarnuniform nach Essbarem wühlt, daneben ist ein Parkschild für Behinderte, und wenn sich die Bühne dreht, öffnen sich die spärlich möblierten Räume des Hotels. Just, der mit seinem Herrn Tellheim für die angereisten Frauen aus der Unterkunft geworfen wurde, schläft anfangs unter einer großen Zimmerpflanze neben einem Stehascher auf dem Flurboden. Sein Erwachen braucht Zeit und transportiert Bedeutung. Wie jede Handlung, wie jede Haltung in dieser Inszenierung: die Figuren spielen nicht, sondern werden von Gedanken und einem Konzept vorgespielt. Barbara Frey sagt uns, dass die Welt für diese Menschen trübe ist und dass hinter der munteren Komödie, die nicht gespielt wird, immer die Traurigkeit der drohenden Tragödie steckt. Deshalb schleicht Ulrich Matthes als der zu Unrecht verabschiedete Major von Tellheim wie ein in seinem Erdenjammer völlig erstickter Mann über die Bühne. Der Schauspieler ist vor allem ein szenisches Zeichen. Grau, traurig, verstört, und antriebslos. Wie ohnehin Tempo, Rhythmus, Spannung oder Entwicklung von Haltungen in dieser Inszenierung nicht Sache der Regisseurin sind. Barbara Frey zeigt nicht sonderlich pointiert eine traurig-tranige Geschichte von Menschen, die hinter ihrer Identität herlaufen. Selbst solch Kabinettstückchen wie der Auftritt des von Lessing als Tellheims Gegenbild gedachten Riccaut de la Marlinière wirkt hier wenig komisch und erscheint entbehrlich.

    Martina Gedeck als Gast, die sehr lange nicht mehr auf einer Bühne gestanden hat, sondern vor allem im Fernsehen spielte, müht sich redlich, ihrer Minna eine vernünftige, selbstverständliche Weltläufigkeit und Sicherheit zu geben, doch sie erreicht wenig Präsenz, weil sie vor der Folie von Tellheims misanthropischer Tugend nur eine Haltung bebildern muss. Während Nina Hoss als Franziska das ausgedacht Überdeutliche dieser Inszenierung mit grandioser Sicherheit umspielt und belebt. Ihre Franziska wird zum Zentrum des Stückes, die Figur wird zum lebendigen Menschen. Wenn Nina Hoss sich zu Beginn die blonden Haare zu einem auf ihrem Kopf thronenden kleinen Dutt feststeckt, gibt sie das Zeichen für die kesse, kokette Kammerjungfern-Rolle. Wie die Schauspielerin jede Gemütsregung in Ausdruck und Bewegung übersetzt, wie sie Leidenschaften und Wünsche, Erschrecken und Mutwilligkeit ganz natürlich lebt, das macht sie neben den kalten, starren Hauptfiguren so spannend. Gut, Frank Seppeler als Wachtmeister und Sven Lehmann als Tellheims Bedienter Just geben sorgfältige psychologische Figurenstudien, und Horst Lebinsky ist ein wunderschön aufdringlich neugieriger Wirt, doch sie alle exekutieren nur redlich das enge Regiekonzept. Nina Hoss öffnet die Inszenierung aus ihrer Thesenhaftigkeit in die Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit einer menschlichen Geschichte.

    Deren Schluss – natürlich - traurig-skeptisch daher kommt. Die zwei Paare gehen eher verblüfft und zaghaft ab und finden sich dann isoliert unter einem hohen Sternenhimmel wieder. Mit dem Blick in den Sternenhimmel bleiben die Zweifel an der guten Weltordnung, und das gute Ende scheint nur ein trauriger Traum.
    Von dieser Aufführung und ihrer Titeldarstellerin hatte man sich viel versprochen. Ein Ereignis ist sie nicht geworden, aber auch kein Flop. Sondern irgendetwas dazwischen: eben ganz normales Theater.