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Tablettentest für die Wissenschaft

Arzneimittel zeigen nicht immer ihre gewünschte Wirkung. Im schlimmsten Fall können Patienten sogar sterben. Im Center of Drug Absorbtion and Transport (C-Dat) der Uni Greifswald versuchen Wissenschaftler Neben- und Wechselwirkungen auszuschalten.

Von Melanie Last | 31.01.2012
    "Man weiß ja, was man nimmt im Vorhinein. Wenn das jetzt nicht zugelassen wäre, würde ich da schon mal drüber nachdenken. Also Bedenken hatte ich da noch nie."

    Franziska Kley ist eine von zwölf gesunden Probanden, die für eine aktuelle Studie der Greifswalder Uni freiwillig Pillen schlucken: ein zugelassenes Medikament gegen Harninkontinenz. Ein Pharmazieunternehmen hat es bereits auf den Markt gebracht. Mithilfe der Greifswalder Wissenschaftler soll es aber verbessert werden.

    "Wir übernachten von Freitag zu Samstag hier, kriegen ein standardisiertes Abendessen und ein standardisiertes Frühstück. Und nach dem Frühstück nehmen wir dann die Tablette und dürfen dann auch fünf Stunden nicht aus dem Bett aufstehen."

    Einen Tag lang bleibt die Medizinstudentin unter ärztlicher Kontrolle. Bis zu 20 Mal lässt sie sich Blut abnehmen, ihre Herzaktivität per EKG messen, wenn es sein muss auch mal eine Magensonde legen. Unter der Woche kommt die 27-Jährige danach täglich auf die Probandenstation, um ihre Urin- und Stuhlproben abzugeben.
    "Morgen."

    "Morgen."

    "Ich stell die einfach hier hin."

    "Alles klar."

    "Ich nehme die neuen dann von vorne mit."

    "Danke, okay."

    "Das ist einmal ein Behälter für Stuhl und einmal ein Behälter für Urin, den wir 24 Stunden gesammelt haben seit gestern Morgen und jetzt hole ich mir die neuen."

    Anhand der Proben können die Greifswalder Wissenschaftler erkennen, wie schnell der medizinische Wirkstoff im Körper umgewandelt und abgebaut wird. Der Leiter der klinischen Pharmakologie, Professor Werner Siegmund:

    "Wir wissen zum Beispiel von diesem Medikament, dass die Aufnahme mit einer Nahrung, wenn man gleichzeitig mit der Einnahme der Tablette auch isst, dass dann die Aufnahme sehr stark verändert wird."

    Eine andere Medikamentenform kann da die Lösung sein.

    "Zum Beispiel bekommen unsere Probanden in einem Durchgang das Medikament gespritzt. Dann können wir sehen, wenn wir es oral geben, wie viel wird denn nach oraler Gabe im Vergleich mit der intravenösen Gabe aufgenommen. Ich kann vergleichen eine intravenöse Gabe mit der Gabe auf einem nüchternen Magen und einer Gabe mit Mahlzeit. Ich kann aus diesen Unterschieden herausarbeiten, was die beste Applikationsweise für dieses Medikament ist."

    Mit diesem Wissen entwickeln die Pharmakologen gemeinsam mit den Pharmazeuten zuverlässigere und sicherere Medikamente, zum Beispiel gegen Harninkontinenz. So entscheiden die Apotheker, ob eine Kapsel besser geeignet ist als ein Dragee oder ob das Medikament – je nach gewünschter Wirkung – besser in pulveriger oder flüssiger Form verabreicht werden sollte.

    "Und dann gehen wir wieder zurück. Dann gehen wir wieder zur Pharmakologie, nämlich die klinische Pharmakologie und prüfen diese neue Tablette. Macht sie wirklich im Patienten das, was wir uns vorstellen?"

    Stefan Oswald ist der C-Dat-Laborleiter. Was er und seine Forscherkollegen aber vor allem suchen, sind Arzneimittel, die nur dort wirken, wo sie tatsächlich gebraucht werden. Also allein in der Blase oder in Niere, Herz oder Leber. Dazu müssen sie verstehen, wie das Medikament im Körper von A nach B transportiert wird und welche chemischen Verbindungen es eingeht. Ein Beispiel: die sogenannten Statine – Arzneimittel, die den Cholesterinspiegel senken.

    "Da haben wir eben das Problem, dass dieses Arzneimittel völlig ausreichen würde, wenn es nur in der Leber wäre, weil in der Leber ist der Hauptort der körpereigenen Cholesterolsynthese. Da weiß man auch schon aus dieser Medikamentenklasse, da gibt es welche, die sich ein bisschen spezifischer in der Leber anreichern. Die machen weniger diese zum Teil sehr schweren Störwirkungen, die auftreten können. Es kann nämlich bei Statinen zu Muskelschäden kommen, die auch tödlich verlaufen können."

    Die sogenannte Rhabdomyolyse, bei der sich Muskelfasern regelrecht auflösen. Ein Fall, der zwar nur bei einigen Patienten auftritt. Aber er macht deutlich, warum die Greifswalder Forscher so händeringend nach Medikamenten suchen, die eben nicht gleich den gesamten menschlichen Organismus belasten.

    "Ein Beispiel sind Kontrastmittel. Es gibt MRT- und Röntgen-Kontrastmittel, bei denen weiß man, die reichern sich nur in diesem einen Organ an. Und deswegen nutzt man sie auch für die bildgebenden Verfahren. Und unser Gedanke ist dabei, man könnte doch diese spezifischen Aufnahmemechanismen, die dahinter stehen, einfach nutzen, indem wir Arzneimittel daran koppeln an derartige Strukturen. Und dann könnte man vielleicht eine organspezifische Wirkung erreichen."

    Und für diese Zukunftsvision bleiben Probanden, wie die Medizinstudentin Franziska Kley, gern mal über Nacht auf der Probandenstation und schlucken – für die Wissenschaft – Tabletten.