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Tabuthema NS in der Musik

Es ist davon auszugehen, dass die Funktionsträgerschicht des Kulturlebens in Deutschland vor 1945 in ähnlichem Umfang nationalsozialistisch ergriffen und organisiert beziehungsweise "gesäubert" war wie die Ärzte- oder Lehrerschaft – also zu mehr als 98 Prozent.

Von Frieder Reininghaus |
    Dass es auch mit der "klassischen" Musik, als im Sommer 1945 die nicht zerstörten Konzerthallen oder Behelfsräume wieder bespielt wurden, weiterging wie vordem, erscheint daher kaum verwunderlich. Furtwängler, Böhm, Keilberth und Karajan dirigierten nach den kurzen Pausen, die sie auf Anordnung der Besatzungsbehörden einlegen mussten, fast dasselbe Repertoire, wie vor dem, was nun "Zusammenbruch" genannt wurde. Auch die Tonlage der Musikkritik veränderte sich zunächst wenig (sie hatte nun lediglich gewisse Reizworte zu vermeiden). Die bei Uraufführungen berücksichtigten Komponisten vertonten Hölderlin, nicht mehr Baldur von Schirach. Oder sie schrieben statt einer Schlageter-Symphonie schlicht ein Concertino.

    Die Neue Musik (mit dem großen N) begann sich erst langsam in Folge der alliierten Reedukationsmaßnahmen zu rühren, bekam eigene Reviere und berührte dann das allmählich das aufgrund internationaler Einflüsse sich wandelnde "klassische" Musikleben.

    Die universitär eingebundenen Produzenten des "Musikschrifttums" kehrten, nicht anders als ihre Kollegen aus anderen Geisteswissenschaften, nach Krieg und gegebenenfalls Gefangenschaft an die Universitäten zurück – und zogen den Nachwuchs nach Maximen auf, die sich vom nationalistisch Deutschen zum "Abendländischen" modifizierten. Prominente Beispiele fürs Durchhaltevermögen: Joseph Müller-Blattau, NSdAP- sowie SA-Mitglied seit 1933 und Experte bei der SS für Germanisches Erbe in der deutschen Tonkunst, bildete mit Walter Salmen oder Christoph-Hellmut Mahling einflussreiche Schüler aus, die gegen den Vater und Förderer nicht aufbegehrten.

    Von Heinrich Besseler, ein "zuverlässiger" Parteigänger, der die Musikpflege vom "Geist des neuen HJ-Liedes" durchdrungen wissen wollte und dann in der DDR Karriere machte, erhielt Karl Michel Komma die höheren wissenschaftlichen Weihen – der hatte sich selbst schon im Reichsprotektorat Böhmen als linientreuer Tonsetzer hervorgetan und lehrte dann bis 1989 an der Stuttgarter Musikhochschule. Zu den langjährigen Mitarbeitern und Zöglingen von Walter Wiora, NS-Volksliedforscher und Protagonist einer "Sonderstellung abendländischer Musik", gehörte Ludwig Finscher, Herausgeber der nach wie vor von Asymmetrien geprägten neuen Ausgabe des Großprojekts Musik in Geschichte und Gegenwart. Dieses erst unlängst abgeschlossene Lexikon verschleiert und beschönigt weiterhin durchgängig die Biografien der ins NS-System involvierten Kollegen; es widmet sich ausführlich Kleinmeistern früherer Jahrhunderte, vernachlässigt aber Aktivisten des Musiklebens im Hitler-Regime.

    In der deutschen Musikforschung wurden in der Nachkriegszeit die vorangegangenen "Verstrickungen" nicht thematisiert, auch wenn die Kollegen Bescheid gewusst haben dürften. Im besonderen Fall von Hans Heinrich Eggebrecht spielte eine Rolle, dass dieser bis 1949 in Thüringen lebte. Boris von Haken erläuterte auf Rückfrage, dass er sich dort "keinem Entnazifizierungsverfahren stellen" musste, "da es eine Jugendamnestie für die Jahrgänge ab 1919 gab." Eggebrecht ging im Sommer 1949 nach Berlin – dort hatten die Behörden im Osten die Entnazifizierungsmaßnahmen und die Zusammenarbeit mit Dienststellen im Westen eingestellt (hier wären aufschlussreiche Akten zu finden gewesen). Als der Wissenschaftler dann in die südliche Bundesrepublik zog, "war alles offensichtlich ganz einfach": Er avancierte und krönte seine Karriere bezeichnenderweise mit einer Musikgeschichte im Abendland.

    Auch in der Musikforschung haben sich seit den 60er-Jahren die Dinge nach und nach gewandelt – freilich ohne das heftige Aufbegehren und die tieferen Verwerfungen, die andere Disziplinen heimsuchten (insbesondere die Germanistik). Unterschiedlich ist die Strömungsgeschwindigkeit des Luftzugs, der vor 40 Jahren einsetzte. Im Bereich der Musikpublizistik war und blieb er langsam. Später als in Nachbardisziplinen begann die Exilforschung. Und noch eine ganze Zeit lang wurden aus Beiträgen für Tageszeitungen zu einem Geburts- oder Todestag von musikalisch Prominenten, die zwischen 1933 und 45 Karriere gemacht hatten, bevorzugt die Passagen über eben jene Zeit herausgekürzt. Es gibt eine Kontinuität der Verdrängung, die bis in die Sprache der Musikpublizistik hinein nachweisbar ist. Und von einer Wächterfunktion gegenüber den mit Musik befassten Medien und Industrien kann kaum die Rede sein.