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"Täter"

Sie waren Dachdecker oder Koch, Friseur oder Akademiker - ganz normale Männer also, und doch haben sie mit dem Mord an fünf Millionen Juden das größte Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts begangen. Die Psychologie der Täter steht im Mittelpunkt einer Untersuchung von Harald Welzer. Der Autor konzentriert sich auf den Russlandfeldzug und das Polizeibataillon 45; auf wenige Monate ab Juli 1941, in denen sich das Töten erschreckend schnell professionalisierte, so dass Auschwitz möglich wurde.

Von Natascha Freundel |
    "Ohne Moral hätte sich das Töten nicht bewerkstelligen lassen", schreibt Harald Welzer. Und er bekräftigt damit in erster Linie die Überzeugung des Historikers Raul Hilberg, dass der "Gewaltausbruch" der Deutschen, der fünf Millionen Juden vernichtete, "nicht aus heiterem Himmel" kam; sondern, so Hilberg: "Er fand statt, weil ihm die Täter einen Sinn beimaßen." Welzers Quellen sind vor allem Protokolle aus Strafermittlungsverfahren, die zumeist Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre stattfanden. So erinnert sich etwa Engelbert Klamm, rund 20 Jahre nach seiner Zeit als Chef der 2. Kompanie des Reserve-Polizeibataillons 45: "Ich war erschrocken, ... vollkommen 'außer Häuschen'. ... Ich habe gesagt, so eine Schweinerei mutet man uns zu, wir sind Soldaten und wollen kämpfen, aber nicht das tun." Harald Welzer:

    " Es ist diese Situation, wo man sich selber noch als moralisch handelnden Menschen im Töten wahrnehmen kann, die uns eigentlich darauf aufmerksam macht, dass hier Sinngebungsprozesse im Gange sind. Die Leute denken nach, was sie tun, widerspricht eigentlich dem Bild, das sie von sich selber haben. Ich bin ein guter Kerl, warum soll ich Kinder umbringen, ich habe selber Kinder, warum soll ich Kinder töten. Warum soll ich dieses 16jährige Mädchen umbringen, was mir gar nichts getan hat. Das ist ja erstmal gar nicht einfach. Es gibt auch Diskussionen dieser Männer darüber, es gibt auch Überzeugungsarbeit gegen sich selbst, die geleistet werden muss. Also das man sagt: Okay, wir wissen, das ist eigentlich unmenschlich, was wir hier tun müssen, aber zugunsten der größeren Sachen oder genau wegen unserer eigenen Kinder, damit die es besser haben, entscheiden wir uns dafür. "

    "Ordinary Men" - "ganz normale Männer" - realisierten die so genannte Endlösung schon im Krieg gegen Polen, das zeigte als erster der Holocaust-Forscher Christopher Browning 1992 in seiner gleichnamigen Studie. Harald Welzer konzentriert sich auf den Russlandfeldzug und das Polizeibataillon 45; auf wenige Monate ab Juli 1941, in denen sich das Töten erschreckend schnell professionalisierte, so dass Auschwitz möglich wurde. Und zwar nicht etwa, weil die Täter allesamt "Weltanschauungskrieger" gewesen seien, wie es Daniel Goldhagen einmal formulierte.
    " Also man muss sich ja hier immer klarmachen, dass die Angehörigen der Einsatzgruppen und die dazu hinzugezogenen Hilfstruppen der Reservepolizisten im Grunde genommen ja weder fanatische Nationalsozialisten noch ausgebildete Killer gewesen sind. Sondern das sind Leute, die sind im Zivilberuf Dachdecker oder Koch oder Friseur oder so was gewesen, so dass man eigentlich sagen muss, dass sich die Mörder in allen wesentlichen Hinsichten nicht von allen anderen unterscheiden. Also weder von der Qualifikation, also viele oder alle Leiter der Einsatzgruppen hatten Doktortitel, also durchaus auch schöngeistige Interessen und dergleichen. Also weder die Qualifikation, noch das Bildungsniveau, noch die Religionszugehörigkeit, noch die soziale Herkunft, noch das Lebensalter, noch sonst irgendwas macht einen Unterschied dafür, ob sich jemand für das Töten entscheidet oder dagegen. "

    Entscheidend ist für Welzer, dass sich der Massenmord an den Juden als sozialer, normativer und dynamisch wachsender Prozess vollzog. Für das Polizeibataillon 45 begann alles in Schepetowka, einer ukrainischen Kleinstadt zwischen Lemberg und Kiew. Der 50jährige Polizeimajor Ulrich Gutmann, im Bataillon "Papa Gutmann" oder "Opa Gutmann" genannt, hatte Schwierigkeiten mit der Lizenz zum Töten, das heißt mit der Anordnung, sein Bataillon habe sich an der vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, angeordneten Vernichtung der Juden zu beteiligen. Doch Gutmann nahm seinen Einspruch zurück, als ihm mit einem "SS- oder Polizeigericht" gedroht wurde. Gemeinsam mit seinem 25jährigen Adjutanten Dackeln und dem 27jährigen Kommadoführer Klamm entschied sich Gutmann für die so genannte Judenaktion. Nahezu alle etwa 3900 jüdischen Einwohner Schepetowkas wurden dabei ermordet. Die meisten Mörder gaben der Aktion "Sinn", indem sie diese für zwar schmutzig, aber unausweichlich hielten. Ungebrochen spricht diese Logik aus den 20 Jahre danach aufgenommenen Vernehmungsprotokollen. Und doch hätten sie anders gekonnt, betont Harald Welzer:

    " Diesen Spielraum gibt es aber mehr oder minder ausgeprägt eigentlich an jeder Stelle des ganzen Vorgangs, weil man muss ich ja vorstellen, dass das Ganze - so archaisch brutal das im Ergebnis aussieht - ein ziemlich komplexer arbeitsteiliger Vorgang ist. Also, die zu tötenden Personen müssen identifiziert werden, man muss Leute haben, die die finden, dann aus den Häusern holen, es müssen Transporte organisiert werden, es müssen Gruben ausgehoben werden. All diese Dinge, das heißt, so eine Tötungsaktion ist nicht so eine Geschichte: Da gibt's einen Befehl und fünf Minuten später findet die Ermordung statt, sondern da liegen zum Teil Tage dazwischen oder noch längere Zeiträume dazwischen und mit sehr viel ganz verschiedenen Arbeitsvorgängen."
    Auf Schepetowka folgte Berditschew, die jüdischste Stadt der Ukraine, wo eben jener Kompaniechef Klamm, der anfangs über die "Schweinerei" "außer Häuschen" war, seine Erfahrungen weitergibt und den Schützen zeigt, wie sie am besten das Genick treffen. In Winniza, wo nicht Gruben, sondern Brunnenschächte zu Massengräbern werden, schaffen die Männer mit langen Stangen mehr Platz. In Shitomir ärgert sich das Sonderkommando 4a darüber, dass ihnen nicht die richtige Munition für Exekutionen zur Verfügung gestellt wurde. In Kiew schließlich werden im September 1941 33.771 Männer, Frauen und Kinder in der Schlucht von Babij Jar ermordet: Transport und Tötung im Akkord verlaufen hier schon relativ reibungslos. Es gibt ein warmes Mittagessen für die Deutschen und Schnaps; von einer Böschung aus beobachten "Kameraden" und Offiziere den Massenmord. Auf eben solche Details lenkt Harald Welzer die Aufmerksamkeit:

    " Warum ist es möglich, dass diese Mordaktionen Zuschauer haben? Was bedeutet es eigentlich für die Wahrnehmung der ortsansässigen Bevölkerung, wie stehen die zu dem, was da vor sich geht? Was bedeutet es für einen Schützen an der Grube, wenn hundert Meter von ihm Männer Frauen und Kinder stehen, die zuschauen, wie er Männer, Frauen und Kinder ermordet. Und was es bedeutet, ist dann glaube ich relativ einfach zu verstehen, dass jemand, der so etwas tut, dort einen Mord begeht, seine Handlungsweise gar nicht so sehr in Frage stellt, wie wenn er alleine das machen würde, weil die Zuschauer in ihrer Anwesenheit ja auch irgendwie zum Ausdruck bringen, dass das interessant und okay ist, was da vor sich geht. "

    Sehr nüchtern, beinah lakonisch, analysiert Welzer - immer in einer psychosozialen, also von der Selbstbeschreibung der Täter ausgehenden Perspektive - wie die "Judenaktionen" vom Polizeibataillon 45 als Arbeit behandelt und erledigt wurden; wie etwa der Mord an Kindern mit durchaus komplexen Problemlösungsmechanismen einher ging; und wie die Männer die von Günter Anders so genannte "Chance der unbestraften Unmenschlichkeit" auch sexuell auslebten. Erschütternd ist das Fazit Welzers: Aus den Nazimonstern werden "ganz normale Menschen", aber das heißt nichts anderes, als dass diese Menschen zu allen Monstrositäten fähig sind.

    " Womit wir eben letztlich konfrontiert sind, ist, dass letztendlich, wenn so etwas vorkommt, und der Holocaust ist ja nur ein Beispiel, sich doch eben die weit, weit überwiegende Mehrheit der Beteiligten doch für das Morden entscheidet und die weit, weit verschwindendere Minderheit eben dagegen. Das denke ich, ist ein Problem."

    Eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Massenmorden, schreibt Harald Welzer, ist die Unterscheidung zwischen einer Wir-Gruppe und einer Sie-Gruppe, und "Sie", das sind die kategorial anderen, die nicht aus eigener Kraft Teil der Wir-Gemeinschaft werden können. Vietnam, Ruanda und Ex-Jugoslawien dienen Welzer als Beispiele. Woher der Wille zur Ausgrenzung von Menschen durch Menschen kommt, kann auch er nicht erklären. Er betont, dass der Holocaust in seiner Dynamik einmalig war; doch niemals und nirgendwo sei kollektive und organisierte Brutalität mit Moral aufzuhalten. Das entlässt die Täter keineswegs aus ihrer Schuld. Es weist für Harald Welzer aber darauf hin, dass die "Holocaust Education" mit der Gebetsmühle "Nie wieder" nicht weiter kommt. Kann es doch, so Welzer, immer wieder geschehen.

    " Insofern finde ich diejenigen, die an einer bestimmten Stelle sagen, hier steige ich aus, jetzt mache ich was anderes, wenn man überhaupt in solchen Kategorien denkt, für viel, viel lehrreicher als sozusagen das immer wieder durchgehen durch das Grauen und sagen: wie furchtbar, wie furchtbar, das wollen wir nie wieder haben. "

    "Täter"
    Von Harald Welzer
    (S. Fischer Verlag)