"Seit 1917 haben wir so viele neunmalkluge Sowjetologen, aber keiner von ihnen hätte sich dazu durchringen können, diesen banalen Satz zu sagen, ehe das imperiale System, das sie wissenschaftlich beschrieben, plötzlich auseinanderzubrechen began." Den Satz notierte er 1993. Intellektuelle nennt er zwei Jahre später"Esel". Und schon 1987 schrieb er:
"Man diskutiert, analysiert, redet klug daher und betreibt Haarspalterei, dabei ist die Sache so einfach, so unglaublich einfach! "Ich liebte ihn auch", bekennt Ingmar Bergmann in seiner Autobiographie. "Ich war viele Jahre lang auf Hitlers Seite, freute mich über seine Erfolge und war traurig über seine Niederlagen. ... Als die ersten Nachrichten aus den Konzentrationslagern über mich hereinbrachen, konnte meine Verstand zunächst nicht akzeptieren, was meine Augen registrierten."
Das ist für Herling der entscheidende Satz. Entscheidend ist für ihn nicht die anfängliche Verführungskraft, sondern die spätere und dann oft dauerhafte Trübung des Verstandes. Herlings Thema war der Sozialismus, Schicksal aber war die Emigration. Ist das erstaunlich oder Merkmal eines Schriftstellers, dass er sie nicht als Verbannung, nicht als definitive Trennung von seinen Lesern und vor allem der polnischen Sprache erfahren hat? Er selbst sieht es 1985 so:
"Wenn es einem Autor gelingt, einen rohen Sprachblock aus der Heimat auszufahren, dann kann er ihn auch in der Fremde ein Leben lang erfolgreich behauen. Oft ist die Trennung sogar förderlich: Mit seinem Feinsinn findet er im Sprachmaterial Gestalten und Formen, zu denen er unter dem ständigen Druck der lebenden Sprache vielleicht nie vorgedrungen wäre; mit geschärftem Blick und wachem Ohr sieht und hört er Wortnuancen und Satzkadenzen, die man möglicherweise nur in völliger Isolation und Stille vernimmt. Der Rest ist Sache der Phantasie, Sensibilität, Intelligenz, Erfahrung, Beobachtung, Kontemplation, von Träumen und Stilfindung - einer Problematik also, die in der Literatur und nicht in der Sprache begründet ist."
Nach dem Umbruch von 1989 gab es für Herling keinen Grund seine Einstellung zu ändern. 1990 stellte er,quasi abschließend die Positionen von E.M. Cioran und Witold Gombrowicz, die diese allerdings schon 1952 in der"Kultura" markiert hatten, einander gegenüber. Der Rumäne Cioran spricht elegant vom schmerzhaften Umsichschlagen in der Leere, von der Verbannung als Schule des Wahns, vom Exil als der Hauptstadt des Nichts. Dem stellt Herling dann seinen Landsmann Gombrowicz gegenüber:
"Gombrowicz dagegen nagelt Ciorans desperate Kleinlichkeit mit Intelligenz und Scharfsinn meisterlich fest. Die Kunst steckt voller Elemente der Einsamkeit und Selbstgenügsamkeit. Vaterland? Schließlich war jeder, der herausragend war ganz einfach wegen seiner Außergewöhnlichkeit sogar im eigenen Haus ein Fremder. In der Tat ist es ziemlich gleichgültig, an welchem Ort der Erde sich Schriftsteller quälen, die nicht genügend Schriftsteller sind, um wirklich Schriftsteller zu sein. Und vielleicht ist es heilsamer, dass sie der Beihilfen des Beifalls und der kleinen Schmeicheleien beraubt sind. Cioran erzählt, wie der Schriftsteller, der von seiner Gesellschaft isoliert ist, zugrunde geht. Aber dieser Schriftsteller hat niemals Wirklich existiert; es ist das Embryo eines Schriftstellers. Theoretisch gesehen und ohne die materiellen Schwierigkeiten zu berücksichtigen, glaube ich eher, dass jenes sich Einlassen auf die Weit, das die Emigration darstellt, für die Literatur einen ungeheuren Anreiz ausmachen sollte."
Hi,er formuliert sich für Herling eine grundsätzliche Alternative, eine Alternative die über Fragen des Exils hinausgeht. Ebenfalls 1990 schrieb Herling:
"Die Schwarzseherei ist eine besondere schriftstellerische Richtung, um nicht zu sagen Philosophie, der zahlreiche hervorragende Vertreter angehören, aber zweitrangige Nachahmer, die modische apokalyptische Grimassen schneiden. Meister dieser Gattung ist natürlich der rumänische Schriftsteller E. M. Cioran. Einige aphoristische Proben. Der Mensch ist unannehmbar. Den ganzen Vormittag habe ich nur wiederholt: Der Mensch ist ein Abgrund. Der Mensch ist ein Abgrund. Leider war es mir unmöglich besseres zu finden."
Herling bringt Beispiel um Beispiel - um dann abrupt zu enden: "Unsinn, der nicht einmal eine Antwort verdient."
Ist Herling also trotz allem Optimist? Ein Jahr später, 1991, führt er die abrupt abgebrochene Auseinandersetzung implizit fort. Der französische Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov hatte in einem Buch anhand literarischer Zeugnisse die Welt der Konzentrationslager beschrieben. Auch Herlings Werk über seine Zeit in einem russischen Straflager "Welt ohne Erbarmen" wurde hier analysiert. Todorov stellte sich die grundsätzliche Frage, ob es angesichts des Anwachsens des Bösen im vergangenen Jahrhundert, ein Befund dem Herling zustimmt, eine teuflische Saat zurückgelassen wurde oder ob der Untergang von Nationalsozialismus und Kommunismus Anlass zur Hoffnung geben. Da wird Herling zum Pessimist:
"Die Banalität des Bösen ist und bleibt wahrscheinlich stärker als die Banalität des Guten..."
... sagt er mit Hannah Arendt. Mit diesem Widerspruch von Optimismus und Pessimismus sind wir im Kern von Herlings Philosophie angelangt. Personifiziert wird er im Tagebuch durch die Figur des Teufels, Herling ist ohne Zweifel fasziniert von ihm:
"Der literarische, symbolische Teufel lebt und wird ewig leben, weil er ein Synonym für das ewig Böse ist, deshalb soll er euch mit seinem Rentneraussehen nicht irreführen, mehr noch - er hat sein Wirken in anderen, der Gegenwart besser angepassten Gestalten verstärkt."
Einmal belauscht Herling ihn quasi bei der Arbeit und das genau ist der Punkt, wo bei ihm die Literatur beginnt:
"Ein bedeutender Teil meiner Macht liegt in der Stümperhaftigkeit der Vorstellungen über mich. Sogar unter meinen hervorragenden Verfolgern. Ich kugelte mich vor Lachen und quietsche vor Vergnügen bei dem so unerwartet Aufsehen errregenden Ausbruch Pauls VI., einem aus Worten, Worten und nichts als Worten gewundenen Anathema über mich. ... Der Kitsch meiner Intervention im Doktor Faustus erfüllt mich mit Missbehagen und Verachtung. ... Ich bin immer dort, wo ich scheinbar nicht bin. Ich bin niemals dort, wo ich scheinbar bin. Ist das so schwer zu verstehen?"
Hier genau haben die vielen Brechungen in den Erzählungen von Herling ihren Grund. Herling, das kann man aus den Tagebüchern herauslesen, sucht beim Schreiben immer nur nach dem einen, nach Gott oder dem Teufel - wobei der Teufel ohne Zweifel Vorrang hat. Auch in den Notizen steuert Herling nie direkt auf Gott zu, Gott nähert er sich dort fast ausschließlich über die Auseinandersetzung mit dem Werk von Franz Kafka. Neben Tschechow und Orwell, deren Unbestechlichkeit er schätzt, neben Stendhal, der ein Seelenverwandter von Herling ist, gilt Kafka seine große schriftstellerische Ehrfurcht:
"Je mehr ich mich mit Kafka beschäftige, desto skeptischer betrachte ich jegliche Interpretation seines Werkes (meine eigene eingeschlossen). Sie bewegen sich tastend neben dem unfassbaren und kaum spürbaren Wesen der Dinge wie in einem unendlichen Versteckspiel. Kafkas Phantasie zieht ihre Kraft aus rätselhaften Parabeln, und eine Parabel kann man höchstens mit Hilfe einer anderen Parabel erhellen, nicht aber interpretieren.
Trotzdem kann er es nicht lassen:
"Wir betreten hier das schwankende, nebulösejerrain der Spekulationen über Kafkas Religiosität. Möglicherweise existiert eine Religiosität durch Reduktion bis zum Nichts, eine Religiosität als Form verborgener, aber stets lebendiger Sehnsucht nach etwas außerhalb des Nichts oder über dem Nichts. Meiner Meinung nach sollte man jedes ernsthafte Gespräch über Kafka mit den Worten beginnen: Gott ist und dennoch. Oder aber mit der Betonung auf Kafkas Selbstquälerei eines in meinem Herzen gedrehten Messers: Je weniger Gott ist, desto mehr ist er."
Gott, zeigt sich in Bezug auf Kafka, ist für Herling neben dem Teufel, das große Suchbild, Anfang und Ende seiner literarischen Arbeit. Gott als Vexierbild, Gottesferne und -nähe, Gott das Verhöltnis zu Gott als treffendstes Bild des Menschen, das findet sich bei Herling in allen Texten - die Bilder, Geschichten und Brechungen, die ihn faszinieren, sind immer auf diesem Boden gewachsen.
"In einem kleinen, weit entlegenen Dorf in Umbrien wurde in einem Kirchlein ein wertvolles Fresko entdeckt. Es war so stark mit einer schwarzen Kruste bedeckt, dass durch die jahrhundertealte Schmutzschicht nur nebulös und fragmentarisch Umrisse irgendeiner heiligen Szene hindurchschimmerten. Das Amt für Denkmalpflege in Rom schickte E. mit zwei Assistenten dorthin. Es wurde ein Gerüst aufgestellt und die Arbeit begann. Während der Gottesdienste betrachteten die Gläubigen deren Fortschreiten voller Misstrauen, Argwohn und Widerwillen. Nach drei Monaten brach die Heiligkeit durch, und das Fresko begann allmählich die Gestalt anzunehmen, in der es die Vorfahren der heutigen Dorfbewohner nach seiner Fertigstellung im 17. Jahrhundert durch einen unbekannten umbrisch-toskanischen Meister betrachteten. E. war stolz auf die ersten Ergebnisse der Restaurierung, aber sie spürte sofort die Feindschaft der Kirchenbesucher, als hätte sie sich des Verbrechens schuldig gemacht, etwas, das seit langem tief in ihrem Leben verwurzelt war, verfälscht zu haben. Diese Feindschaft beschränkte sich nicht nur auf böse Blicke; denn den drei Restauratoren setzte man von Tag zu Tag mehr zu und machte ihnen, trotz aller Beschwörungen des Pfarrers, das Leben schwer. Schließlich kehrten sie nach Rom zurück, ohne ihren Auftrag beendet zu haben. Als E. einige Zeit später auf dem Weg nach Perugla durch das Dorf fuhr, wurde sie nicht in die Kirche gelassen. Vom Pfarrer erfuhr sie, dass das Fresko mit dunklen Gazetüchern bedeckt wurde. Ein faszinierendes Thema für eine Erzählung."
Dieser kleine Text aus dem Tagebuch ist typisch. In Herlings Liebe zur italienischen Malerei mischen sich die Liebe zur sichtbaren, hellen, schönen Welt, die sich im Tagebuch auch sonst in eindrucksvollen und merkwürdig urteilssicheren Städtebeschreibungen ausdrückt, und die Faszination durch das Doppelbödige, das notwendig zu jedem Bild gehört. Er entdeckt in jedem Bild einen doppelten Boden, in dessen verschiedenen Spiegelungen er die - unsichtbare - Essenz einer Sache einzukreisen sucht.
Dieses Spiel mit der dauernden Hintergehbarkeit der Wirklichkeit ist, nicht nur,rin den Erzählungen sondern auch im Tagebuch, das Bauprinzip von Herlings Texten. Seine Erzählungen gehen fast immer von wirklichen oder zumindest als wirklich fingierten Ereignissen aus, Zeitungsberichten, "Ondits", wie dem Bereicht vom Fresko.Und immer erzählt Herling sie, als sei er selbst wirklich involviert gewesen. Die Tagebücher dagegen verdichten sich immer wieder zu Erzählungen, die aber stilistisch kaum von den Berichten, Kommentaren und Erwägungen geschieden sind. Herling ist kein durch Originalität beeindruckender Geist, kein schillernder Denker. Aber immer wenn er beginnt zu erzählen, bekommen seine Texte etwas Abgründiges. Ein letztes Beispiel: Herling unternimmt im Tagebuch immer wieder neue Versuche, die berauschte, vibrierende Bildwelt Caravaggios und das visionäre Denken Giordano Brunos zusammenzubringen. 1994 schreibt Herling dann eine lange Erzählung über Bruno und die Entstehung seiner Hartnäckigkeit, die meist wie ein nüchterner Bericht wirkt. Darin kommt Caravaggio dann nur noch in zwei Sätzen vor. Bruno wird auf dem Campo di Fiori als Ketzer verbrannt:
"Schnell entzündete sich das Reisig, aber es züngelte erfolglos an den nassen Scheiten. Kein Wort der Klage war zu hören. Lange sah man sein verrußtes bewegungsloses Gesicht. Schließlich loderten die Flammen auf und bald begruben die glühenden Hoizscheite den schwindenden Körper des Apostaten unter sich. In der Taverne an der Straßenecke ur Piazza Farnese stürzte Caravaggio den Rotwein becherweise hinunter, als läge ihm daran, sich zu berauschen. Der Meister von Licht und Schatten in der Malerei starrte mit trübem, vielleicht auch tränenverhangenem Blick auf das Feuer, das die Überreste des Tiefen Schattens verzehrte."
Freud hat das Verdichtung genannt. Herling betreibt sie ganz bewusst. Sie ist sein wichtigstes Stilmittel, voll verstehen wird das nur, wer das Tagebuch kennt. An solchen Stellen löst Herling auch den Titel seines Buchs, "Tagebuch bei Nacht geschrieben" voll und ganz ein. Meist ist sein Tagebuch, ganz anders als man nach dem Titel und den Erzählungen erwarten würde, ein dialogisches Werk, er stellt sich mit ihm in die großen Auseinandersetzungen, in seine Zeit, in Beziehung zu seinen Zeitgenossen. Der Fiktion der Intimität, der Einsamkeit, des Privaten, des Ausschlusses von Öffentlichkeit verfällt Herling dagegen nie. Nie hat man das Gefühl, hier schreibt einer, der damit kokettiert, nicht gelesen zu werden. Vielleicht ist es genau dieser Mangel einer Illusion, der Herling zu einem so nüchternen, beeindruckenden Spiegel seiner Zeit gemacht hat. Wobei jeder, der Herling gelesen hat, beim Wort"Spiegel" einen Moment stocken wird. Er weiß: Da hat Herling seinen blinden Fleck, daran arbeitet er sich ab - und hier macht er Neues sichtbar. Trotz der Freude über diese Veröffentlichung und der guten Übersetzung von Nina Kozlowski kann man dem Buch einen Vorwurf allerdings nicht ersparen. Wieso wurde hier die Auswahl nicht begründet, wieso wurde nicht wenigstens beschrieben, wie sie vorgenommen wurde, wieso wurde nicht eine Beschreibung des gesamten Tagebuchs an das Ende gestellt, damit man die vorliegenden Auszüge im Zusammenhang sehen kann? Das ist schlicht unverständlich, gerade wo Herling immer noch ein großer Unbekannter isy Oder geht man beim Hanser-Verlag tatsächlich davon aus, dass man die gesammelten Tagebücher Herlings übersetzen will?