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Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahre 1867

Die im Frühjahr diesen Jahres erschienene Rowohlt-Monographie über Lewis Carroll von Thomas Kleinspehn stellt mit ihrem psychoanalytischen und kultursoziologischen Ansatz einen wichtigen und erhellenden Beitrag zum Verständnis von Leben und Werk dieses skurrilen Schriftstellers und frühen Fotografen dar, der mit seinen grotesken und hintersinnigen Kinderbüchern "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" in die Weltliteratur eingegangen ist. Carrolls "Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867", das nun in einer schönen, mit zeitgenössischen Stichen und einem klugen Nachwort von Felix Philipp Ingold ausgestatteten Ausgabe zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt, wird in dieser Monographie allerdings nur ganz beiläufig erwähnt.

Karla Hielscher |
    Und in der Tat - wer dieses Reisetagebuch als kultur- oder sozialgeschichtliches Dokument über das Rußland der Reformperiode der 60er Jahre liest, als landeskundliche Information über die Lebens- und Alltagswelt dieses Landes, der wird enttäuscht sein. In dieser eher knappen Beschreibung einer Reise, die Carroll und seinen Freund, den Theologen und Prediger Henry Liddon, im Sommer 1867 über Brüssel, Köln, Berlin, Danzig und Königsberg nach Petersburg, Moskau und Nishnij Nowgorod führte - die Rückreise berührt die Stationen Breslau, Warschau, Dresden, Leipzig, Bad Ems und Paris - kommt das gesellschaftliche Leben, die soziale Wirklichkeit Rußlands ganz einfach nicht vor.

    Natürlich finden sich in dem Buch präzise und originelle Einzelbeobachtungen zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Rußlands: die in der Landschaft verstreuten Kirchen, die wie "Ständer für Essig und Öl" anzusehen sind; das Moskauer Stadtbild mit seinen "konischen Türmen, die einer aus dem anderen emporsteigen wie ein verkürztes Teleskop" und bunten Kuppeln, die mit "stachligen Knospen besetzten Kakteen" gleichen; der Park von Schloß Peterhof, der von "Bändern scharlachroter Geranien" wie von einem "riesigen Korallenzweig" durchzogen ist; die Schatzkammer des Kreml, die den Eindruck erweckt, als seien Perlen und Juwelen "weiter verbreitet als Brombeeren". Natürlich sind seine vielen Besuche von orthodoxen Kirchen und Klöstern, aber auch von Synagogen und der "Tatarenmoschee" in Nishnij Nowgorod von Interesse.

    Jedoch nicht darin liegt der Charme dieses Reisetagebuchs. Das gibt es sicherlich bei anderen Autoren ausführlicher und mit mehr Sachverstand. Wer die zu Kulttexten der Moderne gewordenen phantastischen Alice-Bücher Lewis Carrolls kennt und liebt, der wird seine Entdeckerfreude an etwas anderem haben. Diese einzige Auslandsreise des frommen und eigenbrötlerischen Mathematiktutors aus Oxford ist eben nicht die Fahrt in eine andere Alltagswirklichkeit, sondern in eine unbekannte, fremdartige Welt mit eigenen Gesetzen. Lewis Carroll erlebt Rußland über weite Strecken des Textes wie Alice ihr Wunderland. Es ist der fremde Blick von außen, die Perspektive des Nichtverstehenden, die den eigenartigen Reiz des Textes ausmacht. Zum Beispiel erscheinen ihm die Größenverhältnisse verzerrt, und man fühlt sich an Alices Wachsen und Schrumpfen erinnert, wenn Carroll sich über "die übertriebene Kleinheit der Feuerspritzen" der Städtischen Feuerwehr von Petersburg wundert oder von seinen Spaziergängen dort sagt: "Es ist, als ob man in einer Stadt für Riesen umherginge". Daß er alles Gesehene mit exakten Zahlen, Daten und Maßen festhält, wirkt in diesem Zusammenhang wie eine komische Selbstvergewisserung auf schwankendem Boden. Und wie bei "Alice" ist die Nahrungsaufnahme sehr bedeutsam, er probiert das russische Essen mit großer Neugier. Die detailliert beschriebenen Rituale der Gottesdienste bleiben für ihn - wie er selbst betont - "hoffnungslos unverständlich", und die Zeremonie einer orthodoxen Hochzeit mit der Krönung der Brautleute verwandelt sich in absurdes Kasperletheater.

    Vor allem aber wird wie in den Alice-Büchern das Problem der Sprache und der gestörten Kommunikation zum Hauptthema. In einem Land, dessen Sprache er nicht kennt und nur mit Hilfe eines kleinen Wörterbuchs oder mit Gesten agieren kann, wird das Verständigungsproblem zur angstmachenden Lebensfrage. Immer wieder gibt Carroll amüsiert und gleichzeitig verunsichert die Nonsens-Dialoge wieder, die sich bei der Verständigung mit Droschkenkutschern oder Kellnern im Restaurant ergeben. Um so mehr begeistert den Sprachspieler und Kunstwort-Erfinder denn auch der exotische Klang wie das fremdartige Bild der Schriftzeichen des Russischen. Ein Wort wie "zasciscajuscichsia" zeichnet er sowohl in Kyrilliza wie in einer verrückten Umschrift ins Englische auf. "Dieses beängstigende Wort ist der Genetiv Plural eines Partizips und bedeutet "Personen, die sich verteidigen."

    Zur inszenierten Groteske gerät die Szene, in der Carroll und sein Freund versuchen, ihren zur Aufbewahrung abgegebenen Mantel von einem Zimmermädchen zurückzubekommen. Ihre Gebärdensprache führt dazu, daß ihnen zunächst eine Kleiderbürste, dann ein Polster zum Schlafen gebracht wird. Erst eine Bleistiftskizze - also gleichsam der Rückgriff auf Hieroglyphen - verhilft zum Erfolg. Und das in den Dialogen Alices mit den Fabelwesen ihrer Wunderwelt so wesentliche Problem der Höflichkeitsformen, der richtigen Gesprächskonventionen, das zu ständig neuen Verunsicherungen im Umgang mit diesen führt, parodiert Carroll gleichsam in seinem eigenen Verhalten: Irgendeine kleine Bitte an einen Hoteldiener, die er (nach einem hastigen Blick ins Wörterbuch) gezwungen ist, auf russisch vorzubringen, besorgt er, wie er selbstironisch konstatiert "in einem strengen, einfachen Stil, ohne jedes überflüssige Wort."

    Für die Alice-Lesergemeinde also ist dieses sonst eher informationsarme Reisetagebuch eine vergnügliche poetische Fundgrube.