Karin Fischer: "Im Kino gewesen. Geweint." Diesen Satz notierte Franz Kafka 1913 in sein Tagebuch, er wird heute noch als Beispiel für die emotionale Macht des Films gerne zitiert. Queen Victoria, die große Königin des British Empire, Monarchin über drei Generationen lang, hatte in ihren Tagebuchaufzeichnungen auch einen Hang zu kurzen Sätzen, von denen viele lakonisch, viele aber auch wirklich emotional waren. Man versteht nach dieser Lektüre nicht wirklich, warum das "Victorianische Zeitalter" mit Pflichtbewusstsein, Sittenstrenge und, ja auch, Prüderie gleichgesetzt wird. Solche erstaunlichen Erkenntnisse gibt es seit vergangenem Wochenende im Netz zu finden, denn die Tagebücher von Queen Victoria - die schrieb seit, sie 13 Jahre alt war - sind jetzt erstmals vollständig digitalisiert zugänglich. - Maximilian Schönherr ist Netzspezialist und Geschichtsexperte. Herr Schönherr, warum ist diese Edition für Sie so bedeutsam?
Maximilian Schönherr: Diese Edition lässt einen tiefen Blick in das Königshaus des 19. Jahrhunderts zu, und weil es komplett ist, ist es ganz besonders toll. Hier finde ich alles, ich kann die Tagebücher komplett lesen. Nur die ersten Jahre sind handschriftlich wirklich von Victoria geschrieben. Bis zu ihrer Thronbesteigung hat sie noch selber geschrieben, nachher auch noch selber geschrieben, aber diese Tagebücher wurden später von ihrer jüngsten Tochter Beatrice abgeschrieben. Beatrice hat sie dann auch zerrissen.
Fischer: Der Wikipedia-Eintrag zu Queen Victoria ist – ohne den ausführlichen Anhang, der die sehr komplexen Verwandtschaftsverhältnisse erklärt – schon allein 22 Seiten stark, die Dame ist also gut erforscht. Was fügt die Veröffentlichung dem denn inhaltlich hinzu?
Schönherr: Sie ermöglicht eine Recherche im Detail. Wenn ich zum Beispiel wissen will, was ist damals passiert, als ein Attentat auf sie geplant war – davon gab es mehrere und sie ritt mit ihren Begleitern aus in der Kutsche und dann fiel ein Schuss, und wir kriegen mit über andere historische Quellen, wie diese ganze Sache eingeordnet wurde, dass sie am nächsten Tag noch mal losgefahren ist, um dem Täter eine Falle zu stellen. Der ist auch dann reingefallen und hat dann noch mal geschossen, vermutlich in die Luft, und sie war natürlich wunderbar eingepackt von ihren berittenen Begleitern rechts und links, schreibt sie in diesen Tagebüchern. Plötzlich sehen wir diese Situation ganz gezielt und sehr direkt, wie sie schreibt. Wir sehen auch am eigentlichen Attentatstag einen nur ganz kurzen Eintrag, der so typisch für Victoria ist: Bin um so und so viel Uhr aufgestanden, dann geht sie zum Breakfasten, also macht ihr Frühstück, dann zum Lunch und so weiter. Und dieser Eintrag von dem eigentlichen Attentatstag ist sehr kurz, aber der vom Tag danach, als man die Falle gestellt hat und die Falle zuschnappte, dieser Eintrag ist umso länger und ist ganz euphorisch, "und alle um mich herum waren geschockt", das ist ein wirklich außerordentlicher Eintrag.
Für viele mag es interessant sein, den Gossip zu lesen, also wie sie Albert, ihren späteren Gemahl, kennenlernte und ihn so wahnsinnig gerne küsst. Das ist natürlich auch schön, jetzt mal direkt zu lesen. Vorher konnte man das alles auch lesen, aber nur umständlich, indem man einen Termin mit der Bibliothek in Windsor gemacht hat, und da wurde man natürlich beobachtet, wenn man geblättert hat, musste mit Handschuhen blättern und so weiter. Jetzt kann ich hier alles durchblättern …
Fischer: Und lesen ist übrigens ein gutes Stichwort, Herr Schönherr, weil wir können diese Tagebuchaufzeichnungen tatsächlich lesen, denn man schrieb dort keine Sütterlinschrift.
Schönherr: Genau! Man schrieb eine heute durchaus lesbare, für mich nicht immer einfach lesbare Schrift. Ich muss auch sagen, die Tochter hat sich Mühe gegeben, die Handschrift der Mutter entweder zu kopieren, also die sehen sehr, sehr ähnlich aus, diese Handschriften. Später gibt es dann noch einen Viscount Esher, der die Sache abtippt und Papier dabei gespart hat. Heute fasst man sich natürlich an den Kopf, er hat Durchschlagpapier auf Schreibmaschine verwendet, und ich lese jetzt auf dieser Webseite quasi eine Seite dieser Abschrift des Originaltagebuchs und da schlägt sich durch bereits die nächste Seite, die ich dann in Spiegelschrift lese.
Fischer: Wichtig für die Benutzerinnen und Benutzer solcher Websites ist ja auch deren Machart beziehungsweise deren Handhabbarkeit. Wie beurteilen Sie diesen Auftritt unter queenvictoriajournals.org?
Schönherr: Ich halte diesen Auftritt für ausgesprochen gelungen. Er hat noch ein paar Nachteile, die aber im Tiefen drin liegen. Das heißt, wir können eine Volltextsuche nur in den ersten Jahren machen. Das heißt, wenn wir nach Bismarck suchen – das wäre für Historiker jetzt sehr interessant -, wie hat sie den zuerst wahrgenommen, zum Beispiel wann ist der, oder Frankfurter Nationalversammlung 1848, aber danach können wir noch nicht suchen, das wird erst erschlossen. Aber an sich ist die Webseite wunderbar programmiert, denn ich kann jede Seite sehr einfach ansteuern, ich kann ganze Abschnitte, zum Beispiel drei Seiten hintereinander von einem Tag abspeichern als PDF-Datei und dann später lesen oder ausdrucken oder mitnehmen, ich kann reinzoomen und vergrößern, ich kann mir die vielen Zeichnungen, die Victoria angelegt hat in diesen Tagebüchern, die kann ich mir auch alle angucken. Kleine Details sind wirklich toll, dass man zum Beispiel auf jedem Eintrag, den ich jetzt lese, sieht, in welchem dieser Bücher, dieser Kopien man ist. Wenn man 1848 zum Beispiel ist, ist man garantiert in einer Kopie von Beatrice und nicht mehr im Original von Victoria.
Fischer: …, die dann offenbar ja auch befunden hat, dass die Originale weg könnten. - Herzlichen Dank an Maximilian Schönherr für diesen Einblick in die Tagebücher von Queen Victoria, jetzt im Netz zu finden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Queen Victorias Journals
Maximilian Schönherr: Diese Edition lässt einen tiefen Blick in das Königshaus des 19. Jahrhunderts zu, und weil es komplett ist, ist es ganz besonders toll. Hier finde ich alles, ich kann die Tagebücher komplett lesen. Nur die ersten Jahre sind handschriftlich wirklich von Victoria geschrieben. Bis zu ihrer Thronbesteigung hat sie noch selber geschrieben, nachher auch noch selber geschrieben, aber diese Tagebücher wurden später von ihrer jüngsten Tochter Beatrice abgeschrieben. Beatrice hat sie dann auch zerrissen.
Fischer: Der Wikipedia-Eintrag zu Queen Victoria ist – ohne den ausführlichen Anhang, der die sehr komplexen Verwandtschaftsverhältnisse erklärt – schon allein 22 Seiten stark, die Dame ist also gut erforscht. Was fügt die Veröffentlichung dem denn inhaltlich hinzu?
Schönherr: Sie ermöglicht eine Recherche im Detail. Wenn ich zum Beispiel wissen will, was ist damals passiert, als ein Attentat auf sie geplant war – davon gab es mehrere und sie ritt mit ihren Begleitern aus in der Kutsche und dann fiel ein Schuss, und wir kriegen mit über andere historische Quellen, wie diese ganze Sache eingeordnet wurde, dass sie am nächsten Tag noch mal losgefahren ist, um dem Täter eine Falle zu stellen. Der ist auch dann reingefallen und hat dann noch mal geschossen, vermutlich in die Luft, und sie war natürlich wunderbar eingepackt von ihren berittenen Begleitern rechts und links, schreibt sie in diesen Tagebüchern. Plötzlich sehen wir diese Situation ganz gezielt und sehr direkt, wie sie schreibt. Wir sehen auch am eigentlichen Attentatstag einen nur ganz kurzen Eintrag, der so typisch für Victoria ist: Bin um so und so viel Uhr aufgestanden, dann geht sie zum Breakfasten, also macht ihr Frühstück, dann zum Lunch und so weiter. Und dieser Eintrag von dem eigentlichen Attentatstag ist sehr kurz, aber der vom Tag danach, als man die Falle gestellt hat und die Falle zuschnappte, dieser Eintrag ist umso länger und ist ganz euphorisch, "und alle um mich herum waren geschockt", das ist ein wirklich außerordentlicher Eintrag.
Für viele mag es interessant sein, den Gossip zu lesen, also wie sie Albert, ihren späteren Gemahl, kennenlernte und ihn so wahnsinnig gerne küsst. Das ist natürlich auch schön, jetzt mal direkt zu lesen. Vorher konnte man das alles auch lesen, aber nur umständlich, indem man einen Termin mit der Bibliothek in Windsor gemacht hat, und da wurde man natürlich beobachtet, wenn man geblättert hat, musste mit Handschuhen blättern und so weiter. Jetzt kann ich hier alles durchblättern …
Fischer: Und lesen ist übrigens ein gutes Stichwort, Herr Schönherr, weil wir können diese Tagebuchaufzeichnungen tatsächlich lesen, denn man schrieb dort keine Sütterlinschrift.
Schönherr: Genau! Man schrieb eine heute durchaus lesbare, für mich nicht immer einfach lesbare Schrift. Ich muss auch sagen, die Tochter hat sich Mühe gegeben, die Handschrift der Mutter entweder zu kopieren, also die sehen sehr, sehr ähnlich aus, diese Handschriften. Später gibt es dann noch einen Viscount Esher, der die Sache abtippt und Papier dabei gespart hat. Heute fasst man sich natürlich an den Kopf, er hat Durchschlagpapier auf Schreibmaschine verwendet, und ich lese jetzt auf dieser Webseite quasi eine Seite dieser Abschrift des Originaltagebuchs und da schlägt sich durch bereits die nächste Seite, die ich dann in Spiegelschrift lese.
Fischer: Wichtig für die Benutzerinnen und Benutzer solcher Websites ist ja auch deren Machart beziehungsweise deren Handhabbarkeit. Wie beurteilen Sie diesen Auftritt unter queenvictoriajournals.org?
Schönherr: Ich halte diesen Auftritt für ausgesprochen gelungen. Er hat noch ein paar Nachteile, die aber im Tiefen drin liegen. Das heißt, wir können eine Volltextsuche nur in den ersten Jahren machen. Das heißt, wenn wir nach Bismarck suchen – das wäre für Historiker jetzt sehr interessant -, wie hat sie den zuerst wahrgenommen, zum Beispiel wann ist der, oder Frankfurter Nationalversammlung 1848, aber danach können wir noch nicht suchen, das wird erst erschlossen. Aber an sich ist die Webseite wunderbar programmiert, denn ich kann jede Seite sehr einfach ansteuern, ich kann ganze Abschnitte, zum Beispiel drei Seiten hintereinander von einem Tag abspeichern als PDF-Datei und dann später lesen oder ausdrucken oder mitnehmen, ich kann reinzoomen und vergrößern, ich kann mir die vielen Zeichnungen, die Victoria angelegt hat in diesen Tagebüchern, die kann ich mir auch alle angucken. Kleine Details sind wirklich toll, dass man zum Beispiel auf jedem Eintrag, den ich jetzt lese, sieht, in welchem dieser Bücher, dieser Kopien man ist. Wenn man 1848 zum Beispiel ist, ist man garantiert in einer Kopie von Beatrice und nicht mehr im Original von Victoria.
Fischer: …, die dann offenbar ja auch befunden hat, dass die Originale weg könnten. - Herzlichen Dank an Maximilian Schönherr für diesen Einblick in die Tagebücher von Queen Victoria, jetzt im Netz zu finden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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