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Taggs im Kunstmuseum
Der Protest um die Liebig 34

30 Jahre war die Liebig 34 besetzt, Anfang Oktober wurde das anarchistische Wohnprojekt in Berlin geräumt. Grund war der Kauf durch einen ausländischen Investor. Der Protest ist noch nicht abgeflaut und äußert sich inzwischen vor allem durch Graffiti – an ungewöhnlichen Orten und weit über Deutschland hinaus.

Von Sarah Mahlberg | 13.11.2020
Die Fassade des linksautonomen Wohnprojekt "Liebig 34"
Die Fassade des linksautonomen Wohnprojekt "Liebig 34" (dpa / picture alliance / AA / Abdulhamid Hosbas)
Sie sind noch da - mit Silvesterknallern, Pyrotechnik und Parolen. Einen Monat nach der Räumung der Liebigstraße 34 in Berlin ist der Widerstand noch immer laut.
Gelebte Utopie oder Hotspot der Gewalt?
Das queerfeministische Wohnprojekt Liebig 34 ist umstritten. Für die einen ist das Wohnkollektiv gelebte Utopie. Wenn ein Haus ohnehin leer steht, warum es dann nicht besetzen und Widerstand leisten - gegen Investorinnen und Investoren, die ganze Straßen aufkaufen, gegen eine Wohnungspolitik, die den Menschen aus dem Blick verliert?
Für die anderen ist es ein Hotspot der Gewalt, wo auch mal Pflastersteine auf Polizistinnen und Polizisten fliegen, Autos brennen und ein Kinderzimmerfenster eingeschlagen wird.
Zwischen diesen Polen hat sich die Wahrnehmung der Liebig 34 bewegt. Seit der Räumung bekunden europaweit Linke ihre Solidarität - vor allem in Form von Graffiti.
Zwei Strategien von Taggs
Lisa Bogerts vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung ist auf Graffiti spezialisiert. Sie erkennt in den Schriftzügen beide Seiten des Widerstands um die Liebigstraße 34 wieder: Das Utopische, Liebevolle zeige sich laut Bogert oft durch herzumrankte Schriftzüge. In anderen Taggs jedoch, "wo zum Beispiel das Wort 'Defend' vorkommt", sieht sie eine andere, "so eine negative Rahmung, dass jemand bedroht wurde und sich gegen diese Bedrohung verteidigen muss". Emotional funktionieren beide Strategien.
Ein Tagg im Museum
Dass "Liebig 34" oder auch "L34" schon reichen, um den Bezug herzustellen, zeigt, dass das Haus inzwischen zu einem Code für alternative Wohnpolitik geworden ist. Überall taucht die Markierung auf. An Hauswänden, auf Mauern - und sogar in einer Fotoausstellung.
Drei gerahmte schwarz-weiß Fotografien, darunter ein mit Edding gemalter Schriftzug "Liebig lebt"
Schmiererei oder Dialog über eine Ausstellung über besetzte Häuser? Der Tag "Liebig Lebt" im C/0-Berlin. (Harald Hauswald / C/0 Berlin )
Eine Woche nach der Räumung der Liebigstraße 34 bekommt Felix Hoffmann eine SMS. In der von ihm kuratierten Ausstellung "Voll das Leben" von Fotograf Harald Hauswald im C/O Berlin hat jemand mit einem Edding "Liebig Lebt" an die Wand gemalt - trotz Kameraüberwachung.
"Wenn diese Spuren sich nicht quasi in Gästebüchern abspielen, dann empfindet man das ja so im musealen Kontext oft als Bedrohung. Und das hab ich eben nicht so empfunden." Hoffmann bleibt gelassen, obwohl der Liebig-Schriftzug nur ein paar Wochen nach den Öl-Anschlägen auf Berliner Kunstmuseen aufgetaucht ist.
Die Anschlagreihe löste eine Debatte aus, wie gut Berliner Kunstwerke eigentlich gesichert sind. Hinter dem Liebig-Schriftzug vermutet Hoffmann aber keinen Anschlag: "Weil dieses Graffiti unter einer Serie steht, die 1990 entstanden ist, als die Mainzer Straße geräumt worden ist."
"Liebig Lebt" als Teil der "Ausstellung Voll das Leben"?
Auf einer der Schwarzweiß-Fotografien ist eine pyronebelverhangene Straße zu sehen, auf einer anderen rückt eine Polizeieinheit in Schutzkleidung an. Der direkt darunter geschmierte Schriftzug "Liebig Lebt" gleitet dramatisch die Wand entlang und könnte auch Teil der Ausstellung sein. Die Räumung der Mainzer Straße leitete die erste Gentrifizierungswelle nach dem Mauerfall ein.
"Und die 30 Jahre später geäußerte Meinung", ergänzt Felix Hoffmann, dass 'Liebig lebt', sei "eben dann auch in diesem Kontext eine ganz interessante historische Beleuchtung".
Reaktionen auf die Kunst seien im Grunde ein Geschenk, sagt Felix Hoffmann. Trotzdem hat das Museum den Schriftzug schlussendlich übermalt und seine Überwachungskameras aufgestockt.
Grafitti als Grenzüberschreitung
In einem Museum Graffiti zu sprühen, ist ein neues Level an Radikalität, findet auch Protestforscherin Lisa Bogerts: "In so einem geschlossenen Raum wie einem Museum, was ja ganz anderes soziales Milieu anspricht als jetzt auf der Straße, dadurch wird schon eine gewisse Grenzüberschreitung symbolisiert, um zu sagen: Hey, das geht uns alle an."
Graffiti ist eine Möglichkeit, öffentlichen Raum einzunehmen. Sie setzt sich dabei häufig auch über herrschende Besitzverhältnisse hinweg. Zwei mögliche Gründe, warum gerade Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer oft auf Graffiti zurückgreifen, um ihre Ideen zu verbreiten.
Die meisten besetzten Häuser beherbergen auch Galerien oder Ateliers, so zum Beispiel das Gängeviertel in Hamburg oder die Baumwollspinnerei in Leipzig. Beide haben sich inzwischen als wichtige Kunstzentren Deutschlands etabliert und werden öffentlich gefördert. Soweit, Graffitiprotest als Kunstform per sé zu sehen, würde Lisa Bogerts allerdings nicht gehen. Für sie ist "Graffiti nicht immer Kunst und Graffiti soll auch nicht immer Kunst sein".
Graffiti soll sich vor allem ausbreiten. L34 hat es bis nach Marokko geschafft, wie ein Foto auf Instagram erkennen lässt: "Yalla Feminisme". Daneben ganz klein: Ein rotes Herz mit "L34!" darin. Der Code ist international - ebenso wie die Wohnungsknappheit.