Donnerstag, 28. März 2024

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Tagung
Erste Weltkrieg in der Geschichtsschreibung der DDR

Die Teilung Deutschlands hat zu unterschiedlichen Geschichtsschreibungen in der DDR und in der Bundesrepublik geführt, insbesondere was die Rolle der Sowjetunion und der USA im Zweiten Weltkrieg betrifft. Aber wie in der DDR der Erste Weltkrieg interpretiert wurde, ist bislang kaum untersucht worden. An der Europa-Universität Viadrina trafen sich Wissenschaftler dazu zu einer Tagung.

Von Norbert Seitz | 09.06.2016
    Eine Flagge der ehemaligen DDR hängt in einem Raum mit Fenster.
    Der Erste Weltkrieg wurde in der DDR zur Bestätigung der eigenen Ideologie gedeutet. (imago/IPON)
    "Die DDR als Erinnerungsgemeinschaft in Bezug auf den Ersten Weltkrieg zu befragen. Wie homogen, wie heterogen, wie präsent war diese Erinnerung? Wie kam sie zum Ausdruck?"
    Mit diesen Worten fasste Gangolf Hübinger von der Europauniversität Viadrina die Intention der zweitägigen Veranstaltung zusammen. Wie werden Erfahrungen zugerichtet und Narrative, dass heißt Meistererzählungen, über den Ersten Weltkrieg, konstruiert? Am Anfang steht die individuelle Erfahrung:
    "Die Veteranen des Krieges haben überall eine große Rolle gespielt nach dem Krieg, in Deutschland, in Frankreich, in England. Die Frage in der DDR lautet so: Was bedeutete es in der DDR, ein Veteran des Krieges zu sein: Gibt es besondere Erben, besondere Vorstellungen, besondere Probleme, besonderes Schweigen?", fragt Nicolas Offenstadt vom Centre Marc Bloch, neben Emmanuel Droit Initiator der Tagung.
    Dabei wird die Bedeutung des Krieges für die DDR zunächst an den Erfahrungen ehemaliger Frontkämpfer fixiert, die später zu DDR-Staatsgrößen aufsteigen sollten - wie Wilhelm Zaisser, Ernst Wollweber oder der erste Staatspräsident in Ostberlin, Wilhelm Pieck, der nach politischer Haft an die Westfront zwangsrekrutiert worden war.
    Marcus Schönewald von der Forschungsstelle Bremen erinnert an Piecks biografische Zäsur in den Schützengräben:
    "Er stand nun vor der Frage: Wie behauptete sich ein Sozialdemokrat, ein Kriegsgegner an der Front? Ich glaube, dass wir den Krieg zum einen, auch die Erfahrung an der Front, in einen größeren Zusammenhang der Oppositionsarbeit der Spartakus-Gruppe sehen müssen. Dieser Krieg schafft eine ganz besondere neue Situation, in der die Solidarität zwischen den einzelnen Mitgliedern zu einer großen Verbundenheit, in einem gewissermaßen neu erlebten Schicksal über den Krieg hinaus Wirkung entfalten sollte, als Netzwerk in der nun beginnenden KPD. Man kann auch die Situation des Krieges, die zunehmende Illegalität gewissermaßen als eine Vorschule der Praktiken der frühen KPD betrachten".
    Neben der biografischen Erfahrung stand die künstlerisch-literarische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der DDR im Vordergrund. In Briefen, Romanen, der Denkmalskultur wie der Bildenden Künste - oder: Von Otto Dix "Tryptichon" des Krieges", dem wichtigsten Kunstbesitz der DDR, über den Montagefilm von Egon Günther "Erziehung vor Verdun"bis zum Kriegsroman jenes Ludwig Renn, der in der DDR zur literarischen Galionsfigur avancierte, in der Bundesrepublik aber nur als "Zeichner ohne Farben"wahrgenommen wurde.
    Von der Anti-Kriegsliteratur aus der Weimarer Republik sind in der DDR bürgerlich-pazifistische Werke weniger gefragt als Wandlungsliteratur à la Walter Hasenclever, Friedrich Wolff oder Leonhard Frank. Dazu Julian Nordhuis von der Universität Lüneburg :
    "Autoren und Künstler, die während des Kriegs deutlich mit der bürgerlichen Ideologie brachen und sich auf den Standpunkt der revolutionären Arbeiterklasse stellten, wurden in der Kritik der DDR ausdrücklich gelobt und hervorgehoben".
    Geschichte spielte eine zentrale Rolle im Herrschaftsdiskurs der DDR. Sie musste wissenschaftlich beglaubigt werden. Am Beispiel des renommierten DDR-Historikers Fritz Klein untersuchte Gangolf Hübinger, wie SED-Chef Walter Ulbricht Druck auf die historiografische Zunft ausübte, Bahnbrechendes über den Ersten Weltkrieg vorzulegen, um ein verbindliches Geschichtsbild zu kanonisieren. Hübingers These lautet: Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaften konvergierten zwar, stellten aber dennoch keinen monolithischen Block dar. Denn es habe sehr wohl "rivalisierende Deutungseliten"gegeben.
    Geschichtsunterricht sollte Herschaftsanspruch der SED legitimieren
    "Eine Grundspannung zwischen homogenisierter Erinnerung und durchaus Eigensinn und Eigenrecht von Zeiterfahrungen. Wir haben eine Dynamik von zwei Prozessen, nämlich die Frage: Wie werden Erfahrungen zugerichtet und wie werden Narrative kanonisiert? Und das ergibt die Erinnerungskultur der DDR."
    Der Geschichtsunterricht an den Schulen der DDR nahm in der ideologischen Erziehung eine noch striktere Stellung ein. Denn – so Frank Britsche von der Universität Leipzig :
    "Er sollte die geschichtliche Begründung der staatssozialistischen Überzeugung vermitteln und den Herrschaftsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei legitimieren. Realisiert wurde dies in einem zentralistischen Schulsystem durch einheitliche Lehrpläne mit quasi Gesetzescharakter, deren Einhaltung durch Schulbehörden fortlaufend kontrolliert wurde".
    Und im Lehrplan ganz oben stand Lenins Definition des Krieges als "Militärzuchthaus für die Arbeiter und Paradies für die Ausbeuter". "Morgens direkt und dick an der Tafel", wie Rita Aldenhoff in ihrer didaktischen Betrachtung des Krieges in einzelnen DDR-Bezirken unterstrich. Ansonsten diente der Erste Weltkrieg als ideologisch ausschlachtbare Fundgrube gegen den aktuellen imperialistischen Feind:
    "Es verwundert nicht, dass das Thema verwendet wurde, um dem 'existierenden westdeutschen Imperialismus' den Spiegel vorzuhalten: Pershing, NATO-Doppelbeschluss, all das, und I. Weltkrieg gehörten sozusagen zusammen. Und es war Pflicht der Lehrer, darauf konkret immer hinzuweisen."
    Diskreditierung der Gastarbeitergesellschaft
    Als Kontinuitätskeule diente auch die Arbeitskräfte- und Migrationsforschung in der DDR, zumal es sich hierbei um ein lange Zeit in der Bundesrepublik unerforschtes Feld handelte, da die DDR weitgehend über die Quellenbestände verfügte. Dazu Christian Westerhoff von der Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart:
    "Sämtliche Formen der deutschen Arbeitskräftepolitik – vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik wurden in der DDR simplifizierend als "Zwangsarbeitersystem des Imperialismus"zusammengefasst. Ganz deutlich ist dabei die Absicht, eine Verbindungslinie zur Gastarbeiterbeschäftigung in der Bundesrepublik herzustellen und diese dadurch zu diskreditieren."
    Als Fazit der interdisziplinären Tagung blieb: Der Kontext ist wichtiger als der Text, der Zeitstrahl ist ernst zu nehmen, die Meistererzählungen waren auch in einer Diktatur im Wandel begriffen. Denn Erinnerung wird bekanntlich nicht nur auf-, sondern auch fort- und umgeschrieben.