"Im Fall Wulff - während der ganzen Skandalisierung von fast acht Wochen - gab es über 500 Fernsehberichte in ARD, ZDF und RTL, das ist natürlich eine gewaltige Menge."
Professor Hans Mathias Kepplinger über die sogenannte "Wulff-Affäre", die 2012 mit dem Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff endete.
"Die gleichen Leute, die diese Berichte gesehen haben, die haben vielleicht auch Radio gehört, da fanden sie die gleichen Berichte drin, dann noch die ‚Bild'-Zeitung oder eine Regionalzeitung. Das heißt, diese Menschen wurden über Wochen hinweg mit Tausenden und Abertausenden ähnlich klingenden Beiträgen konfrontiert. Und natürlich sind diese Menschen am Ende der festen Überzeugung, dass das auch den Tatsachen so ungefähr entspricht."
Die deutschen Leitmedien, so der Mainzer Kommunikations- und Skandalforscher, waren sich im Fall Wulff weitgehend einig: Wulff habe sich mit den Kreditverträgen zur Finanzierung seines Eigenheims moralisch diskreditiert. Zudem habe er versucht, die Presse grundgesetzwidrig zu beeinflussen. Doch im Februar 2014 wurde der Ex-Bundespräsident von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freigesprochen. Wie soll man die Rolle der Medien bei der Wulff-Affäre bewerten? Als investigativen Journalismus, der Missstände in Politik und Wirtschaft aufdeckt? Oder als moralisches Standgericht, wobei "das Urteil sehr schnell gefällt war", so der Journalist Michael Götschenberg in seinem Buch "Der böse Wulff?"?
"Das ist ein Spektakel, das mit Wahrheit wenig zu tun hat und eine Inszenierung, die bestimmten Regeln folgt. Zu diesen Regeln gehört, dass von dem Beschuldigten unbedingt verlangt wird, dass er ein Schuldeingeständnis ablegt und Reue zeigt. Wer das nicht tut, der hat es auch in Zukunft seines öffentlichen Lebens sehr schwer. Insofern ist es auch eine demokratische Art eines Schauprozesses."
Die Skandalfrequenz steigt
Ob bei der Spiegel-Affäre, dem Watergate-Skandal, der Parteispenden-Affäre der CDU oder der Guttenberg-Plagiatsaffäre - Journalisten decken Missstände und Fehlverhalten auf. Damit sorgen sie für Aufklärung und demokratische Transparenz. Aber wie war das mit dem Rücktritt Horst Köhlers nach seinem vermeintlich kriegstreibenden Satz über einen denkbaren militärischen Schutz der Handelswege? Mit der "Stern"-Story über die Herrenwitze des Rainer Brüderle? Oder mit den Sex-Geschichten des Wetter-Moderators Jörg Kachelmann - der vergangene Woche die Medien auf Schmerzensgeld verklagte? Dr. Mark Ludwig vom Institut für Kommunikations- und Medienforschung an der Sporthochschule Köln und Mitveranstalter der Tagung:
"Es geht nicht immer darum, etwas was gesellschaftlich relevant ist zu enthüllen. Es gibt immer mehr Skandalisierungen, die des Skandals wegen losgetreten werden. Und das zweite Problem ist auch, dass die Skandalfrequenz ansteigt, das immer häufiger skandalisiert wird, allein des Skandalisierens wegen, aber auch, weil man schneller bereit ist, einen Skandal loszutreten."
Zunehmend werden Skandale personalisiert und boulevardisiert, was nicht zuletzt zu erheblichen Reputationsschädigungen für die betroffenen Personen führt. Auch wenn die Skandalisierten ihre Schuld zugeben, empfinden sie sich als Opfer der Medien, so Hans Mathias Kepplinger:
"Diese Vorstellung, sie seien Opfer, ist nicht unbegründet. Das eine ist, bei allen Skandalen gibt es eine Unmenge an Berichten und viele dieser Berichte sind wahr, aber viele sind auch falsch oder übertrieben. Das heißt, der Skandalisierte muss mit einer Unmasse von falschen Beiträgen leben, er hat keine Chance, sich dagegen zu wehren. Das zweite ist, dass er im Grunde keine Chance hat, diesen Eindruck, der von den Berichten generiert wird, in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Selbst wenn er in einer Talkshow auftritt, wird er selbst die, die er erreicht, wird er nicht von seiner Sichtweise überzeugen können, weil er ja Partei ist und die Journalisten sozusagen in der Rolle der neutralen Berichterstatter schreiben."
Harte Konkurrenz in den Medien
Deutschland nehme Züge einer "gnadenlosen Medienrepublik" an, analysierte der Fernsehjournalist Ulrich Deppendorf einmal. Mittlerweile zählen Sekunden, wenn es darum geht, wer die erste Meldung, die erste Einschätzung eines Ereignisses verbreitet. Die "zugespitzte Schlagzeile" entscheidet über die größte Aufmerksamkeit. Und dabei konkurrieren "Spiegel" gegen "Focus", Printmedien gegen Fernsehen, da kämpfen Zeitungen gegen schrumpfende Auflagen und Politmagazine gegen rückläufige Einschaltquoten. Professor Thomas Schierl, Mitveranstalter der Tagung:
"Es kommt eine andere Schärfe in die Kommunikation, einfach weil man Aufmerksamkeit produzieren muss. Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit ist enorm, es ist ein unglaublicher Wettbewerb in den Medien, also muss ich natürlich möglichst schnell Aufmerksamkeit erlangen, und das kann ich, indem ich überpointiert Dinge angehe, leichter, als wenn ich das sehr vermittelt und sehr ausgewogen ausdrücke."
Vor allem aber durch Internet und Online-Dienste bekam die Skandalberichterstattung eine neue Dynamik. Berichterstattung und Einschätzungen im Minutentakt. Dazu die Kommentare einer immer maximal aufgeregten Netzgemeinde.
"Die Online-Medien machen das Skandalgeschäft schneller, und das bringt für den Journalisten den Nachteil, dass ich jetzt abwägen muss zwischen - bring ich jetzt eine Information der Schnelligkeit wegen oder nehm ich mir raus, die Info noch mal genau zu prüfen und abzuwägen, ob ich jetzt noch mal mit der Geschichte rausgehe? Und dieses Dilemma, was man grundsätzlich immer hat als Journalist, verschärft sich natürlich, wenn ich in einer beschleunigten Medienlandschaft schnell reagieren muss."
Schaden für den Journalismus
Doch schaden sich die Medien mit ihrer Aufgeregtheit letztlich selbst, meint Mark Ludwig. Nur noch 29 Prozent der Bevölkerung, so eine Umfrage von Infratest Dimap im Winter 2014, haben großes Vertrauen in die Medien.
"Da müssen die Medien selbst anfangen zu reflektieren, weil es könnte passieren, dass durch eine übersteigerte Skandalisierung Medien sich selbst schädigen und den zentralen Wert, den sie haben, nämlich die Glaubwürdigkeit, verlieren."
Und Hans Mathias Kepplinger meint, es gelte zwischen kritischem und sensationslüsternem Journalismus zu unterscheiden:
"Der Unterschied zwischen investigativem Journalismus und Skandalisierung besteht darin, dass die Rechercheure, die skandalisieren, in der Regel die Problematik krass vereinfachen und die Missstände krass dramatisieren. Zum Beispiel in dem Fall Wulff, wo am Ende als eigentlich justiziabel nicht mal 800 Euro übrig bleiben. Also Ja zu dem investigativen Journalismus, unbedingt Nein zu einer vorschnellen Skandalisierung von Missständen."