Freitag, 19. April 2024

Archiv

Tagung über Atomwaffen im Einstein Forum Potsdam
Filmkuss vor Atompilz

Neun Staaten dieser Erde verfügen zusammen über 15.000 Atomwaffen - die atomare Bedrohung ist real wie lange nicht mehr. Im öffentlichen Bewusstsein aber spielt sie nur eine Nebenrolle. Eine Tagung in Potsdam forderte daher: Reden wir über die Bombe!

Von Cornelius Wüllenkemper | 23.02.2019
Nach der Explosion einer französischen Atombombe 1971 schwebt dieser riesige Atompilz über dem Mururoa-Atoll.
Vor Jahrzehnten war die atomare Bedrohung noch in aller Munde, heute wird eher über Klimawandel oder Terrorismus diskutiert - das müsse sich wieder ändern, fordern Wissenschaftler in Potsdam (dpa)
Wo einst Machtbalance eine gewisse Kontrollierbarkeit des atomaren Potentials sicherte, herrscht heute Unberechenbarkeit. Davon ist die US-amerikanische Philosophin und Direktorin des Einsteinforums, Susan Neiman, überzeugt.
"Nun haben wir jemanden im Weißen Haus, der von etlichen Psychologen und Psychiatern als buchstäblich verrückt erklärt worden ist. Und ich glaube, das zeigt auch das Problem in einer ganz bestimmten Schärfe, die wir in der ganze Zeit des Kalten Krieges nicht wirklich hatten."
Die Bombe ist jenseits der militärischen Bedrohungslage vor allem als Symbol eines bedingungslosen politischen Geltungsdrangs zu verstehen. Der Journalist und Schriftsteller Mohammed Hanif etwa bezeichnete das pakistanische Atomarsenal als "Erweiterung des Gründungsmythos" seines Landes. Die Losung des früheren pakistanischen Premierministers Zulfikar Ali Bhutto, sein Land brauche die Bombe, selbst wenn man dafür Gras essen müsse, wirkt bis heute nach:
"Wir essen zwar nicht gerade Gras, aber wir sind ernstlich unterernährt. 18 Millionen unserer Kinder werden nie eine Schule von innen sehen. Es gibt eine endlose Liste von Dingen, die wir nicht tun konnten, weil wir zu beschäftigt damit waren, diese verfluchte Bombe zu bauen und sie vor der Welt zu verstecken. Wir haben noch nicht herausgefunden, wie wir die Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgen können - aber Gott sei Dank: Wir haben die Bombe!"
Öffentlicher Diskurs über atomare Bedrohung fehlt
Mehr Staaten als jemals zuvor verfügen heute über Atomwaffen. Längst hat die Aufrüstungsspirale nicht nur rhetorisch erneut an Fahrt aufgenommen. Dennoch spielt das atomare Zerstörungspotential nur noch eine Nebenrolle im öffentlichen Bewusstsein. Der Historiker und Organisator der Tagung, Martin Schaad, belegte diese widersprüchliche Entwicklung anhand von historischen Handbüchern und Filmen zum Überleben in der atomaren Katastrophe:
"Wenn Sie sich kulturelle Produktionen anschauen, die Nuklearwaffen zum Thema gemacht haben, dann waren das in einem hohen Maße Angstszenarien in den Achtziger Jahren, während das Spielfeld der apokalyptischen Atomfilme heute von James Cameron bespielt wird. Du, da küsst sich Arnold Schwarzenegger mit seiner Filmpartnerin vor einem Atompilz und sagt: 'Heißer Kuss das!' Das hat sich in einem Maße gewandelt, wie man sich das nicht hätte vorstellen können, wenn man sich als Kind der Achtzigerjahre bestimmte Filme, Bücher, Broschüren und ähnliches angeschaut hat."
Andere Untergangsszenarien wie etwa der Klimawandel und die Bedrohung durch terroristische Attentate haben die Angst vor dem finalen nuklearen Gefecht verdrängt. Zu Unrecht, findet Lovely Umayam. Die US-amerikanische Nuklearexpertin engagiert sich zugleich für den öffentlichen Diskurs über die atomare Frage.
"Es gibt andere Narrative als nur das Expertenwissen über die atomare Abschreckung. Die Geschichte der Nuklearwaffen erzählt auch von Menschen und dem Stück Land, auf dem sie leben. Denken Sie nur an das Uran, den wichtigsten Stoff für nukleare Waffen. An vielen Orten der USA wurden tausende Ureinwohner vertrieben, weil man auf ihrem Land Uran abbaute. Viele dieser Orte sind bis heute kontaminiert. Aus dieser Perspektive ist das Thema der nuklearen Waffen für eine breite Öffentlichkeit viel einfacher zugänglich, weil es Umweltfragen und soziale Gerechtigkeit berührt."
Algorithmen ersetzen demokratische Entscheidungskultur
Auch die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston brachte einen alternativen Zugang ins Spiel. Das atomare Bedrohungsszenario habe die demokratische Entscheidungskultur durch sekundenschnelle Lageanalysen programmierter Algorithmen ersetzt. Menschlicher Zweifel oder ethische Abwägung seien angesichts atomarer Bedrohungsszenarien in Verruf geraten, mit soziokulturellen Folgen bis heute:
"Die Situation im Kalten Krieg war eine Situation, wo die Kosten von Überlegungen, von moralischen Hemmungen, emotionalen Hemmungen, einfach nicht mehr tolerierbar waren. Und unter solchen Umständen sind Algorithmen vorteilhaft. Was sich geändert hat, ist die Verbreitung von Algorithmen und ein maßloses Vertrauen, dass Algorithmen alle Aspekte unseres Lebens regeln können. Vom Autorfahren bis zum Ehepartner."
Wie real die Bedrohung durch nukleare Aufrüstung und die Aufkündigung alter Allianzen ist, wird unter Geostrategen unterschiedlich diskutiert. Die Tagung im Potsdamer Einsteinforum führte jedenfalls zweierlei vor Augen: Auch wenn sich die Mehrheit heute auf andere Untergangsszenarien konzentriert, bleibt die atomare Option das konkreteste Symbol des existenziellen Zerstörungspotenzials. Zugleich hat die Bombe das Dominanzverhältnis zwischen Mensch und Maschine nachhaltig verschoben.