Federman beginnt ganz alttestamentarisch mit dem Ursprung, als aus dem Nichts sich Etwas - eine Geschichte - abzeichnet. Gleichzeitig ist sein Schöpfungsmythos - der Mythos dessen, wie ein Text entsteht - säkularisiert, er ist modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen verpflichtet.
"Man könnte sich vorstellen, daß es folgendermaßen geschah: / am Anfang/ zerstreuten sich die Wörter/ zufällig/ und in alle Himmelsrichtungen!/ U n k o n t r o l l i e r t e E n e r g i e!/ Wilde Wortzeilen schoßen über die Papierbögen/ und gehorchten allein ihrer eigenen Raserei. Der Stift des Schreibers/ seine Fingerspitzen/ sein Bleistift (seine Maschine) folgten ihnen./ Nach und nach/ als die Wörter zahlreicher wurden/ kompakter/ sich häuften/ aufeinander trafen/ in bestimmten Regionen des Papiers/ bildeten sich kleine Energiefelder: Wirbel/ Knoten, Grate/ Wortumrisse/ : spontane Muster aus Spänen/ stiegen die Seiten hinauf/ und hinab/ in irrem Gelächter!/ Und daraus ergab/ sich von Ort zu Ort die Möglichkeit einer/ Redewendung. Geschrieben von dieser Masse aleatorischer/ Ereignisse von diesen unzähligen/ Kräften/ die sich auf dem Papier kreuzten/ erschien eine scheue Silhouette/ ein Umriß/ ein strahlendes Saxophon/ die funkelnden Felgen eines Buick/ die karnevaleske Uniform eines Fallschirmjägers/ (eine Geschichte)!"
Die Geschichte, die Federman - nein, nicht erzählt - die Geschichte, die er anreißt, umschleicht, konturiert, ansteuert, unterbricht und überspringt; sie enthält einige Details, die einen autobiografischen Hintergrund haben. Raymond Federman wurde 1928 in Paris als Kind jüdischer Eltern geboren. Vater, Mutter und zwei Schwestern wurden in Auschwitz ermordet. Nur der Sohn überlebte, von den Eltern in einem Schrank versteckt. Raymond Federmans vielleicht dichtester Prosatext, "Die Stimme im Schrank", reflektiert diese Erfahrung. "Die Stimme im Schrank", 1989 beim Kellner-Verlag erschienen, ist seiner Form nach eine verschlossene Wörterkiste, die einen klaustrophobischen Inhalt artikuliert: Die Empfindungen des versteckten, verlassenen Jungen, seinen immer enger werdenden Lebens- Sprach- und Atemraum. Gleichzeitig ist "Die Stimme im Schrank" der Versuch, das eigene Leben im Protest gegen die Auslöschung der Familie, im Protest gegen die nun leere weiße Fläche neu zu beginnen.
Federman ging 1947 in die USA, war Fallschirmjäger im Korea-Krieg und ist seit 1964 Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Buffalo. Wie in anderen Veröffentlichungen, so werden auch in "Take It or Leave It" Elemente des eigenen Lebens zum Material des Schreibens: Frenchy, ein mittelloser französischer Immigrant, dessen Familie im Faschismus ermordet wurde, will zu Beginn der 50er Jahre amerikanischer Staatsbürger werden. Deshalb meldet er sich freiwillig zur Armee, dient bei der 82. Luftlandedivision; er soll im Korea-Krieg mitkämpfen und bekommt eine Frist von dreißig freien Tagen, um von der Ost- an die Westküste zu reisen; dort soll er sich dann einschiffen. Frenchy wird von einem ihm nahestehenden Erzähler begleitet, der die Aufgabe hat, Frenchys Geschichte "aus zweiter Hand" zu erzählen, übrigens auch in ständiger Diskussion mit dem Protagonisten. Frenchy hat von den Vereinigten Staaten noch kaum eine Ahnung, er weiß bislang nur, daß die USA die Leute zwingt, das Land zu mögen oder es zu verlassen - take it or leave it -, und er hat die kühnsten Erwartungen. Die Reise von einer Küste an die andere wird aber nicht stattfinden: Wegen eines bürokratischen Irrtums befinden sich sein Geld und seine Papiere in einer Garnison nahe der kanadischen Grenze; er will sie abholen, und alles kommt ganz anders, als gedacht. Schließlich ist sein geliebter Buick ein Schrotthaufen und Frenchy, den man trotz Urlaub erneut zum Fallschirmspringen gezwungen hat, landet statt im Schnee auf einem Felsbrocken. Seine zerbrochenen Glieder werden eingegipst und er wird an seinen Ausgangspunkt zurückverfrachtet werden. Nach 445 Seiten endet der Roman mit einer Bauchlandung, tragikomisch:
"Und so faltete er sich zusammen wie ein altes verknülltes Stück vergilbtes Papier dort auf jenem Krankenhausbett (...) während er an die Reise dachte die große wunderschöne Reise die er quer durchs Land hätte machen können (...) und die er später mal als wunderschöne Geschichte hätte erzählen können (...) doch nun war sie zuende gestrichen ausgelöscht und nachdem ihm der letzte Tropfen Mut und die letzten Worte der Geschichte ausgegangen waren die nun gestrichen ausgelöscht ist (...) sagte er traurig bei sich/ kein Grund weiterzumachen/ kein Grund .../ aber das nächste Mal vielleicht .../ ja ... das nächste Mal ... (Bis dann, alle zusammen.) O O O O O O O V O R B E I O O O O O O
"Take It or Leave It" ist ein experimenteller Schelmenroman, dessen Helden, Frenchy und sein auf- und abtauchender Erzähler, sich mit den Widrigkeiten des Lebens und des Erzählens herumzuschlagen haben. Man denke sie sich bloß nicht als harmlose Einfaltspinsel - die beiden sind mit allen Wassern gewaschen; sie führen den Leser an der langen Leine tief hinein in die Niederungen des Lebens und hoch hinauf auf die Höhen der Literatur. Dabei ist ihre Perspektive immer eine von unten: Der Erzähler schlägt sich mit einem sehr gemischten Publikum herum, das ständig dazwischenmault und abgehobene Fragen stellt; er nennt diese Leute "die Potentiellen", die potentiellen Zuhörer/ Leser nämlich. Frenchy aber wird ewig gebeutelt, verhohnepiepelt und herumgeschubst - er macht allerdings wie Hans im Glück das Beste aus jeder Situation. Die Kollegen in seiner Einheit bei der Armee sind stumpfe Hinterwäldler, denen nach harten Tagen voll endloser Geländemärsche und noch endloseren Liegestütz-Übungen abends nur noch Selbstbefriedigung gegeben ist. Frenchy wird der "Liebesbrieflohnschreiber"; er verfaßt für all ihre Bräute in den winzigen Käffern in Texas, Kentucky oder Mississippi schmachtende Briefe, die von schwülen Obst- und Gemüsemetaphern nur so triefen. Das bringt ihm Geld, davon kauft er einen gebrauchten Buick Special. Während Frenchy gemeinsam mit dem Erzähler in diesem klapprigen Gefährt über den Highway düst und Jazzmelodien pfeift, wollen die Potentiellen wissen, was es denn mit dieser Pfeiferei und mit seinem Saxophonspielen seinerzeit, 1949, auf sich hatte. Frenchys Erinnerung an eine Jam Session fließt in Federmans Schreibweise selbst wie ein Stück Musik, in einem langen Atemzug und quasi ohne Punkt und Komma:
"Also blies ich ich blies jenseits meiner Fähigkeiten ... jenseits der Grenzen meiner Fertigkeiten ... und ich suchte, probierte, nudelte und wechselte plötzlich die Tonart von Dur, Dur mit einem Kreuz zu einem verminderten Moll und ließ einen Strom Chromatik raus der mich hinauftrieb bis zu einem Parkerschen Qietschen, ... das ich hielt und hielt als ob ich den Verstand verloren hätte, und gleichzeitig lachte ich im mein Saxophon BLAS FRENCHY BLAS und ich blies meine Lungen und mein Herz in das Saxophon und ich spürte wie alles in mir platzte wie mir das Blut in den Kopf stieg und als ich schließlich aufhörte ... da hatte ich Blut am Ärmel ... eine Strähne Blut ... ich hatte das eine große Solo gespielt und das vor Charlie Parker ... aber auch für all meine anderen Kumpel, all meine schwarzen Kumpel ... sie begriffen daß ich mir die Eingeweide rausblies Feuer und Flamme für sie war und gegen all die Scheiße die uns das Leben aus allen Himmelsrichtungen zu-schaufelt ja ich blies ... weil es so viele Dinge oh ja so viele Dinge gibt die wir sagen wollen äußern rauslassen wollen die aber nie rauskommen außer ab und zu ganz unerwartet im Klang des Jazz im süßen Klang des Jazz nach einer ganzen Nacht des gemeinsamen Luftschnappens beim Versuch die eine musikalische Phrase zu finden ein Solo-Stückchen das dies alles ausdrückte in den Schreien des Jazz im dem Wahnsinn und dem Irsinn und der Freiheit und ich hatte es endlich geschafft ein paar Worte Musik zu sprechen ein paar klobige Worte Musik gerichtet an jene lieben Brüder und Schwestern ..."
Diese Sternstunde in Frenchys Leben gehört der Vergangenheit an. In der Gegenwart benötigen er und sein Erzähler lange Pausen, Unterbrechungen; Haltepunkte, um sich große alte Fragen zu stellen: Woher kommen wir? Wohin wollen wir? Wie kommen wir dorthin? Frenchys eigentliche Herkunft ist, selbst wenn er sich retten konnte, der Ort Auschwitz. Das ist der Ort, wo man ihn haben wollte; der Ort, wo seine Familie ermordet wurde. Wie ein groteskes Schreck- und Zerrbild schieben sich Lampenschirme in Frenchys Bewußtsein, immer wieder. Und so wurstig und abwehrend er auch von "Leidensscheiß" spricht - daß seine Familie zu, Zitat, Lampenschirmen verarbeitet wurde, und daß auch ihm dies zugedacht war, dieser Anfang des Lebens als Auslöschung, als Ende, das ist in seinen Körper eingeschrieben, das bleibt. Der Erzähler schildert, wie Frenchy, diese Stimme in der Stimme, mit Auschwitz lebt:
"Das einzig Vernünftige das man in Fällen wie diesem tun kann sagte er ist entweder den Mund zu halten und zu vergessen oder lachen zu lernen - L A C H E N - und ich übte dreimal am Tag über all die Scheiß-merde zu lachen sagte er über mich selbst das Leben den Tod über alles ... das hilft einem dabei weiterzumachen zwingt einen ein wenig zu vergessen das ist die einzige Möglichkeit weiterzumachen erfinde dich unter irrem Gekicher neu lach dein Leben in die Worte hinaus nenn es fourire: Lachteratur!"
Lachteratur, das ist die Antwort auf die zweite Frage, wohin wollen wir. Frenchy und sein Erzähler wollen nichts Geringeres, als die Realität so zu verbessern, daß sie eines Tages Literatur werden kann, oder eben "Lachteratur". In diesem Wortspiel aus Literatur und Lachen steckt Federmans Programm für den Roman "Take It or Leave It", ja, vielleicht für sein ganzes Werk. Es ist die in jedem Moment ganz gegenwärtige, sinnliche Lust an Sprache; es ist die Leidenschaft, Sprache in sich zu entdecken, zu erfinden; und sich in Sprache zu entdecken, zu erfinden - und wie kommt man an dieses Ziel? Federmans Roman gibt die listige Antwort, "ich bin schon da": Wenn man der Sprache entgegengeht, ist sie schon da. Banal ausgedrückt, für diesen Autor ist der Weg das Ziel. "Take It or Leave It" ist aber weit davon entfernt, selbst banal zu sein. Der Autor arbeitet wie ein Trapezkünstler ohne Netz, er läßt sich auf ein Abenteuer ein, dessen Verlauf und Ausgang völlig ungewiß ist. Im Unterschied zu so vielen literarischen Romanen, die wie Fleißarbeiten wirken - Thema gesetzt, Thema ausgeführt, und reglos steht der Text da - im Unterschied dazu demonstriert Federmans Arbeit geradezu, daß Schreiben eine Bewegung ist. Schreiben als ein körperlicher Vorgang, als ein procedere. Schreiben als Reisen. Unversehens rückt Frenchys nie durchgeführte Reise durch die USA, von der Ost- an die Westküste, in ein neues Licht. Unversehens stellt sich dieser so allgemeine wie private amerikanische Traum noch einmal anders dar: Hat er sich nicht doch erfüllt, und zwar sowohl auf metaphorischer wie auf metonymischer Ebene? Der metaphorische Diskurs: An die Stelle der Entdeckung Amerikas treten die Reise nach New York, um Geld zu besorgen, und die Reise von einer Garnison zur anderen. Ein Ziel wird durch ein anderes ersetzt. Der metonymische Diskurs: Jedes angefahrene Ziel verweist auf ein weiteres, es geht immer weiter, Ort für Ort und Wort für Wort. Steht nicht das Reisen für das Schreiben; ist nicht das Schreiben, und speziell Federmans Schreiben, seinem Wesen nach unabschließbar, angewiesen auf das, was immer noch fehlt? Und auch als Leser von "Take It or Leave It" war man unterwegs. Man hat sich in einer Art von Traum bewegt, der seinen eigenen logischen Gesetzen folgt, man hat ihn, dem Autor folgend, in der von ihm sogenannten Bocksprungtechnik durchkreuzt. Mit diesem Ausdruck meint Federman das Zerbrechen der Chronologie, die Diskontinuität, die Polyphonie - und sicherlich gehören auch die Untertöne aus der Comic-, Pop- und Underground-Sprache zu der Verfahrensweise der Bocksprungtechnik. Den Bildungsmenschen, zu denen Raymond Federman selbstverständlich auch zählt, schallt in diesem Roman wiederholt ein selbstironisches wie ironisches, entschlossenes "Buh" entgegen; intellektuelle Sicherheiten werden vorsätzlich spöttisch überrannt. Romantheorie? Gesellschaftstheorie? Philosophie? Pah! Frenchy und sein Erzähler beherrschen zwar mühelos die kulturellen Codes, sie kennen die Texte der großen Meister, von Plato über Descartes, Freud, Marx, Lacan und Derrida bis hin zu einem gewissen Hombre de la Pluma - aber sie schleudern uns "Potentiellen" hochgemut das eigene Projekt entgegen:
"Ich spreche die Sinne an ... ich beschäftige mich mit Unsinn, ich beschäftige mich mit S U R F I C T I O N ! Oder, falls euch das lieber ist, ich arbeite mich zu einer Unleserlichkeit durch, zum freien, trunkenen Lesen, ich bin für ein Lesen das den Frieden stört das auf frischer Tat stattfindet: I N F L A G R A N T I ! Ich mach nicht bloß so rum! ... "
Der Eindruck, lesend an einer federnden Bewegung teilgenommen zu haben, ergibt sich nicht zuletzt aus der typografischen Gestaltung des Textes. Federman löst, wie in vorausgegangenen Arbeiten auch, die Wörter gern aus der Zeilenstraße heraus; der gewohnte Weg von links oben nach rechts unten wird bei ihm unterbrochen: Es gibt Zeilensprünge wie in der Lyrik, es gibt den Flattersatz, und manchmal hopsen die Wörter und Buchstaben kühn über eine Seite. Meistens wirkt dieses Verfahren motiviert, dem jeweiligen Inhalt quasi zuwinkend - aber gelegentlich fragt man sich auch, ob der Autor nicht in Einzelfällen einfach seine Marotte pflegt. Und ist dann wieder ganz versöhnt und einverstanden mit dem Ganzen. Denn es kann sein, daß dieser Text sogar schwieriger zu lesen wäre, hätte Federman ihn konventionell und brav ganz im Blocksatz gehalten. Die in den laufenden "normalen" Text eingebauten Buchstabenschwärme, Zeilensprünge, die Kursiv- und Fettschreibung, die Klammern und die Nester von Ausrufezeichen-Sätzen, all das verleiht dem Roman den Charakter einer Partitur, die man mit Genuß auch selbst laut lesen kann. Genuß bereiten denjenigen, die andere Arbeiten Federmans kennen, sicherlich auch die locker eingestreuten selbstreferentiellen Bezüge, Verweise auf andere eigene Romane, auf den Autor selbst; dazu kommen die literaturtheoretischen Anspielungen und Zitate, oft eigenwillig variiert - da könnte man ins Grübeln kommen, ob man hier nicht etwa einen experimentellen, sondern vielmehr einen frühen postmodernen Roman vor sich hat. Wohl nicht. Denn mit dem Klischee von "postmodern" ist die Beliebigkeit verbunden, die Glätte, das Geschichtslose. "Take It or Leave It" aber hat eindeutige Bezugspunkte zur Zeitgeschichte; es zitiert nicht nur, es findet einen unverwechselbaren Ton. Und es trägt eine Wut in sich. Das ist die Wut dessen, der mit fettgedruckten X-en ausgelöscht werden sollte, das ist die Situation jenes ins Auto zugestiegenen Hombre de la Pluma, dessen Lebensgeschichte so viele auffällige Parallelen zu der von Frenchy, seinem Erzähler und seinem Autor haben. Wenn Frenchy über Hombre de la Plumas Faszination am Spiel nachdenkt, denkt er über den Roman "Take It or Leave It" nach, über dessen explodierende Erzählstrategie:
Er erleidet die ganze Zeit einen Verlust, den zentralen ersten Verlust (X-X-X-X) ... Mitleid mit ihm hilft nicht./ Die einzige Möglichkeit, das Spiel am Laufen zu halten, und was zählt denn sonst, hmm?, und die Alternative Gewinnen oder Verlieren zu umgehen, / die EINZIGE MÖGLICHKEIT lautet, überraschend die Regeln zu ändern, die Strukturen zu zerbrechen ... auszuweichen, zu lügen, notorisch zu lügen ..."
All die Fallen, die Federman in seinem Roman aufstellt: Die Ablenkungen, Unvereinbarkeiten, Verdoppelungen, Anonymisierungen, das sind die Strategien des Schelmen. Und der weiß, daß er, so oder so, unerbittlich einem Endpunkt entgegenstolpert. Federmans Arbeit führt noch einmal vor, daß das Schelmische, Leichte, Verspielte die Kehrseite des Schmerzlichen ist - und umgekehrt. Erfinde dich unter irrem Gekicher neu, lach dein Leben in die Worte hinaus, nenn es fourire: Lachteratur!